Gib Bitterstoff!

Radicchio sorgt nicht nur für starke Farben am Teller, sondern mit seinen Bitternoten auch für geschmackliche Kontrapunkte.

Text von Claudia Schemerl-Streben/Fotos Michael Reidinger

Sankt Koloman im Salzburger Tennengau, 1.000 Meter Seehöhe, ein Holzhaus, rundherumWiesen und Wälder. Auf einer Weide steht eine Herde der edlen schwarzen japanischen Rinderrasse Wagyu¯ und wartet ungeduldig. Robert Scheck ist am Weg zu seinem Radicchiofeld. Es ist Erntetag. Die grünlichen, extrem bitteren Außenblätter entfernt er großzügig vor Ort und wirft sie hinter sich. Die Rinder beäugen die vertraute Szene und nähern sich dem Zaun in beschleunigtem Schritttempo. Sie wissen, was jetzt kommt. Der Ernteausschuss ist für sie bestimmt. Dass der Zaun heute nicht an das Stromnetz angeschlossen ist, hat Robert Scheck übersehen. Stunden später ist das Radicchiofeld zur Gänze abgeerntet. Allerdings nicht von Robert Scheck, sondern von seinen vierbeinigen Gourmets.

Auf der Alm ist Robert Scheck im Sommer zu Hause – gemeinsam mit seinen Wagyu-Rindern, Schwäbisch-Hällischen Schweinen, südafrikanischen Buren-Ziegen, Maran- und Perlhühnern. Mittendrin gedeihen 1.000 Kakteen neben Artischocken, Paradeisern und Radicchio in allen Farben. Unmöglich? Nein, das geht! Vor rund 50 Jahren hat der Nebenerwerbs-Landwirt, Pflanzenliebhaber und Tierversteher sein Lebensprojekt ­gestartet, das stetig wächst. Während der Autodidakt die warme Jahreszeit auf der Alm verbringt und dort Radicchio im kleinen Stil anbaut, zieht er für die Wintermonate mit den Huftieren in sein Quartier am Rande der Salzburger Altstadt in Leopoldskron, wo 80 Flamingos von ihm angesiedelt wurden und ganzjährig Wache schieben. Das Radicchiofeld, das Scheck dort bewirtschaftet, ist mit 1.300 m2 deutlich größer angelegt und mit knapp 15 Sorten in allen Formen und Farben übersät. Man entdeckt tiefrote, aufgefächerte Rosetten mit dickfleischigen Blättern, die den Namen Grumolo Rosso tragen. Daneben Castelfranco, der einen großen Kopf bildet, ansprechend gewellte cremefarbene Blätter mit roten Sprenkeln besitzt, wegen seiner Schönheit auch als Orchideensalat bezeichnet wird und besonders mild und leicht süßlich schmeckt. Kugelrund ist der dunkelrote Palla Rossa, er hat markante Bittertöne, wächst kompakt und dicht. Der Treviso-Typ ist hingegen spitz zulaufend, vergleichbar mit einem Rugby-Ball, und besticht durch seine leuchtend roten Blätter mit weißen Blattrippen.

Als Delikatesse wird der Rosso di Treviso Tardivo in Italien gehandelt. In Venetien steht er so lange am Feld, bis seine äußeren Blätter durch den ersten Frost absterben. Dann werden seine Wurzeln zum Treiben in die Grundwasserbäche gelegt. Nach Abdeckung mit Folie treiben die Wurzeln erneut aus, und es bilden sich ­rötliche Blätter mit bleichen zarten Blattstielen, die besonders fein schmecken und in ihrem bizarren Wuchs an Calamari erinnern. Im großen Stil wird diese Methode in riesigen Wasserbecken imitiert, in denen durch Umwälzung und Filterung nach etwa drei Wochen ein zweiter Wachstumsschub mit gleichem geschmacklichen Effekt erzeugt wird.

Kennengelernt hat Scheck den vielseitigen Salat zu einer Zeit, als der in Italien wegen seiner Bitterstoffe begehrte Radicchio hierzulande noch als Exot galt. Auf unzähligen Reisen nach Italien eignete er sich sein Wissen über den Sortenreichtum, die Anbau- und Zubereitungsmethoden an. Er weiß zu berichten, dass die Wurzeln des aus derselben Zichorienfamilie stammenden Chicorée klein geschnitten und geröstet als Kaffeeersatz getrunken wurden. Und er erzählt von Weiden in Italien, die einst als Radicchiofeld genutzt wurden und auf denen bis heute noch Köpfe des Bittersalates wachsen, weil sich die Pfahlwurzeln der Pflanze nicht so leicht beseitigen lassen. „Radicchio treibt über Jahre immer wieder aus. Wenn man die zarten Blätter sammelt, ist man gut bedient. Auch die noch jungen Blütenstiele, die wie Teleskop-Antennen in die Höhe schießen, kann man essen – sie sind knackig wie Spargel und schmecken roh wie gebraten extrem gut. Sobald die Pflanze aber zu blühen beginnt, ist Schluss – dann wird’s zu bitter.“

Die äußeren grünen Radiccioblätter dienen als Schutzhülle und werden von Robert Scheck noch am Feld entfernt.

