Ehret das Veilchen

Als Stadtkind weiß man nicht, dass Blumen auch essbar sind. Wer sich dafür interessiert, wie die einzelnen Wiesenpflanzen schmecken, wird besonders im Frühling reich belohnt.

Ehret das Veilchen

Text von Eva Deissen Illustration: Eva Deissen
Steck ja nichts in den Mund, das ist alles giftig! Als Überlebensstrategie ist es sicher nicht schlecht, einem Stadtkind, das zur Sommerfrische aufs Land kommt und ungestüm die Begegnung mit der Natur sucht, das einzuschärfen. Alle Pilze außer Eierschwammerln und Steinpilzen sind sowieso giftig. Tollkirschen tödlich! Und alles, was auf der Wiese wächst, außer Grashalmen, ist Unkraut. Also Finger weg, und bei den Brennnesseln lernt sich die Lektion eh von selber.
Wenn man einen Löwenzahn abpflückt, quillt aus der Bruchstelle des Stängels weißliche Milch. Giftig! Krätzenblumen sagen die Bauernkinder zu diesen ziemlich gewöhnlich anzuschauenden weißen Blumen da am Wegesrand. Also ja nicht angreifen, sonst bekommt man Krätzen. Veilchen? Die muss man, so man sie findet, natürlich sofort pflücken, an ihnen schnuppern und sie in die Vase stellen, bis sie verwelken. Aber lila Blumen essen? Pfui. Was für eine abwegige Idee. Man ist doch keine Kuh. Und der Sauerampfer ist sauer, also grauslich.
Ausgestattet mit diesen Basisinformationen bin ich groß und stark geworden und unvergiftet davongekommen. Es sollte ziemlich lange dauern, bis ich lernte, dass man im Wald nicht jedem Täubling mit grünem, rotem oder violettem Hut einen Tritt geben muss, um den vermeintlichen Giftpilz unschädlich zu machen. Später dann habe ich todesmutig sogar gewagt, den netzstieligen Hexenröhrling vom Satanspilz zu unterscheiden und ihn tapfer in die Schwammerlsauce zu schnippeln, obwohl er bei diesem Prozedere tiefblaue Tränen weint, die den Gedanken schon nahe legen, dass er vielleicht doch nicht genießbar sein könnte.
Eines Tages am Naschmarkt hatte ich ein wunderbares Schlüsselerlebnis: Um ziemlich teures Geld wurde da auf dem Bauernmarkt ein "Frühlingskräutersalat" angeboten. Ich traute meinen Augen nicht: Da lagen, bunt durcheinander, so ziemlich alle alten Bekannten von den Sommerwiesen der Kindheit. Nur Gras war natürlich keins dabei.
Als erstes sah ich violette Pünktchen – die Veilchen. Veilchen im Salat? Sowas hatte ich zuvor noch nie gesehen. Und Gänseblümchen. Und junge Löwenzahnblätter! Unglaublich. Das soll man alles essen können? Natürlich siegten sofort Neugier und großes Wohlgefallen. Schließlich würde die Kräutlerin mit dem Marktamt in Sichtweite mir sicher nichts Unbekömmliches verkaufen. Wenig später stand der Erdäpfelsalat, üppig garniert mit der ganzen Pracht des blühenden Frühlings, auf dem Tisch. Ach ja, es waren auch die zierlich gefiederten Blätter der Schafgarbe dabei, die sie auf dem Lande Krätzenblume genannt hatten. Aber nicht, weil man von ihr die Krätze bekommt, sondern weil ihr Saft ein wirksames Heilmittel gegen Warzen ist. Und die unscheinbare Gundelrebe. Und zarte, junge Brennnessel- und Sauerampferblätter sowieso.
Ruckartige Änderung des Weltbildes. Es ist nicht das Meiste giftig, was man so im Wald und auf der Wiese findet, im Gegenteil. Das Meiste ist essbar, man muss sich nur kundig machen und nach dem Grundsatz "ich weiß, dass ich nichts weiß" beim geringsten Zweifel die Finger davon lassen.
