Gegen­darstellung

Die griechische Küche ist besser als ihr Ruf – wenn man im Schlepptau der richtigen Menschen unterwegs ist und früh aufsteht, kaliméra.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Als ich vor ein paar Jahren an dieser Stelle über die, Achtung Ironie, Segnungen der griechischen Küche schrieb und zu dem Schluss kam, das einzige, was den Griechen je eingefallen sei, sei der griechische Joghurt, provozierte das hämischen Szenenapplaus. Das ist immer so, wenn man die Vorurteile der anderen burschikos bedient.

Aber es gab auch Beschwerden. Ein junger Sternekoch, der einen griechischen Namen trägt, weil nämlich sein Vater aus Griechenland stammt und viele Jahre lang jede freie Minute mit seinem Sohn Konstantin in Kalamata verbrachte, richtete mir aus, das Bashing der griechischen Durchschnittstaverne sei billig. Wenn ich mit ihm in Griechenland unterwegs gewesen wäre, hätte ich freihändig etwas Erstaunliches über das sagenhafte Niveau der griechischen Küche schreiben können.

Oft bleiben solche Ansagen ja eher vage. Aber zuletzt fügte es sich tatsächlich, dass mich Konstantin Filippou zu einer Fact Finding Mission einlud, die sich den besonderen Reizen und Herausforderungen Messeniens widmete, jener südwestlichen Region auf dem Peloponnes, wo die mykenische Kultur ihre Wiege hatte und wo heute gute Orangen, Zitronen, Mandeln, Feigen und vor allem Oliven angebaut und verarbeitet werden.

Mit im Tross war nicht nur der Küchenchef himself und seine wunderbare (und mit den Organisationsagenden betraute Frau Manuela), sondern auch Konstantins Algenlieferant Sotiris Lymperopoulos, der in Messenien als eine Art Foodscout arbeitet. Er holte uns gemeinsam mit der Olivenölproduzentin Cristina Strubacu am Flughafen ab und setzte sich hinter das Steuer eines mächtigen VW-Busses, den er zuweilen so auf Touren brachte, als hätte er Angst, am Strand wachse demnächst kein wilder Fenchel mehr. Dabei war genug von dem Kraut da und Wasser auch und Sonne sowieso.

Sotiris war nicht nur ein entschlossener Autofahrer, sondern auch ein guter Erzähler. Nicht nur, dass er uns immer wieder darauf hinwies, welches Wildgemüse er gerade am Straßenrand erspäht habe – es war sinnlos, einen Blick darauf erhaschen zu wollen, so schnell, wie wir unterwegs waren –, er zeichnete auch mit schnellen, prägnanten Strichen das Bild seines Landes, des angeblich so demoralisierten Griechenlands.

Sotiris war allerdings gar nicht demoralisiert. Der 34-Jährige hätte durchaus eine konventionellere Karriere einschlagen können, als an der Küste nach Essbarem zu suchen und dieses auf schnellstem Weg der Spitzengastronomie in Paris und Wien verfügbar zu machen. Er hatte in Athen, wo seine Familie lebt, zuerst sein Ökonomiestudium abgeschlossen, war dann für zwei Jahre nach London gegangen und hatte an der Cranfield University ein Postgraduate-Diplom in Logistik erworben.

Anschließend, so lautete wenigstens der Plan seines Vaters, der eine Nachthemdenfabrik betreibt, sollte der Junge den Betrieb übernehmen. Aber als Sotiris nach einer ersten Stelle bei „Sony Europe“ nach Griechenland zurückkehrte und sich um die Fabrik zu kümmern begann, bekam er klaustrophobische Gefühle: „Ich hatte plötzlich die unbestimmte Angst, dass ich die Fabrik nie mehr verlassen darf.“

Er kündigte. Der Vater war außer sich, zumal er gerade erst ein Haus verkauft hatte, um dem Buben das Studium im London zu finanzieren.

„Er hielt mich für einen Vollidioten“, sagt Sotiris, „aber er unterstützte mich natürlich trotzdem.“

Sotiris wollte nach draußen, ans Licht, an die Natur. Er besorgte sich als Anzeigenverkäufer für ein Motorradmagazin so viel Geld, dass er einen ganzen Sommer lang nach Kreta surfen gehen konnte. Luxus war ihm fremd, er wohnte mit ein paar Kumpels unter einem Baum. Als es September wurde, ging er nach Pylos auf dem messenischen Festland. Dort hatten seine Großeltern gewohnt, und er konnte ihr Haus benutzen. Er wurde zwischenzeitlich Veganer, und weil er am Markt und in den Greißlereien nicht genug über das, was es da zu essen gab, erfuhr, begann er sich quasiwissenschaftlich für Gemüse zu interessieren.