Sein Saatgut bezieht Scheck vom italienischen Samenhändler Franchi in Mailand. Stufenweise werden die Sorten ab Mai von Scheck gezogen und können somit ab Herbst bis teilweise ins nächste Frühjahr hinein über geerntet werden. In den Genuss seiner Ernte kommen Scheck persönlich, seine Großfamilie, Freunde, Nachbarn, seine Tiere und ein Spitzenkoch, dessen Restaurant nur 15 Autominuten von Schecks Alm entfernt ist. Andreas Döllerer wird exklusiv mit Wagyu¯-Rindfleisch, Paradeiserraritäten, Marmorataforellen aus Schecks Teich und Bittersalatspezialitäten beliefert. „Den Radicchio bekomme ich zwar nicht in Großmengen von ihm, aber es reicht, um die speziellen Sorten für zwei, drei Tage auf die Speisekarte zu setzen.“ Hantiert wird in seinem Gourmetrestaurant mit den Bittersalaten bevorzugt ab der Haupterntezeit im Spätherbst. „Die Geschmacksrichtung bitter ist für mich spannend – das beginnt schon bei den Drinks“, sagt er lachend. „Aber auch in Gerichten ist sie eine wertvolle zusätzliche Komponente, wenn man sie klug einsetzt und richtig dosiert.“ Kalbsbries, das er kurz brät und glasiert, deckt Döllerer etwa mit nur einem Blatt Radicchio ab („mehrere Blätter zu verwenden, wäre hier einfach too much“), dafür gleich samt Strunk, damit man das Produkt erkennt. Der Bittersalat wird zuvor leicht karamellisiert, mit Apfel-Balsamico abgelöscht und kurz in Hühnerfond gedünstet, sodass das Blatt noch Biss hat. Serviert werden die beiden Komponenten mit Erdäpfelmousseline, eingelegten Rosinen und Sardelle – „inspiriert hat mich dazu das Gericht Sarde in saòr, das ich wie Radicchio kennen und lieben gelernt habe, als ich eine Zeit lang bei einer venezianischen Familie gelebt habe.“ Als vegetarischer Gang kommt der zarte norditalienische Radicchio Treviso Tardivo mit seinen feingliedrigen purpurroten Blättern mit schneeweißen Stielen bei ihm halbiert auf den Teller; dazu kombiniert Döllerer gerne Nüsse oder Zirbenkerne, die er aus im Herbst geernteten Zirbenzapfen bricht. „Sie ähneln Pinienkernen, haben eine süßliche, fein harzige Note und passen somit perfekt zu den Bitternoten des Radicchio.

Auch Kochkollege Vitus Winkler aus dem Hotel Sonnhof in Sankt Veit im Pongau bekennt sich zu seiner Vorliebe für das Bittergewächs. „Früher mochte ich es ja überhaupt nicht, aber wenn man zu kochen beginnt, kapiert man, wie gut es eigentlich schmeckt.“ Dass die Geschmacksrichtung bitter nicht mit positiven Assoziationen in unserer DNA kodiert zu sein scheint, lässt der Spitzenkoch nicht gelten. Ganz im Gegenteil: Der enthaltene Bitterstoff Intybin, der vor allem in den Blattrippen des Radicchio gespeichert ist, wirkt verdauungsfördernd und besitzt appetitanregende Eigenschaften, weshalb Winkler ihn bewusst in seine mehrgängigen Menüs einsetzt und das Zeitfenster des Radicchio voll ausnützt. Das kann in Form eines Bittersalat-Sorbets sein, das Winkler vor dem Hauptgang serviert und mit Minze, Aztekischem Süßkraut und Zucker versetzt. Berechtigung hat aber auch ein eigenes Gericht, für das der Spitzenkoch das Thema Radicchio ­akribisch durchdekliniert und dafür gleich zwei Bittersalatsorten verarbeitet: Der cremefarbene, rot gesprenkelte Castelfranco wird mit Holunderblütensirup vakuumiert und anschließend zu Chips getrocknet. Den runden, tiefdunkelroten Chioggia schmort er im Ganzen mit Aromen wie Portwein, Rote-Rüben- und Rotkrautsaft sowie Kräutern im Ofen weich und schmeckt ihn mit Limette ab. Einzelne Blätter davon werden wieder zu Chips getrocknet. „Auf die Teller legen wir dann gedämpfte Forellenfilets, decken sie mit einem Blätterhaufen von Radicchio in unterschiedlichen Texturen ab, servieren dazu Physalis und Radicchio-Eis und gießen das Gericht beim Gast mit tiefrotem Sud der geschmorten Chioggia-Köpfe an.

