Innere Werte

Innereien sind nicht jedermanns Sache. Dennoch oder gerade deswegen scheinen Teile wie Herz, Hirn & Co. für Gourmets wieder interessant zu sein. Eine Geschichte von Anna Burghardt über Hengsthoden, holländische Kalbsleber und Kaviarkutteln.

Innere Werte

Text von Christian Grünwald Fotos von Luzia Ellert und Alexi Pelekanos
Manche Dinge wirken harmloser, wenn man sie elegant umschreibt. So auch die Stierhoden, die bei Max Stiegl unter dem fast herzigen Diminutiv "Herbstschnitzerl" laufen. Der junge Koch serviert sie durchaus passend mit Vogerlsalat, die knusprige Panier bildet einen anregenden Kontrast zur feinen Konsistenz der dünnen Scheiben. Auch die Hoden von Lamm oder Hengst schüchtern weniger ein, wenn sie "Rocky Mountain Austern" oder "Animelles" genannt werden. Letztere werden in Stiegls Küche in Purbach im Ganzen serviert, was sich auf der Karte durchaus eindrucksvoll liest, irgendwie aber das Gegenteil der Verkleinerungsform ist: "Ich war richtig enttäuscht, als ich das erste Mal Hengsthoden in der Hand hatte", lacht Max Stiegl. "Das klingt nach so viel – und dann? Gerade mal so groß!" Er zeigt mit den Fingern eine Spanne von drei Zentimetern und schüttelt den Kopf.
Man wird auf "Gut Purbach" das Gefühl nicht los, dass manche Körperteile von Vierbeinern in der Küche doch gehörig sexuell konnotiert sind. Vor Urzeiten schon wurden Männern bei Hochzeitsmählern Hoden serviert, im Glauben, die Zeugungsfähigkeit zu verbessern und seinen eigenen Status unter seinesgleichen zu heben. Auch das Kamasutra empfiehlt Männern Widderhoden, in Milch und Zucker gekocht. Ironischerweise sind es auf "Gut Purbach" aber die Frauen, die beherzt zugreifen, wenn Hoden auf den Tisch kommen, sagt Max Stiegl. Männer zeigten da durchaus mehr Hemmungen, würden schon einmal danach verlangen, die Hoden aufgeschnitten serviert zu bekommen, da sie sonst doch "zu äh, eindeutig" aussähen. Generell seien aber doch die Männer bei Innereien die Mutigeren. Stiegl provoziert gern, das merkt man auch bei der Lammzunge, deren Spitze er herausfordernd auf einem Wachtelei platziert.
Der junge Koch, seit etwa einem Jahr auch "Gutsherr" in Purbach, gilt als unerschrockenes Talent in Sachen extravagante Tierkörperteile. Er bekomme immer wieder neues Material, sogar aus Portugal, von wo ihm jemand einen getrockneten Kalbspenis geschickt habe, erzählt Stiegl sichtlich stolz. Ein Faible für Innereien und andere Teile wie Kuheuter hat er seit seiner Lehrzeit. Als er im dritten Wiener Bezirk das "Mezzo" bekochte, ging er jeden Tag auf den mittlerweile geschlossenen Landstraßer Markt, der überhaupt als das Innereienparadies schlechthin galt. Frischeste Ware zu fairen Preisen, selbst außergewöhnliche Wünsche wurden dort erfüllt. "Frischer und billiger hat man’s nur gekriegt, wenn man’s selber zusammengeführt hat", grinst Max Stiegl. Überhaupt, dass Innereien so billig seien, hält er für ein Gerücht, Kalbsbries etwa kostet ihn im Einkauf etwa so viel wie Beiried, verdirbt aber viel schneller, weshalb er es auch nicht verkocht.
Stiegls ausgebuchte Innereienmenüs, Paradebeispiele für kreative Tierkörperverwertung, zählen landesweit derzeit zu den außergewöhnlichsten Esserlebnissen: zwölf und mehr Gänge, darunter gebackenes Lammhirn, gesottenes Kuheuter, Ziegenkitz-Rahmherz oder erwähnte Stierhoden. Sogar ein Innereien-Hochzeitsessen richtet er diesen Sommer aus, fünf Vegetarier sind darunter, die anderen Gäste würden außer Hirn alles essen, kündigte man Stiegl an. Beschränkungen gibt es für den wagemutigen Koch sonst aber schon auch einige: Mit Körperteilen, die der europäische Lebensmittelkodex verbietet, etwa Mandeln oder laktierenden, also milchführenden Eutern, fängt er erst gar nicht an. Ebensowenig verlassen bei ihm rohe Innereien die Küche, selbst wenn ein Gast, was schon vorgekommen ist, sich das ausdrücklich wünscht. Denn das gleitet für Max Stiegl doch zu sehr ins Perverse ab. Sexuelle Anspielungen schön und gut, aber zu weit müsse man ja auch nicht gehen.