Es war Teil unseres Plans, mit Sotiris Lymperopoulos auf Wildpflanzensuche zu gehen, so wie wir gern die Olivenölproduktion ein bisschen näher kennenlernen wollten – deshalb saß auch Cristina Stribacu im Bus, deren Öl Konstantin schon seit einiger Zeit in seinem Restaurant verwendet –, aber jetzt war dafür gerade ein ungünstiger Moment. Es wurden verschiedene Stimmen laut (unter anderem meine), dass es Zeit sei, etwas essen zu gehen.

„Okay“, sagte Sotiris. „Ich weiß wohin.“

„Wie lange fahren wir dorthin?“, fragte Konstantin.

„Zehn Minuten.“

Das war, bevor wir begriffen, dass „Zehn Minuten“ keine exakte Zeitangabe ist, sondern ein Wort, das für Zeiteinheiten zwischen „bald“ und „irgendwann“ flexibel eingesetzt werden kann.

Sotiris jagte den VW-Bus also irgendwo hinter Pylos über enge Bergstraßen hinauf in die Berge, um uns, wie er verlautbarte, in einer Taverne namens „Trichordo“ abzuliefern, die alles habe, was man von einer griechischen Taverne verlangen könne.

„Was ist so besonders an der Taverne?“ fragte ich neugierig.

„Nichts“, antwortete Sotiris. „Das ist ja das Besondere.“

Das musste er natürlich erklären. Hier, in der winzigen Ortschaft Mesochori, werde so gekocht, wie man auch zu Hause esse. Das sei im übrigen der Grund, warum in den meisten Tavernen keine authentische Hausmannskost zu bekommen sei – kein Mensch gehe in die Kneipe, um Gerichte zu essen, die man zu Hause ohnehin regelmäßig vorgesetzt bekommt. In der Kneipe wünsche man sich etwas Besonderes – und damit befinde man sich augenblicklich abseits jener Qualitäten, um die es uns ja gerade geht, wenn wir in Griechenland sind und so essen wollen wie die Griechen. Sotiris hatte Zeit, bei seiner Erklärung weit auszuholen. Zehn Minuten vergingen, noch einmal zehn Minuten und als wir nach weiteren zehn Minuten schließlich ankamen, war die Stimmung gerade dabei, ins Fatalistische umzuschlagen.

Das Haus war aus Natursteinen gebaut. Eine steile Außenstiege ohne Geländer führte hinauf in den Gastraum, wo außer uns niemand war. Zuerst standen am Tisch ein paar Bierflaschen, dann zwei Weinkrüge mit einem einfachen, aber sympathische Rosé, dann kamen in rascher Folge Kleinigkeiten: Zuerst mit Tomaten und Käse überbackenes Weißbrot, fantastische Oliven, ein weicher, würziger Feta, der im Vergleich zum salzigen Industriekäse, den wir uns hie und da aus dem Supermarkt holen, von sämiger Eleganz war, ein Teller mit köstlichem, bitterfein gekochtem Grünzeug, aus dem nur die Zichorien einwandfrei zu identifizieren waren, dann eine grandiose Eierspeise, in der sich wilder Spargel und Ei genau die Waage hielten (anschließend kam noch eine Eierspeise mit Tomaten, die fast genauso gut war) und schließlich der Höhepunkt: das Lamm mit den Artischocken, gemeinsam geschmort und für jeden Anwesenden genau als letzter Happen bemessen. Es war in Summe ein unaufgeregtes, aber großartiges Essen. Das Wunschessen des Reisenden, jedenfalls unserer Reisegruppe, abseits all der Souvlaki- und Moussaka-Hütten.

Ich muss zugeben: Meine These, dass Griechenland nur Joghurt kann, war mit diesem Abend hinfällig. Ich nahm also alles zurück, was ich gegen die griechische Küche vorgebracht hatte. Aber eines wollte ich schon wissen.

„Wie viele von diesen Tavernen gibt es hier?“, fragte ich Sotiris.

