Die Invasion der Schnecken

Die Spitzengastronomie entdeckt ein neues altes Produkt wieder. Weinbergschnecken, in Österreich gezüchtet, sind die favorisierte Zutat kreativer Köche.

Die Invasion der Schnecken

Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Luzia Ellert
IT-Consulter Andreas Gugumuck rollt von Bayern über die Autobahn Richtung Wien. Im Gemüsetransporter seines Onkels führt er eine 300 Kilogramm schwere Ladung mit sich: unzählige neben- und übereinander gestapelte Kisten, in denen es poltert und schmatzt. Aus den Luftschlitzen blitzen kleine glasige Fühler, die zum glitschigen Innenleben der Boxen gehören. Am Bauernhof in Rothneusiedl angekommen, setzt Gugumuck in die mit Klee, Mangold und Raps bepflanzten Parzellen seine neuen Mitbewohner aus: Es handelt sich um 18.000 Immigranten der Spezies Helix Pomatia. Hauptberuflich ist Andreas Gugumuck schnell unterwegs. Seine Welt ist virtuell. Vor eineinhalb Jahren entschied sich der 34-Jährige dazu, nebenbei auch Weinbergschnecken zu züchten – quasi Slow Motion als Gegenpol zum Hochgeschwindigkeitsjob. "Ich wollte etwas machen, das man auch anfassen kann – etwas Reales. Es hat mich fasziniert, wieder eine Nachfrage für etwas zu schaffen, das auf keiner Speisekarte mehr zu finden ist, obwohl es in Wien einmal eine Schneckentradition gab. Was in Frankreich und Italien gang und gäbe ist, ist bei uns in Vergessenheit geraten." Gugumuck zwackte sich 1.200 Quadratmeter der sieben Hektar großen Gemüseäcker seines Onkels ab, eignete sich bei Schneckenzüchter Swen Roth am Bodensee das nötige Know-how an, ließ die Böden auf ihren pH-Wert analysieren und begab sich auf Internetrecherche, wie der optimale Lebensraum für Schnecken auszusehen hat. Während die Kriecher in Italien mit Netzen am Ausreißen gehindert werden, schwört man in Frankreich auf Wellbleche, die mit einer Mischkulanz aus Öl, Seifenlauge und Salz bestrichen werden. "Ich wollte beides machen – nur ein bisschen anders: Ich habe mir das italienische Netz besorgt, in der Hälfte durchgeschnitten und über eine Holzkonstruktion gespannt. Dann habe ich Speiseöl und 50 Kilogramm Salz gekauft, mit Seifenlauge verquirlt und auf die Netze gestrichen." Als zusätzlichen Schutz ist der Netz-Wall mit einem Dach und einem 10 Zentimeter langen Vorhang versehen. "Für die Schnecken ist es so gut wie unmöglich, mit ihrem Eigengewicht um den Vorhang zu kriechen. Und die Mischung aus Frankreich", Gugumuck lacht, "die taugt ihnen gar nicht." Insgesamt besteht die Schneckenfarm aus vier Parzellen mit je 180 Quadratmetern, um die der Neo-Schneckenzüchter eine Außenparzelle aus Wellblech gebaut hat. "Eine irre Arbeit – das Blech habe ich händisch 30 Zentimeter in den Boden eingearbeitet, sodass keine Igel oder Mäuse reinkommen. Auf allen Vieren hab ich mit einer Erdfräse über 300 Laufmeter Erde ausgeschaufelt, damit das Blech wirklich gerade drinsteckt. Jedes Wochenende ist dafür draufgegangen. Es war direkt erholsam, am Montag wieder zu arbeiten." Anfang März wurden zusätzlich zum Raps, Klee, Thymian, Mangold und Fenchel angebaut. Mit den ersten Blüten im Mai 2008 fand auch die Schneckenübersiedlung aus Bayern nach Wien statt. "Der Klee war nach zwei Tagen weg. Die Schecken haben alles aufgefressen, nur der Mangold wollte nicht und nicht aufgehen. Ich hab immer wieder nachgesät, erst ab Juni hat er so zu wuchern begonnen, dass der entstandene Mangold-Urwald weit über den Nahrungsbedarf der Kriecher hinausgegangen ist. Ich wollte schon Köche fragen, ob sie etwas davon brauchen. Andererseits werden die Schnecken durch die Blätter vor der prallen Sonne geschützt."
Aktiv sind die Weichtiere ab der Dämmerung bis zum Sonnenaufgang. Bei Tag ziehen sich die Schnecken in ihr Gehäuse zurück und fallen in Trockenstarre, die mit Schlaf gleichzusetzen ist. "Alle Körperfunktionen werden aufs Minimum heruntergefahren. In diesem Zustand harren sie so lange aus, bis es wieder feucht wird." Um ihnen die warme Jahreszeit über optimale Feuchtigkeit zu gewährleisten, wird die Farm jeden Morgen und am Abend mit Sprühnebel benetzt. "Eine konventionelle Sprenkelanlage wäre ihr Tod. Schnecken spüren normalerweise, wenn Regen kommt und flüchten vor den Dämpfen, die vom Boden aufsteigen. Würde man die Farm besprenkeln, käme der Instinkt nicht zum Tragen und die Schnecken würden in der Trockenstarre bleiben. So könnten die Tropfen genau in ihre Lungenöffnung gelangen und die Tiere würden ertrinken."