Adi Bittermann in Göttlesbrunn ist ebenfalls ein enthusiastischer Innereienbefürworter. Er bezieht sein Wissen unter anderem aus vielen alten Kochbüchern, die er von seiner Großmutter geerbt hat, einer Köchin im Haus Esterházy. Schlicht faszinierend findet er die Vielfalt, mit der in den ehemaligen Kronländern, wie in Galizien oder im Friaul, Kutteln oder Leber zubereitet werden, etwa in Kombination mit Fisch. "Da muss man offen sein", meint Bittermann. "Gänseleber ist von der Struktur her so ähnlich wie Jakobsmuscheln, die beiden kann man ruhig auf einem Teller kombinieren." Kulinarische Intelligenz sei wichtig, wenn man Innereien kochen will. "Innereien geben so wahnsinnig viel her, wenn man sich nur ein bisserl mit ihnen beschäftigt", ist er überzeugt. Denn das brauchen Niere und Co. nun einmal. Zeit, Geduld und ein Gespür für Qualität. "Eine holländische Kalbsleber ist zwar riesig, aber wennst mit dem Finger reinbohrst, hast nix in der Hand, das hat einfach keine Substanz." Weil die Innereienküche gelernt sein will, werden auch seine Lehrlinge von Anfang an mit Hirnzuputzen und Leberhäuten konfrontiert. Auch ganze Tiere werden zerlegt, da gibt’s nix, denn die Schulung fängt für Adi Bittermann beim Produkt an. Er versteht irgendwie schon, dass Innereien in der Küche nicht mehr so beliebt sind, denn: "Entweder man muss sie g’scheit putzen, dann dauert’s lang, so wie das Hirn, oder man muss sie ewig kochen, so wie das Bruckfleisch, dann dauert’s auch lang." Und die Zeit nimmt sich einfach niemand mehr, abgesehen davon, dass es in Privatküchen kaum Wissen um die richtige Zubereitung gibt. Auch zeitgemäße Kochbücher gibt es schließlich kaum, unter anderem deswegen, weil Innereiengerichte so schwer appetitlich zu fotografieren sind – darin sind sich Adi Bittermann und Max Stiegl einig – und Kochbücher ohne gschmackige Fotos haben derzeit einfach wenig Chancen auf dem Markt.
Gottseidank zahle es sich für Bittermann aus, sich die Mühe anzutun, denn schließlich kämen viele Leute nur wegen der Innereien zu ihm. Von vielen Frauen fühlt sich Bittermann allerdings wegen ihrer skeptischen Einstellung richtig herausgefordert. "Viele Winzerinnen aus der Umgebung, die zu mir essen kommen, wissen schon, dass ich immer versuche, ihnen irgendwo Innereien unterzujubeln, die rechnen schon damit", grinst er. Wie auch bei Max Stiegl schwingt da ein bisschen Provokation mit. Die Köche spielen mit den Abneigungen ihrer Gäste, mit deren Bedenken und Schamgefühlen. Ihre Ziele sind irgendwie aber auch didaktischer Natur – nach dem Motto: "Ich will den Leuten zeigen, wie aufregend Innereien schmecken können." Indem sie Lebensmittel anbieten, die von den Gästen Mut fordern, forcieren sie auch deren kulinarische Weiterentwicklung. Wer einmal Stierhoden gekostet hat, und sei es nur ein kleines Stück vom Teller des Tischnachbarn, wird draufkommen, dass ein bisschen Draufgängertum ein ganz schön gutes Gefühl gibt. Der Verzehr von Eingeweiden kann nicht nur nach dem Prinzip der Limited Edition als reizvoll bezeichnet werden, sondern gibt auch denjenigen, die sich zur kulinarischen Avantgarde zählen, eine weitere Möglichkeit, sich vom Durchschnitt der Esser abzuheben. "Hagliche", denen vor allem Möglichen graust, ohne dass sie es je probiert haben, werden schief angeschaut, wahre Gourmets sollten hingegen Allesfresser sein, darüber scheint Einigkeit zu herrschen.