Sotiris antwortete entschieden: „Drei.“

„Hier im Dorf?“

„Nein. In ganz Messenien.“

Das war der Zeitpunkt, die Telefonnummer des „Trichordo“ in das Notizbuch zu schreiben: +30 6945 428699.

Wir fuhren dann zurück nach Pylos (zehn Minuten), wo Konstantin es sich nicht nehmen ließ, beim Fischhändler vorbeizuschauen und seiner Bewunderung für das reiche Angebot an Brassen und Muscheln, an Krustentieren und Tintenfischen Ausdruck zu verleihen. Natürlich schaut er sich Fische mit den Fingern an, und weil der Fischhändler darin die angemessene Kompetenz seines Kunden erkannte und ihm einen Blick auf die eben eingetroffene Ware ermöglichte, war ein bisschen Zeit übrig, um draußen am Hafen eine Runde mit Sotiris zu drehen.

Sotiris erteilte mir eine kleine Lektion in griechischer Geschichte, als wir zuerst den Palast von Nestor umrundeten und Sotiris anschließend mit Blick auf die Bucht die Seeschlacht von Navarino wiederaufstehen ließ, jenes mystische Gefecht, das im Griechischen Unabhängigkeitskrieg 1827 hier stattgefunden hatte.

Ich war darauf vorbereitet, aber Sotiris hakte bei diesem Stichwort nicht ein: Er sieht, anders als seine aktuelle Regierung, Griechenland nicht in einem neuen Unabhängigkeitskrieg. Wenn er Unabhängigkeit schätzt, dann seine eigene. In das Gejammer über die Auswirkungen der Finanzkrise auf Europa und speziell Griechenland wollte Sotiris partout nicht einstimmen.

Nachdem sich Sotiris als Veganer einiges an Wissen über Wildpflanzen angeeignet hatte, kam er auf die Idee, mit den speziellen und außergewöhnlichen Produkten, die man in Griechenland buchstäblich am Straßenrand findet, eine Art Business zu gründen. Zwar isst Sotiris inzwischen auch wieder Fleisch, bestreitet aber einen großen Teil der Ernährung seiner Familie mit Wildpflanzen: wilder Spargel, wilder Fenchel, Gemüsedisteln und -malven und vieles mehr.

„Ich bin nicht nur ein guter Sammler“, sagt er, „sondern auch ein guter Verkäufer.“

Sotiris nahm einen Trend vorweg, der im Griechenland der Finanzkrise zu einem gewissen Trend wurde: Junge, gut ausgebildete Urbanisten verlassen die Stadt, um am Land billiger, selbstbestimmter und frei von ökonomischen Zwängen leben zu können. So traf er auch seine spätere Frau, eine Anwältin, die ihre Kanzlei nach zwölf Jahren geschlossen hatte, um am Meer zu leben. Die beiden haben heute eine zweijährige Tochter. Seine Frau betreibt ein kleines Yoga-Studio, und Sotiris hat ein Unternehmen namens „radiki“
gegründet, der griechische Name der Zichorien.

Es brauchte viel Hartnäckigkeit, bis der Koch eines nahen Luxusresorts zum ersten Kunden von „radiki“ wurde. Dann fand Sotiris interessierte Abnehmer in Athen und reiste auf deren Vermittlung mit einer Kühlbox voller Warenproben nach Paris. Als Pascal Barbot vom „Astrance“ sich erstaunt über die hohe Qualität der exotischen Wildpflanzen zeigte, sah Sotiris Licht. Inzwischen verkauft er Wildpflanzen und Zitrusfrüchte an mehr als zwanzig Küchenchefs in Paris und beschäftigt sechs Angestellte und 40 Freelancer.

Konstantin kam strahlend aus dem Hinterzimmer des Fischhändlers. „Heute“, rief er, „gibt es Oktopus“, und er schwenkte den Plastiksack, in dessen Innerem sich ein außerordentlich hübsches Exemplar der Gattung Coleoidea befand, groß genug, um uns alle und noch ein paar andere Menschen satt zu machen.

Schnell entwickelte sich eine Diskussion darüber, wo man den Oktopus zubereiten lassen könne. Denn einerseits, sagte Konstantin, sei es nun wirklich keine Kunst, einen Oktopus angemessen auf der Holzkohlenglut zuzubereiten – aber andererseits sei es auch nicht so einfach, dass man das schöne Teil – wieder vergewisserte er sich mit den Fingern von der perfekten Spannung im Fleisch des Kopffüßlers – jedem anvertrauen könne.

