Hahnenkämme

Beschäftigung mit einem peripheren Geflügelteil

Hahnenkämme

über drei Wochen und vier Stunden zwecks Beantwortung von sechs hochaktuellen Fragen von geringer Bedeutung und Erfindung eines Kochrezepts, das keiner braucht.
Text von Werner Meisinger Fotos: Werner Meisinger
1. Frage: Gibt es einen vernünftigen Grund, Qualitätspapier mit Ausführungen über Hahnenkämme zu bedrucken?
Diese Frage lässt sich mit Argumenten aus den Bereichen des Mystizismus, der Ökonomie, der Materialkunde und der kulinarischen Megatrendforschung positiv beantworten.
Es lehrt und berichtet uns Alexandre Dumas, der nicht nur über Musketiere, sondern auch über kulinarisch edle Tiere geschrieben hat*: "Der Hahn ist sicherlich der eitelste, wachsamste und mutigste Vogel überhaupt. An Eitelkeit steht er dem Pfau in nichts nach … Zum Mut berichtet Levaillant in seinen Memoiren, dass sein Hahn unter allen Tieren das einzige war, welches sich nicht vom Brüllen eines nahenden Löwen aus der Fassung bringen ließ."
Zur Eitelkeit gibt ihm Anlass und zum Stolz gereicht dem Hahn der Hahnenkamm, ein Männlichkeitssymbol der Extraklasse und daher ein Zeichen für Mut und Stärke von besonders eindrucksvoller Art. Das motiviert in der Hoffnung auf einen wundersamen Transfer des Mutes und der Stärke des Hahns alle Kleinmütigen, die beim Brüllen eines nahenden Löwen an Ablebensversicherungssummen denken, statt erwartungsfroh ihre Schnäbel am Stacheldraht zu wetzen, das Zeichen der hahnenhaften Wehrhaftigkeit, den Hahnenkamm, zu verspeisen, wie sie ja auch das Horn des starken Nashorns fressen, die Hoden des Stiers und sehr wahrscheinlich auch die Weltrekord-Penisse der Bonobos.
Der Kamm des Hahns ist aber nicht nur wertvoll als rares Zeichen unverfälschter, unkastrierter, vom Gender-Streaming unverwässerter Männlichkeit, er hat auch ernährungsrelevante Meriten und kulinarische Reize.
Betreffs der Merite legen wir ihn auf die Waagschale und können bei den Prachtstücken unter den Kämmen gut und gern plusminus 80 g registrieren – sowas gibt der wirtschaftlich handelnde Koch nicht weg, wenn es sich irgendwie genießbar machen lässt.
Und betreffs der kulinarischen Reize reden wir von etwas heute ganz besonders Wichtigem, nämlich einer eigenständigen Textur, die im Kontext mit allenfalls dekonstruierten Stoffen zur Dramatisierung der konsistenziellen Spannungskurve in einem kulinarischen Entwurf beitragen und per se vermittels schwieriger Definierbarkeit den Perplexionsgrad desselben stärken kann.
Das kommt uns zupass in einer Zeit, in der die Ansprüche an preiswürdige Kreationen ein bisserl intellektuellere sind als zu den Zeiten der ehrwürdigen Gründerväter. Der gute Karl E. Eschlböck zum Beispiel konnte die Knirpse der Gourmetberichterstattung noch mit so etwas Simplem wie einer "fast rohen BRUST vom Freilandhuhn" in den Poesieorgasmus treiben. Heute aber? Heute schaffst du es mit Hühnerbrüsten, in welchem Agregarzustand auch immer, nicht einmal mehr in die Gourmetkolumne der Praline. Hahnenkämme haben daher in dieser von einem Megatrend zur Makrokomplexität bestimmten Zeit eine essentiellere Bedeutung für die kreative Küche als je zuvor. Andere Stoffe wie Kuheuter oder Schafsplazenta hätten auch eigenständige Textur und Perplexionspotenzial, wir können aber davon ausgehen, dass sich der Rezepient mit Hahnenkämmen leichter tut.