Von selbstdiagnostizierten Innereienallergien kann Christian Petz, Küchenchef des "Palais Coburg", ein Lied singen. Wenn er gebeten wird, sich für einen Tisch ein Menü zu überlegen, und sicherheitshalber fragt, ob irgendjemand auf etwas allergisch sei, bekommt er zu 90 Prozent die kategorische Antwort: "Auf Innereien." Auch er meint, dass vor allem Frauen skeptisch gegenüber den oft als zu animalisch empfundenen Aromen seien. "Irgendwie", sinniert Petz, "ist es ja paradox: Man bekommt in jedem Supermarkt tausende aromatisierte Sachen zu kaufen, gleichzeitig werden aber Lebensmittel mit ausgeprägtem Eigengeschmack abgelehnt. Die Angst vorm Geschmack greift immer mehr um sich." Er sieht sich ein bisschen als Kämpfer für die guten alten Traditionen in der österreichischen Küche, kocht gegen den Verfall der kulinarischen Werte an. Zur Erhaltung der Esskultur gehört für Petz auch, das ganze Tier zu verwenden. "Wir haben uns schon so an die sterilen Teile gewöhnt, alles ist sauber zugeputzt, alles sind harmlose, geruchsfreie Fleischstücke, denen man ihre Herkunft am Tierkörper nicht mehr ansieht." Fleisch in abstrahierter Form quasi, ohne eindeutige Funktion. "Vielleicht erinnern Innereien zu sehr an Operationen, an den offenen Bauch und sind deshalb mit Ängsten und Vorbehalten verbunden", meint Christian Petz. Vermutlich werden nicht zuletzt deswegen viele Innereien in der Küche anders benannt, um die ursprüngliche Aufgabe zu verschleiern und den Wechsel vom Organ zum Lebensmittel zu kennzeichnen. Die Etymologie der Eingeweide ist aber so eine Sache: Nur in wenigen Sprachen herrscht Einigkeit über die Bezeichnungen dieser Körperteile. Mit "Animelles" ist manchmal auch Kalbsbries gemeint und was genau das "Gekröse" oder das "Geschlinge" ist, ist je nach Quelle unterschiedlich. Im Amerikanischen zum Beispiel wird die Abneigung gegenüber Innereien sogar in der Sprache deutlich: "Offal" bedeutet auch verfaultes Fleisch. Im romanischen Sprachraum hingegen haben die Bezeichnungen meist keine abfällige Nebenbedeutung, was auch mit dem Essverhalten übereinstimmt. Die Franzosen zum Beispiel liegen mit circa sieben Kilogramm Innereien pro Kopf und Jahr im Spitzenfeld.
Egal wie die einzelnen Teile genannt werden, die Angst vor dem, was Eingeweide nun einmal sind, scheint jedenfalls tief verwurzelt zu sein. In Kochforen im Internet finden sich Tipps, wie man Kalbsbries so zubereiten kann, dass es nicht wie Gehirnwindungen wirkt, oder Kutteln so, dass sie nicht daran erinnern, dass sie Rinderpansen sind. Eine Frage lautet sogar: "Mein Mann möchte nicht, dass ich die Hühnerleber wegwerfe, schmecken tut sie ihm aber nicht wirklich. Wie kann ich sie so zubereiten, dass sie nicht wie Leber schmeckt?"
Für Christian Petz ist es, allen Vorbehalten zum Trotz, nicht zu verantworten, von einem Tier nur die als edel bezeichneten (und oft langweiligen) Teile zu verwenden. Aus Respekt vor dem Lebewesen und dem Produkt gleichermaßen bemüht er sich, in der Küche möglichst viel von einem Tier zu verwerten, wenn es schon getötet wird. Und dazu gehören eben zu einem großen Teil die Innereien. Dass die nicht nur für grobe Zubereitungen geeignet sind, beweist Petz mit seinen subtilen Kombinationen: Kutteln mit Kaviar oder Kutteln mit Venusmuscheln zum Beispiel. "Die Kutteln sind quasi das Aushängeschild unserer Küche", meint er. Viele Gäste suchen bei ihm die Abwechslung. Ins Palais Coburg kommen Feinschmecker, die sehr oft essen gehen. – "Und denen hängt der Steinbutt einfach schon zum Hals heraus."