Wieder wurde Sotiris konsultiert. Der hatte eine Idee für den richtigen Ofen. Er telefonierte kurz – habe ich schon angemerkt, dass Sotiris oft kurz telefoniert? – und fixierte das Abendessen in einer Fischkneipe in Marathopolis, die nicht allzu weit von unserem Hotel entfernt lag, dem eindrucksvollen Costa Navarino.

„Wie weit?“, fragte Konstantin.

„Zehn Minuten“, sagte Sotiris und wunderte sich, warum alle brüllend lachten.

Das Essen in Marathopolis war einwandfrei. Die Kneipe hieß „Maistrali“ und servierte Muscheln und Rotbarben, herrliches Gemüse und anständigen Weißwein aus der Gegend.

Nur der Oktopus gelang nicht, und als der Wirt die entsprechende Reklamation von Konstantin mit, sagen wir, Gleichmut quittierte, sah ich zum ersten Mal, dass dieser durchaus über das Talent verfügen würde, aus der Haut zu fahren.

Die Krise wurde mit weiteren Fischen und Nachtischen beigelegt. Aber wann immer ich Konstantin in den nächsten Tagen dabei ertappte, wie er in eine unbestimmte Ferne starrte und dazu leicht den Kopf schüttelte, wusste ich, dass er es nicht fassen konnte, dass man einen so guten Oktopus so an die Wand fahren kann …

Am nächsten Tag gingen wir mit Sotiris Wildpflanzen suchen. Diese Pflanzen und ihre ungebändigte Aura gehören zu den spirituellen Komponenten, mit denen Konstantin Filippou seine Gerichte im Restaurant unterfüttert, so wie er das Mediterrane gern mit dem Kontinentaleuropäischen verbindet und daraus Anregungen für Gerüche, Geschmäcker und Texturen schöpft, um sie dann auf seine unvergleichliche Weise zu Gerichten zu montieren.

Was Sotiris hier sammelt, taucht sicher nicht eins zu eins auf der Karte von Konstantin Filippou auf. Aber auch, wenn die Fundstücke nur winzige Komponenten sind, braucht sie Konstantin dennoch, um die Architektur seiner Gerichte vollständig und tragfähig werden zu lassen. Um es jetzt einmal pathetisch zu sagen: Die Spurenelemente von Meeresfenchel oder Seetang, die Konstantin Filippous Gerichten als Akzente dienen, nehmen etwas von dem besonderen Licht mit, das hier an der Küste schräg einfällt, zum Beispiel, wenn Sotiris sich anschickt, das Vulkangestein nach Beute abzusuchen.

Sotiris interessierte sich vor allem für die Zonen, aus denen sich das Meer gerade erst zurückgezogen hatte. Hier wächst Seetang, ein begehrtes Gut. Weiter oben, von der Gischt nur besprüht, gibt es Meerfenchel und Queller, auch Meeresspargel genannt. All diese Pflanzen sind nicht nur für den gelernten Veganer interessant, sondern auch für die gehobene Gastronomie in Athen, Wien und Paris.

Mit routiniertem Blick untersuchte Sotiris die pittoresken Steinformationen mit ihren Löchern, Pfützen, Schattenbuchten und Grenzzonen. Es war ein guter Tag. Es gab jede Menge Meerfenchel, er trennte die langen, rundköpfigen Blätter mit einem scharfen Messer vom Stein und schob sie in das dafür vorgesehene Fach seiner Tasche. Seetang war schwerer zu finden, dafür entdeckte Sotiris nur ein paar Meter höher im sandigen Boden unzählige Stauden wilden Knoblauchs. Der Geschmack der jungen grünen Triebe war von umwerfender, milder Würze. Für heute ließ er den Knoblauch stehen. Er würde ihn am nächsten Tag ernten, um dieselbe Zeit.

Abends aßen wir wieder in einer Taverne in den Bergen. Die zehn Minuten, um dorthin zu kommen, dauerten fast eine dreiviertel Stunde, aber das Essen war es wert. Es gab Grünzeug in allen Variationen, wilden Knoblauch, Käse, gebackene Eier und auch einen Teller mit halbierten und gegrillten Singvögeln, die vermutlich nur unter Umgehung zahlreicher EU-Gesetze gefangen worden waren. Wir verhielten uns gesetzeskonform und schauten, dass das Zeug rasch vom Tisch kam.