Wenn du so vorgehst, wirst du kaum im Frühjahr Maiglöckchenblätter mit dem so eindeutig viele Meter gegen den Wind nach Knoblauch duftenden Bärlauch verwechseln, der im Wienerwald nicht umsonst "Knofelspinat" heißt und auch keinen Knollenblätterpilz als Parasol braten.
Zum Thema Blumen, die man essen kann, gehört auch das Kapitel Kresse. Meine Mutter goss jeden Frühsommer ihre Balkonkästen voll üppig blühender Kapuzinerkresse, deren Samenkapseln sie sammelte und im nächsten Jahr wieder zum Austreiben brachte. Aber wenn ich eine der orange-rot-gelben Zierblüten in den Mund gesteckt hätte, wäre vermutlich eine ordentliche Tachtel die Folge gewesen.
Dass die Kapuzinerkresse, und zwar sowohl die Blüten also auch die kleinen, jungen Blätter, eine nicht nur wunderschöne, sondern auch überaus wohl schmeckende Salatzutat ist, habe ich erst viel später entdeckt. Viel interessanter und auch ausgiebiger als die Gartenkresse, die sich Bio-Freaks auf nassen Papierhandtüchern am Fensterbrett züchten.
Zur Kresse fällt mir auch die schöne Anekdote von Fernand Point, dem Lehrmeister von Paul Bocuse, ein. Der saß eines schönen Sommermorgens im Blumengarten seines Restaurants "La Pyramide" in Vienne, südlich von Lyon, und verlas einen riesigen Haufen von Brunnenkresseblättchen. Amerikanische Besucher näherten sich ehrfurchtsvoll der Kochlegende und staunten sehr, dass der große Chef sich höchst persönlich mit einer so niedrigen Arbeit wie dem Putzen von jungem Spinat beschäftigte. Fernand Point schwieg weise und klärte seine Gäste auch nicht auf, als sie nach dem Essen sein Brunnenkressepüree als den besten Spinat, den sie je verkostet hätten, lobten.
Ebenfalls in Frankreich, bei den Seelenverwandten von Fernand Point und Paul Bocuse, bei den Brüdern Troisgros in
Roanne, hatte ich meine erste Begegnung mit Sauerampfer, der nicht am Wegrand ein Schattendasein fristete, sondern auf die noblen Teller eines Dreisternrestaurants kam: In Form ihres berühmten "Saumon à l’oseille" (Lachs in Sauerampfersauce).
Für das Verhältnis zu wilden Kräutern spielt sicher auch das Nord-Süd-Gefälle eine große Rolle. Die Urlaube der Kindheit verbrachte ich stets im Niederösterreichischen, nahe dem Jauerling, irgendwo zwischen Wachau und Waldviertel. Dort spielten Schweinernes und Knödel die erste Geige, auf Grünzeug war man ganz allgemein nicht so versessen. An Kräutern verwendete man Petersil, Zeller, Majoran, manchmal Dille. Gemüse? Nicht selten blieb der grüne Salat im Gemüsegarten ungeerntet, bis er auswuchs und gleich ohne Umweg durch die Küche in den Sautrank wanderte.
Essbares aus der Natur wurde nur in Form von Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren aktiv gesucht und fürs Einkochen gesammelt. Frisch gegessen eigentlich nur, was während des mühseligen Beerensuchens halt so zwischendurch in den Mund wanderte. Und die dornenvolle Arbeit des Himbeerpflückens trat in den Hintergrund, als die Kinder entdeckten, dass Cola eigentlich viel cooler schmeckt als der hausgemachte Himbeersaft …
Als ich einmal die Steiermark bereiste, um dort die unvergleichliche Tante Mariedi zu besuchen, lernte ich eine völlig neue Lektion. Ja, DIE Tante Mariedi besuchte ich, die noch bis vor kurzem im Café Alt Wien in der Bäckerstraße die besten Wiener Schnitzel von Mitteleuropa gebacken hat. Als ich zum ersten Mal beobachtete, wie sie über eine Frühlings- oder Sommerwiese geht, lernte ich die Wiener Schrebergärtnermentalität samt ihrem Unkrautvernichtungswahn erst so richtig ein- oder besser: abschätzen. Zügig schritt sie dahin, die Tante Mariedi, den scharfen Kennerinnenblick immer auf den Boden gerichtet: schnipp dort, schnapp da. Das kleine Taschenmesser war auch immer dabei, um die jungen Löwenzahnblätter auszustechen, die sie in der Steiermark den Röhrlsalat nennen.