2. Frage: Wenn Hahnenkämme so wichtig sind – wie kann man sich damit wichtig machen?
Nicht leicht! Bevor man sich mit der kulinarischen Kenntnis von Hahnenkämmen schmücken kann, muss man sie erst mal kriegen. In den Restaurants unseres Heimatlandes wird man sie kaum jemals finden, weil es die dazu passenden Köche nicht mehr gibt. Passend wären Köche von tief frankophiler Prägung oder aus gewissen italienischen Provinzen. Solche, die noch mit Blut binden, Kalbsohren füllen und mit Milz und Milchner so inniglich verbunden sind wie die heute üblichen Köche mit Gelatine. In Frankreich und Südeuropa erhascht man Hahnenkämme leichter, und zwar gleichermaßen in der archaisch bodenständigen Küche wie auch bei manchen Weltkoryphäen; Ferran Adrià gibt Hahnenkamm zu Steinbutt mit Schwarzwurzeln und schwarzer Trüffel.
Für solche, die Hahnenkämme am eigenen Feuer sieden oder brutzeln wollen, ist es nicht leichter. Auf Märkten wird man sie vergeblich suchen, weil heutige Hühner-Dealer nicht einmal mehr wissen, dass Hähne jemals Hahnenkämme hatten. Ab-Hof-Hahnenkamm-Akquisition wird mangels Masse ebenso wenig gelingen, weil nur der ausgewachsene und geschlechtsintakte Hahn mit Kamm daherkommt, und davon reicht einem ganzen Hühnervolk ein einziges Exemplar. Also sind wir auf unsere Verbindungen in die Hochgastronomie angewiesen, die sich von den fixen Rungis-oder-was-auch-immer-Express-Burschen nicht nur Mittelteile von irgendwelchen Filets wünschen darf, sondern auch Randprodukte der Landwirtschaft und Nischenmaterial für die Traditions-Cuisine.
Schon drei Wochen nach der ernsthaften Inangriffnahme des diesen Ausführungen zugrunde liegenden Projekts wurden mir im Morgen-grauen auf einer südsteirischen Anhöhe die Hahnenkämme übergeben, verpackt in einer Bofrost-Isoliertasche und herbeigeschafft aus dem Tiefland Frankreichs (oder sagen wir aus der Bresse, weil das im Zusammenhang mit Vogelartigem immer gut klingt). Die Beschaffung kann also gelingen. Was dann?
3. Frage:Was passiert mit Hahnenkämmen in der Küche?
Der Kater hebt sich aus der Omelettlage auf die Vorderbeine, drückt bei verdrehtem Hinterteil den Rücken durch und sitzt dann da wie die Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen, nur im Fell und voluminöser, weil er mit acht Kilo einwiegt. Die Nasenspitze hebt sich, die Bartfrisur wird aufgestellt, die Ohren nach vorn geklappt. Der Blick aus honigfarbenen Augen sucht und findet was da gerade der Kühltasche entnommen wird und folgt ihm bis zum Schneidbrett. Der Kater bleibt in vorgespannter Haltung, bis die Schere in den Vakuumbeutel gedrungen ist und man (wenn man Katze ist) was riechen kann. Prüfend saugt der Kater Luft durchs aristokratisch ausgeformte Riechorgan, wachelt aber gleich mit den Ohren wie ein Alpaka auf der Sommerweide, knickt in den Vorderbeinen ein, lässt die Pelzgosche auf die Vorderpfoten fallen und liegt ohne weitere Beachtung des weiteren Geschehens wieder im Energiesparmodus hingebreitet auf dem Küchentisch. Der Kater ist von gelassener Wesensart und erledigt auch lukullische Angelegenheiten ökonomisch. Hühnerfilet oder Wildentenbrust, Rindfleisch oder Kalbsschulter, Leber, Faschiertes, teure Fische hätten ihn schon interessieren können. Hahnenkämme: nicht.
Die Katze ist bei der Selektion akzeptabler Zwischenmahlzeiten umständlicher. Sobald sie Witterung gekriegt hat, trabt sie wichtig an, federt aufs Nirosta, dreht mit aufgestelltem Schwanz drei Achter um das Schneidbrett und führt bedächtig und mit argwöhnischem Rundumblick den Riecher über die zu prüfenden Objekte. Wenn da zum Beispiel Thunfisch oder nicht zu fetter Lachs läge, würde sie mit spitzer Kralle ein Scheitel abheben und unter den Billardtisch tragen wollen (was wir gut verhindern können, wenn wir rasch ein passendes Quantum des akzeptierten Stoffes in katzengerechte Stücke schneiden und auf Porzellan servieren). Im Fall von Hahnenkämmen legt die Katze die Nase in Falten, stellt die Ohren auf Viertelneun, zieht den Hals ein, macht die Levade mit halber Drehung und entfernt sich mitteleilig, weil sie mit sowas wie Hahnenkämmen keine Zeit vergeudet.