Am nächsten Tag schipperte uns der VW-Bus durch ein prächtiges Land, dessen Charakter von weitläufigen Olivenplantagen und kleinen Dörfern geprägt wurde, die nur dann touristische Einrichtungen inkludierten, wenn sie direkt am Meer lagen. In Filiatra, einem Städtchen mit knapp 6.000 Einwohnern, holten wir Cristina ab, sie war bereit, uns ihre Olivengärten zu zeigen.

Aber das ging nicht so schnell, wie wir uns das vorgestellt hatten. Denn Cristinas Mutter fand, dass wir, und vor allem natürlich Konstantin, ein bisschen schmalgepickt aussehen, kein Wunder, wenn uns niemand etwas zu essen gibt.

Es gab also erst einmal einen Teller mit Galopita, frisch gebackener, griechischer Panna cotta, und die war schlicht und einfach der Hammer.

Kann man Galopita ohne Kaffee trinken?

Na eben.

Und weil wir dann ein bisschen ins Sprechen kamen und über Olivenöl im Allgemeinen und über Cristinas Olivenöl im Speziellen diskutierten, mischte sich Cristinas Mutter insofern ein, als sie mit einem kurzen Ruf ankündigte, dass jetzt eine Zwischenmahlzeit fällig sei, und so lernte ich endlich die griechische Spezialität Trachana im Originalzustand kennen, jene kleinen, säuerlichen Teigwaren, die aus Mehl und fermentierter Schafmilch geknetet, durch ein grobmaschiges Sieb geschabt, in mehreren Etappen in der Sonne getrocknet und anschließend in Wasser und Tomatensaft gekocht werden.

Das war eine Art Déjà-vu. Bei Konstantin Filippou gibt es schließlich auch Trachana, als Füllung von kleinen Weinblättern, die als Snacks serviert werden, aber eines kann man mit Sicherheit sagen: Bei Christinas Mutter sind die Trachana-Portionen größer. Das Säuerliche verbindet sich mit dem Molligen, köstlich, und weil wir bei der Begrüßung nicht die ganze Galopita aufgegessen hatten, gab es anschließend noch ein Stück zur Nachspeise, und nach der Nachspeise gab es natürlich noch einen Kaffee, und nach dem Kaffee beschlossen wir, jetzt schnell in die Olivenhaine aufbrechen, weil sonst wahrscheinlich schon der nächste Kuchen fertig wäre.

Olivenöl ist in der Region von Kalamata ein kostbares Gut, und nicht erst, seit auf der italienischen Halbinsel ganze Ernten ausgefallen sind und die Preise für Öl weltweit in die Höhe schnellen. Olivenbäume, die meisten von der autochthonen Sorte Koronèiki, lassen ganze Landstriche in den eleganten Farbnuancen zwischen grün und grau schimmern und sorgen seit Jahrhunderten für einen gewissen, bäuerlichen Wohlstand.

Auch Cristinas Familie produziert seit Generationen Olivenöl. Ihr Vater hatte von seinem Vater einen kleinen, friedlichen Olivenhain namens Voulieraki geschenkt bekommen, auf dem genau 19 Bäume stehen. Die Bäume mit ihren pittoresken Ästen sind zwischen 300 und 500 Jahre alt. Auf dem Boden wachsen Gras, Kräuter und Wildpflanzen, anders als in manchen benachbarten Gärten, wo die Eigentümer alles, was sie für Unkraut halten, mit Pflanzengift auslöschen.

Als kleines Mädchen kam Cristina fast täglich mit ihrem Vater auf dem Pferdewagen hierher und lernte, die Selbstverständlichkeit und die Schönheit dieser Landschaft wahrzunehmen. Sie sagt, dass sie möglicherweise damals ihren Sinn für Proportionen und Farben entwickelte, der sie später dazu motivierte, Kunstgeschichte zu studieren. Sie absolvierte ihr Studium in Florenz und lernte dort die Begeisterung kennen, mit der das toskanische Olivenöl betrachtet wurde. Auch diese Begeisterung brachte sie zurück nach Griechenland, denn sie bemerkte, dass sie das Talent hatte, die Qualität von Olivenöl sehr treffsicher zu beurteilen.