Man könnte sagen, es handelt sich beim Kräutersammeln um dieselbe Arbeit wie beim Jäten, aber im positiven Sinne. Was KEIN Rasen ist, wird ausgezupft. Man sollte nicht glauben, wie schnell da ein ansehnliches Häufchen von Grünzeug und bunten Blüten beinander ist, mit dem eine um den Mittagstisch und die Kürbiskernölflasche versammelte Großfamilie schon glücklich gemacht werden kann.
Groß ist auch die Familie der Veilchen. Es gibt mehr als 500 verschiedene Arten, aber für kulinarische Zwecke am interessantesten ist das jetzt aktuelle Märzveilchen, das wegen seines intensiven Duftes "viola odorata" heißt. Das verriet mir der junge Wiener Koch-Zampano Georg Ryzych, der zur Zeit im kleinen, feinen Restaurant "Gaumenspiel" in der Wiener Zieglergasse werkt. Georg ist, wie ich, ein waschechter Wiener, aber durch seine Gefährtin Elisabeth hat er in deren Anwesen in der Steiermark tiefe Wurzeln im Kräutergarten geschlagen.
Irgendwie kommen wir uns heute ach so modern vor, wenn wir uns bei den Kräutern ein bisserl auskennen und nur noch müde lächeln über das trostlose Potpourri, das in den meisten Wirtshäusern üblicherweise als "Gem. Sal." angeboten wird. Aber natürlich wird auch auf diesem Gebiet das Rad nicht neu erfunden. Wir haben nur so vieles vergessen, was wir jetzt neu entdecken dürfen. Veilchen als Speisenbestandteil hatten den Höhepunkt ihrer Beliebtheit im 14. und 15. Jahrhundert erreicht.
Denken wir nur an die verehrte Kaiserin Sisi! Sie hat Veilchen über alles geliebt und auch zum Fressen gern: vor allem in kandiertem Zustand aus der k.u.k. Hofzuckerbäckerei Demel. Sie parfümierte sich mit Veilchenwasser und ließ aus der Hofküche Veilchencrème als Dessert auffahren.
Georg hat mir seine ganz persönliche Sammlung von Veilchenrezepten geöffnet. Da gibt es neben der Veilchencrème auch Veilchenessig, Veilchenlikör, Erdbeeren Romanow mit Veilchen, Orientalischen Milchreis mit Veilchen und Veilchenkonfitüre. Sehr interessant klingt auch der Wildsalat mit Veilchen, Bündnerfleisch und Rucola.
Eines der Rezepte gefällt mir so gut, dass ich es begierig ausprobieren werde, sobald ich ein paar frische Veilchen in die Finger kriege: Crème brûlée mit kandierten Veilchen. Hiefür muss man Milch und Obers mit frischen Veilchen und einer Vanilleschote aufkochen, ziehen lassen und durch ein Sieb passieren. Eidotter und Zucker verrühren und die Veilchenmilch dazugeben. In feuerfeste Förmchen verteilen, im Wasserbad im heißen Backrohr stocken lassen, mit braunem Zucker bestreuen und diesen bei starker Oberhitze im Rohr karamellisieren. Servieren, nachdem die Crème noch mit ein paar kandierten Veilchen garniert worden ist.
Woher man kandierte Veilchen nimmt? Ich hätte jetzt sogar das Rezept, um verzuckerte Veilchen selber zu machen, aber dazu müsste man jede einzelne Blüte mit Gummi Arabicum fein bepinseln, mit Zucker bestäuben und im Backrohr trocknen. Also kauft man die Veilchen doch besser beim Hoflieferanten, der Sisis Lieblingsnäscherei immer noch im Sortiment bereit hält. Mit 16 Euro für acht Deka bist du dabei. Eine königliche Näscherei halt. Was hat Kaiser Franz Joseph doch gleich geantwortet, als ihm die Frau Schratt den horrenden Preis eines Brillantrings verriet, den sie auf seine Rechnung gekauft hatte? "Auch net teuer …"