Robert Brodnjak: Die Sorte Grumolo Rosso ist besonders begehrt, weil sie nicht größer als ein Apfel wird und frostresistent ist.“
Robert Brodnjak: Die Sorte Grumolo Rosso ist besonders begehrt, weil sie nicht größer als ein Apfel wird und frostresistent ist.“

Seinen ausgeprägten Pflanzenfetisch lebt auch Paul Ivić bei Radicchio aus. Jede Woche parken vor der Küchentür des vegetarischen Spitzenrestaurants Tian in der Wiener Himmelpfortgasse Transporter der besten Gemüse­lieferanten des Landes, um ihn mit Besonderheiten zu versorgen. Radicchio steht ab Herbst ganz oben auf seiner Bestellliste. Mindestens 100 Stück pro Woche übernimmt die Küchencrew alleine von Gemüseguru Robert Brod­njak, der sich mit seinem landwirtschaftlichen Betrieb Krautwerk bewusst auf den kleinstrukturierten Anbau seltener Gemüsesorten spezialisiert hat. In Großmugl im Weinviertel baut er heuer zehn unterschiedliche Zichoriensorten auf 400 m2 im Freiland an, wobei er sich vor ­allem auf Radicchiosorten eingeschossen hat, die auch winterlichen Bedingungen gut standhalten. „Die richtig schöne Farbe entsteht ja beim Radicchio ohnehin erst an den kühleren Tagen.“ Bis Anfang Dezember lässt sich auf seinen Feldern die Sorte Luisa ernten, die kein klassisch roter Radicchio ist, sondern ein heller, leicht rosarot geflammter Bittersalat mit subtilen Bitternoten und fein nussigem Aroma. Der hellgelb leuchtende, leicht gescheckte Castelfranco mit dichtem Kopf läuft spitz zusammen, wird bei der Ernte wie eine Rose aufgefächert und beeindruckt durch sein strahlend weiß gebleichtes Innenleben. Arbeitsintensiv wird es bei der Sorte Palla Rossa, die der Mikrofarmer auf Wunsch inklusive der geschmackvollen Wurzel händisch ausgräbt – sie wächst über einen halben Meter ins Erdreich. Auf die purpurrote, dickfleischige Sorte Grumolo Rosso in Rosettenform muss die Spitzengastronomie noch warten. Der Erntezeitpunkt ist mit Februar angesetzt: „Die Sorte ist besonders, weil sie gerade einmal so groß wie ein Apfel wird und kein Problem mit Frost hat.“ Geerntet werden darf dennoch nur bei Plusgraden gegen Mittag, da die gefrorene Zellstruktur des Salats bei Berührung platzt und die Blätter beim Auftauen welk und unansehnlich werden.“ Ist länger anhaltender Dauerfrost zu erwarten, startet Brodnjak sein Notprogramm und bunkert 200 Stück der sehr gut lagerfähigen Bittersalate in seinen Erdkellern ein, um die Köche weiterhin beliefern zu können.

Zurück in die Tian-Küche, wo Paul Ivić ständig mit neuen Geschmäckern und Texturen experimentiert. Während die Radicchiosorte Palla Rossa derzeit in Drei-Kilogramm-Portionen vergoren wird und bald in ein Gericht eingebaut werden soll, kommt sie in einem anderen Gericht bereits tonangebend vor. Ivić entsaftet die intensiv roten Köpfe dafür mit dem Slow Juicer: „Das schonende Entsaften ist sehr wichtig. Im Turbomixer werden die Fasern nämlich regelrecht zerschredert, und das Ergebnis wäre unangenehm bitter.“ Den Saft mit feiner Bitternote und kräftigem Rot-Ton verarbeitet der Spitzenkoch mit Zweigeltreduktion und dem Texturgeber Elastic zu einem Gelee, das er mit fein geschnittenem, mariniertem Palla Rossa füllt und als Rolle neben eine Topinambur-Rolle setzt, die er unter einem Chip der Knolle versteckt. Intensiver Haselnussschaum, Haselnuss- und Topinambur­püree, Trüffeljus sowie in Palla Rossa eingelegte Trüffel machen das Gericht komplett: „Topinambur passt einfach extrem gut zu Radicchio, weil die Knolle süßlich ist, die Bitternoten gut ausbalanciert sind und trotzdem genug vom Eigengeschmack des Radicchio zulassen.“