Ihre Freunde und Kollegen nennen Cristina Stribacu „die Nase“. Sie nimmt Qualität, Alter, Beschaffenheit und natürlich mögliche Defekte des Öls treffsicher wahr. Sie unterscheidet, wie lang und bei welcher Temperatur ein Öl gepresst wurde, ob das Wasser, mit dem die Mühle gereinigt wurde, frisch war oder bereits gebraucht, ob ein Öl metallisch schmeckt oder sauer, weil es zu lang an der Luft gewesen war oder dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt.

„Als ich die ersten Wahrnehmungskurse für die Beurteilung von Olivenöl machte“, sagt sie, „merkte ich schon, wie vertraut mir die meisten Gerüche waren. Ich hatte bereits in meiner Kindheit gelernt, wie Oliven bei der Ernte riechen. Ich kannte den Duft von einem Korb Oliven, der vergessen worden war und zwei Tage in der Sonne gestanden hatte. Ich wusste, wie Oliven riechen, wenn sie gepresst werden und wie sich dieser Duft mit jeder Minute verändert.“

Wir spielten das durch.

Wir probierten unterschiedliche Öle mit unterschiedlichen Gerüchen, Typizitäten und Fehlern. Es war lustig, aber es war auch nicht ganz leicht, und es rückte die Souveränität, mit der Cristina agierte, in ein beneidenswertes Licht.

Dann fuhren wir endlich zum Garten Voulieraki, einem Winkel, von dem die Lüfterlmaler das Paradies abgezeichnet haben müssen. Dort machte gerade eine große Schafherde Pause, samt Lämmern, was wiederum bei manchen von uns zu Mutmaßungen führte, wie man diese am besten zubereiten könnte.

Cristina erzählte, wie sie nach ihrer Rückkehr aus Italien die Krise in Griechenland erlebt hatte, katastrophale Wirtschaftslage, Arbeitslosigkeit, mangelnde Perspektiven; dass sie die direkte Ansprache eines Bekannten gebraucht hatte, der die allgemeine Depression mit einem einzigen Blick auf die Landschaft und das Klima torpedierte: „Schaut euch um“, hatte er gesagt. „Ihr lebt in einer Traumlandschaft. Lasst euch nicht einreden, dass es eine Krise gibt. Überlegt euch, welches Potenzial in dieser Region vorhanden ist. Seid froh, dass ihr hier leben dürft. Macht etwas draus.“

Das habe ihr eingeleuchtet, sagt Cristina lächelnd, bevor sie ihren programmatischen Satz los wird: „Für Pessimismus bin ich sowieso nicht geeignet.“

Sie gründete mit ihrem Bruder die Firma „Liá“ – sie hatte als Kind nicht „elaiólado“ sagen konnte, griechisch für „Olivenöl“, sondern bloß „Liá“ – übernahm die Olivengärten der Eltern, kaufte neue Gärten und pflanzte hunderte eigene Bäume aus. Sie entwarf einen neuen Markenauftritt und optimierte die Produktion. Ihre Oliven werden zum Beispiel schneller vom Baum in die Mühle gebracht und kürzer gepresst als bisher, die Temperatur beim Pressen darf keinesfalls höher als 24 Grad werden.

Es geht dabei um Geschmacksnuancen, sicher. Es geht aber auch darum, eine neue Kultur der Produktion zu etablieren, die sich von den Traditionen durch ein bisschen mehr Sorgfalt und ein bisschen mehr Genauigkeit abhebt, auch wenn das manchmal zu schmerzhaften Verwerfungen führt.

Als sie ein alter Olivenbauer als „dummes Mädel mit einem Notebook“ verspottete, weil sie ihre Oliven nicht bis auf den letzten Tropfen auspresst, fuhr ihm Cristina zum Beispiel furios über den Mund.

„Du glaubst, es ist wie beim Sex“, fauchte sie, „dir ist nur wichtig, dass am Schluss möglichst viel rauskommt. Mir ist das, was dazwischen passiert, mindestens so wichtig.“

Unwahrscheinlich, dass der Alte Cristina noch einmal schwach anredet.

Wir fuhren dann in einer großen Schleife durch die Olivenhaine zurück nach Filiatra, wo Sotiris mit einer Lieferung von neuem Grünzeug wartete. Cristinas Mutter hatte inzwischen aus Gries, Zucker und Olivenöl einen Kuchen namens „Halvas“ zubereitet, den man am besten lauwarm isst.

Also setzten wir uns an den Tisch und aßen, stöhnten vor Freude.