Die Problemkatze – das ist so eine kürzere, mollige, freche – hat kulinarisch kein Interesse an etwas anderem als an Katzendosen und gelegentlich einem Gummiringerl. Sie bleibt in der Küchentür sitzen, legt den Kopf schief und schaut wie ein Kalb. Sie entfernt sich aber, sobald die Hahnenkämme kochen, weil das olfaktorisch nicht ihrem Stil entspricht.
Die anderen beiden im Fell gehen auch, obwohl das Küchenfenster so weit offen steht wie in den heißesten Nächten des August. Ich wär‘ auch gern gegangen, aber irgendeiner musste die Kämme kochen.
4. Frage: Ist die Zubereitung von Hahnenkämmen eine ungetrübte Freude?
Leider nein. Es trübt sich vorerst die Luft, das Kochwasser und bald auch das Gemüt des Kochs, weil er fürchten muss, dass der Prozess zu keinem delikaten Ende führt.
Beim Kochen von Hahnenkämmen kann sich ein durchaus eindrucksvoller Geruch entwickeln, und zwar auch dann, wenn die Kämme von optimaler Frische sind, 24 Stunden fließend gewässert wurden und hingebungsvoll geputzt, nämlich von allen Federkielen und allem, was sonst noch unrein kochen könnte, befreit sind.
Der Grad der Hahnenkamm-Ausdünstung beim Prozess des Hahnenkamm-Kochens ist schwer prognostizierbar. Im gewässerten und gekühlten Zustand müffeln die Kämme einigermaßen harmlos vor sich hin. Mit dem Aufbrühen kann sich das ändern, muss es aber nicht. Ich habe schon gehört, dass sich beim Hahnenkammkochen so gut wie kein Geruch entwickelt hat. Andererseits liegen mir glaubhafte Berichte von einem wahren Meister vor (einem, der gar nicht zu den Zimperlichen zählt, weil er Kutteln und so was aus dem Ärmel beutelt wie kein zweiter), der mehrfach versuchte, eine kulinarische Motette mit Hahnenkamm zu komponieren, aber über das Präludium des Hahnenkamm-Weichkochens nicht hinauskam; das – er sagte es nicht anders – "Zeug" hat ihm jedes Mal so gestunken, dass er es gleich als Küchensondermüll entsorgt hat. Es muss also recht arg gewesen sein.
Meine Hahnenkämme waren auch ein wenig von der letztgenannten Sorte und verhielten sich in mehrerer Hinsicht spektakulär. Ich stellte sie in einen Topf mit Wasser, Lorbeerblatt, Pfefferkörnern und noch allerlei unschädlichem Kleinzeug in der Art von 1 Gewürznelke und 2 Körnern Kardamom zu und kochte langsam auf. Die zuvor vom Grau ins Violett changierenden Lappen verfärbten sich darauf in eine vermischte Farbe, wie man sie aus Kindermalkästen kennt, mit einem leichten Stich in ein widerliches Murenabgangsbraun. Mit zunehmender Hitzeeinwirkung gewannen sie auch an geruchsmäßiger Präsenz. Ein schwüler Dampf mit dem Aromabild nach uralter Militärdecke von über dem Hendlstall entstieg dem Topf und blieb für längere Zeit in ungebrochener Intensität wie der Smog über Shanghai in meiner Küche hängen. Mit unglaublich viel gutem Willen konnte man bei der Ausdünstung auch an urbäuerliche Hühnersuppe denken, was mich aufrecht hielt bis zur wundersamen Klärung der Luft nach zirka einer halben Stunde.
Gleichwohl blieb das Wasser trüb und meine Hoffnung auf ein glückliches Ende der Expedition ins Niemandsland des Ungeheuerlichen gering. Die Kämme änderten nämlich nicht nur ihre Farbe und Ausdünstungsintensität zu ihrem Nachteil, sondern auch die Konsistenz. Waren sie im Rohzustand noch labbrig an den Spitzen und mäßig fest an ihrer Basis, verhärteten sie sich nach nur wenigen Sekunden im siedenden Wasser wie das Gemüt meiner Schwiegermutter, wenn einer ihren Hund schief anschaut. Auf Gabeldruck reagierten die Kämme mit diamantener Resistenz, den Spicknadelstich wiesen sie entschlossen von sich. Das gab sich erfreulicherweise nach fünf Viertelstunden, dann nämlich waren sie weich.