Sind Bedingungen wie kalkreicher Boden, eine ausbalancierte Ernährung aus Gemüse und Kräutern sowie wohldosierte Feuchtigkeit erfüllt, wachsen die Schnecken so lange, bis sie ihr zweites Lebensjahr erreicht haben. "Das erkennt man daran, dass der Gehäuseöffnung ein kleines Dach wächst." Insgesamt können die Kriecher bis zu zehn Jahre alt werden. An Geschmack und Konsistenz ihres Fleisches ändert sich dennoch nichts.
Neben ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Fressen, sind die Schnecken auch im Liebesspiel besonders aktiv. Die Zwitter paaren sich im Frühling – nicht selten findet der Akt sogar als "flotter" Dreier statt – und graben sich danach mit Hilfe ihrer Füße und ihres Gehäuses Löcher in den Boden, in die sie an die 20 bis 30 Eier ablegen. "Leider oft außerhalb der Parzellen, weil sie dabei alleine sein wollen. Zum Glück kommen sie bei ihrem Tempo nicht weit, aber einsammeln muss ich sie halt trotzdem."
Wenige Wochen später schlüpfen die gefräßigen Nachwuchsschnecken mit einer Größe von einer halben Fingerkuppe und fressen sich innerhalb von drei, vier Monaten das Doppelte ihres Gewichtes an. Vor allem bei der Zufütterung am Wochenende wimmelt es auf der Farm nur so von Schnecken. "20 Kilogramm Karotten, Rüben und Pastinaken sind innerhalb der nächsten Tage weg. Für die Schnecken ist das die totale Abwechslung – auf das stehen sie. Besonders die Kleinen. Die fressen sich mit ihrer Raspelzunge richtig in die Karotte rein, sodass nur noch die Haut der Karotte übrig bleibt und sie aussieht wie ein 3-D-Modell."
Der wiederbelebte Hype um die Wiener Weinbergschnecken macht auch vor der Spitzengastronomie nicht halt: Verkauft werden sie an Toprestaurants wie "Hanner", "Le Ciel", "Mraz & Sohn", "RieGi" und "Schwarzes Kameel" sowie an passionierte Köche ab Hof – mit 30 Euro für 60 Schnecken ein überraschend leistbares Luxusprodukt. Die Nachfrage für lebende Exemplare ist marginal – angemeldet haben sich dafür Heinz Reitbauer junior ("Steirereck") und Denis König ("Le Salzgries"). Die meisten bestellen die Weichtiere vorbereitet.
"Die ersten Schnecken habe ich im letzten Jahr nach der Paarung eingesammelt und in mit Luftschlitzen präparierten leeren Kisten durchlüftet. Ein Prozess, den man auch Entlüften nennt, weil die Schnecken ihren Darm entleeren. Da ich sie nicht füttere, fallen sie in Trockenstarre. In diesem Zustand werden sie blanchiert", erklärt Gugumuck und ergänzt: "Das geht ganz schnell und ist total unbedenklich, weil die Weichtiere ja schlafen und ein ganz simples Nervensystem haben. Danach ziehe ich das Fleisch händisch aus dem Gehäuse heraus, zwicke den Eingeweidesack ab, entschleime das Muskelfleisch mit Salz unter fließendem Wasser und koche es mit eineinhalb Liter Weißwein, Gemüse, Thymian und Lorbeerblättern drei Stunden weich. Ich hab mir dafür einen Induktionsherd gekauft, in dem ich in einem 17-Liter-Topf vier Kilogramm auf einmal verarbeiten kann."
Noch viel besser schmecken die Weinbergschnecken, wenn sie im Winter eingesammelt werden. In dieser Zeit liegen sie in Winterstarre unter der Erde. Dazu bohren die Weichtiere ein breites Loch in die Erde, um auch ihr Gehäuse unter die Oberfläche ziehen zu können. Um nicht zu erfrieren produzieren sie schon im Herbst eine Kalkschicht, die bis zu einem Millimeter dick wird. "Sie bilden einen Schleimfilm und spucken von innen dagegen. Das Fleisch der Schnecke dehydriert, kann kaum frieren und enthält in dieser Zeit keinen Kalk, weshalb es viel feiner schmeckt."
Beim Wiener Exemplar, das sich durch seinen fein moosigen Geschmack auszeichnet, soll es übrigens nicht bleiben. Eine Parzelle hat der Schneckenzüchter für eine französische Sorte reserviert, die für manche Gaumen ein etwas subtileres Aroma haben soll. Sie wird im Mai aus ihrer Heimat abgeholt. "Diesmal sind es kleine Schnecken. Die hätten auch Platz in ein paar Pizzakartons", scherzt Gugumuck. Ausgesetzt werden dürfen die Weichtiere aus Frankreich erst nach den Eisheiligen. "Sie sind sehr sensibel und nicht winterhart", verrät er. "Dafür wachsen sie schneller und legen mehr Eier. Im Oktober kann ich sie einsammeln und im Kühlhaus bei sechs Grad lagern. So habe ich ein Produkt, das das ganze Jahr über lebend verkauft werden kann."
Damit nicht genug, tüftelt der Schneckenflüsterer an einem neuen Produkt: Schneckenkaviar. Details will Gugumuck nicht verraten, nur, wie er schmeckt: "Sensationell!"
www.wienerschnecke.at
Rosiwalgasse 44, 1100 Wien
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