Für Josef Floh von der Gastwirtschaft Floh in Langenlebarn sind es vor allem die fruchtigen Gegenspieler, die sich gut mit den Bittersalaten verstehen. Mit der Sortenvielfalt von Gemüsespezialist Robert Brodnjak, Michael Bauer und der visionären Grand Farm im niederösterreichischen Absdorf – ein Forschungsbauernhof, der im internationalen Austausch an der Lebensmittelversorgung der Zukunft arbeitet – kann auch er aus dem Vollen schöpfen. Das war nicht immer so: „Vor zwanzig Jahren hat es gerade einmal diesen kleinen runden roten Radicchio gegeben, der selbst bei den Köchen unbeliebt war und nur zu dekorativen Zwecken im Blattsalat gelandet ist – das war schon die Krönung seiner Karriere. Erfreulicherweise hat sich da in den letzten Jahren sowohl beim Anbau als auch bei den Zugängen viel getan.“ Floh greift für ein Gericht beispielsweise zu der geflammten Radicchiosorte Luisa und seziert den Bittersalat dafür zur Gänze: Die äußeren Blätter sautiert er in einer Pfanne, bevor sie mit hocharomatischem neunjährigen Aceta-Pecoraro-Essig mariniert werden, der Strunk wird fein gewürfelt und mit Fruchtessig und Kernöl mariniert. Das feine, hell leuchtende Innenleben mit rosarot geflammtem Muster bleibt roh und wird mit einer Vinaigrette aus Honig, Leindotteröl, Wiener Würze und Zitronensaft vermischt. Dazu kombiniert Floh gegrillte Kräuterseitlinge und eine exotische Frucht, die neuerdings auch in Österreich gut wächst: Die Indianerbanane Pawpaw hat weder optisch noch biologisch etwas mit der Banane zu tun. Sie gehört zu den Rahmapfelgewächsen, mimt in ihrer Form eine Mango, enthält etliche Kerne und ein feinsüßliches cremeweißes bis gelbliches Fruchtfleisch, das tropische Geschmacksnoten von Mango, Papaya, Ananas, Banane sowie Vanille in sich birgt. Josef Floh höhlt das Fruchtfleisch aus, hackt es grob und mischt es mit Kurkuma, Chili, Ingwer, Salz und etwas Essig. „Das ist für mich einfach die logische Gegenkomponente zu den Bittertönen.“ Bei der Paarung bitter-fruchtig und der Erweiterung um die Zutat Schokolade scheint für den Spitzenkoch dann auch der Gedanke, den vielseitig einsetzbaren Salat als desserttauglich einzustufen, gar nicht mehr abwegig. Man darf gespannt sein, ob die Idee in die Umsetzung geht.

Andreas Döllerer, Döllerer, Golling: Kalbsbries mit Trevigiano, Trauben & Sardellen

Paul Ivic´ & Mathias Martin, Tian, Wien: Palla Rossa, Topinambur & Haselnuss

Josef Floh & Max Eichberger, Gastwirtschaft Floh, Langenlebarn: Luisa

Vitus Winkler, Sonnhof, St. Veit im Pongau: Pfarrwerfner Forelle, Radicchio & Pinzgauer Physalis

Der Floh
Tullner Straße 1, 3425 Langenlebarn
T 02272/628 09
www.derfloh.at

Döllerers Genießerrestaurant, Andreas Döllerer
Markt 56, 5440 Golling
T 06244/42 20-0
www.doellerer.at

Tian Restaurant
Himmelpfortgasse 23, 1010 Wien
T 01/890 46 65
www.tian-restaurant.com

Restaurant Vitus Winkler, Hotel Sonnhof
Kirchweg 2, 5621 St. Veit im Pongau
T 06415/43 23
www.sonnhof-vituswinkler.at

Produzenten:

Robert Scheck
Grubach 58, 5423 St. Koloman

Krautwerk – Robert Brodnjak
Sa. 7–13 Uhr am Wiener ­Karmelitermarkt

Grünzeug vom Feld
Michael Kietreiber erntet heuer erstmals Radicchio-­Spezialitäten.
Sa. 7–12.30 Uhr am Markt am Domplatz in St. Pölten