Schöner als zuvor waren sie freilich nicht. Einer, der bei Rudolf Kellner selig mit der Behandlung von Schweinsklacheln, Kalbsfüßen und also auch Hahnenkämmen vertraut gemacht wurde, Gerhard Fuchs, der heute am kulinarisch wertvollsten aller Pössnitzberge wirkt, sagt mir, man muss sie weißkochen, was dann gelingt, wenn man mächtig Essig in den Fond gibt. Meine waren Katastrophenbraun gekocht und zeigten weißgraue Schlieren nach schwerer Pilzerkrankung. Weißschleimig war auch ein Belag am oberen Innenrand des Kochtopfs, was ich auch nicht zu den guten Zeichen zählen wollte. Ich goss ab und legte die Kämme in eiskaltes Wasser, das ja bekanntlich hilft, frische Farben zu erhalten.
Die Literatur stellt in Aussicht, dass man nach dem Kochen die Haut der Hahnenkämme wie die Schalen von roten Rüben mit den Fingern abreiben kann. Das allerdings ist aussichtslos. Es reibt sich zwar ein wenig von etwas ab, aber von Haut war bei meinen Kämmen keine Rede. Das Noppige blieb im Original erhalten. Immerhin ließ sich der Pilzbefall per Abrubbeln und Abschaben mit einem Messer halbwegs entfernen. Nach einer Viertelstunde Postproduction ließ ich es gut sein und biss hinein: Der Probekamm war von einer Konsistenz zwischen Schweinshaxenschwartel und Kalbsherz, nicht fett, nicht eigentümlich im Geschmack, nicht muffig, sondern im Wesentlichen Konsistenz. Womit immerhin ein Stoff entstanden war, den man wie Schnecken, Kuttel oder Beuschel durch Zugabe von viel geschmackstragender Sauce veredeln konnte.
5. Frage: Was lässt sich anfangen mit derartig gutartig gekochten Hahnenkämmen?
Klassisch wäre eine Verarbeitung zum Ragout mit Rotweinsauce à la Coq au vin. Man könnte auch nach der Grundidee der piemontesischen Finanziera vorgehen, wofür man aber neben den Hahnenkämmen auch Hahnenhoden, Hirn, Mark und andere Köstlichkeiten braucht, deren Beschaffung eine Bereitschaft zur Beschaffungskriminalität voraussetzt.
Ein Ragout mit Sauce Salmi, also aus Wildgeflügelklein und gebunden mit Innereien, würde mit den Kämmen auch gut zusammengehen (so macht es der erwähnte Fuchs).
Man könnte sie natürlich auch im Ganzen in Butter schmoren und auf irgend etwas legen, das konsistenziell nach Hahnenkämmen schreit, Rochenflügel beispielsweise.
Ich hatte halbwegs sensationelle Bio-Karöttchen, Schalotten und ungefähr 24 Flaschen zu viel von einem südsteirischen Gewürztraminer, was mich in ganz andere und neue Bahnen lenkte: Karotten geviertelt und Schalotten halbiert oder wie sie von der Natur in Stücke zerfielen und in einer Mischung aus viel Butter und noch mehr Traminer mit der gesamten Spätlese vom Kräuterkistl am Fensterbrett köcheln, köcheln, köcheln, bis das Gemüse weich ist. Mit weißem Balsamessig beleben, mit nicht zu knapp weißem Pfeffer beschleunigen, mit Koriander parfümieren und durch das Einrühren der in Streifen geschnittenen Hahnenkämme vollenden.
Warum ich die Hahnenkämme nicht im Ganzen in dem Wurzelwerk versenken konnte, ist leicht erklärt: Man schreckt sich gar so leicht beim Anblick eines Hahnenkamms von 15 cm Länge, und ich erwartete Gäste, von denen manche schreckhaft sind.
6. Frage: Was gab es sonst noch an diesem Abend mit Hahnenkämmen?
Eine aus Schweinshaxeln und Schweinsschwänzen gezogene Sulz, Schweinshaxelnudeltascherln und unglaublich schöne Alpenlachse. Aber von denen wollten dann alle nur noch Augen, Häute und Flossenspitzen.
*Alexandre Dumas, Grand Dictionnaire de Cuisine, in Deutsch bei Mandelbaum