Kunst kommt von Kochen

Vom Spitzenkoch zum Künstler: Ferran Adrià stellt bei der documenta aus und bei Tisch wird plötzlich über Dekontextualisierung und Materialsymbolik gesprochen.

Kunst kommt von Kochen

Text von Anna Burghardt Fotos: beigestellt
Dass Ferran Adrià auf die diesjährige documenta nicht eingeladen wurde, um den Caterer zu spielen, scheint noch nicht zu allen durchgedrungen zu sein: Noch immer melden sich im Kasseler Hauptquartier Leute mit Reservierungswünschen für einen Tisch.
Der katalanische Superstar wurde vielmehr als erster Koch auf die renommierte Ausstellung berufen, um dort als Künstler mit seinem Werk vertreten zu sein. Diese Einladung schlug in der Gourmetszene ebenso hohe Wellen wie in der Kunstwelt, bedeutet sie doch für beide Bereiche die Sprengung der ohnedies schon porösen Wände. Die Kunst leidet bekanntermaßen schon lang unter dem inflationären Gebrauch ihres Begriffs – auch ein Soufflé gekonnt zu fabrizieren, wird als Kunst bezeichnet. Andererseits war unter Köchen und Köchinnen immer mehr der Trend zu Werken mit hohem ästhetischen und assoziativen Mehrwert zu beobachten.
Das Aufbrechen der Grenze zwischen dem Kochen als rein handwerklichem Akt und dem darüber hinausreichenden Schaffen von Kunst schien also nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Der Leiter der documenta, Roger M. Buergel, hat dies nun getan, hat mit bisher einzigartiger Entschlossenheit einem Koch den Nimbus eines Künstlers verliehen. Was diese Auszeichnung Ferran Adriàs jedoch jetzt und in der Post-documenta12-Zeit für die Gastronomie bedeutet, kann noch nicht abgeschätzt werden. Zu viele Fragen sind offen: Sind nun automatisch alle Köche, die ein wenig "anders" kochen als der Durchschnitt, Künstler? Wohl kaum, Tellermalereien und ähnliche Spielereien folgen schließlich keinem inhaltlichen Konzept, ebenso wenig wie der reflexhafte Einsatz von Pipetten, der derzeit zu beobachten ist. Was ist mit den Jüngern Ferran Adriàs, von denen es ja nicht wenige gibt – Gianluigi Bonelli, Juan Amador, hierzulande Heinz Hanner und wie sie alle heißen? Gelten sie nun auch als Künstler, die sich eben von einem Vorbild Anregungen holen, oder wird ihre Arbeit als "Abkupfern" bezeichnet und analog zur Kunstwelt eher geschmäht werden? Wie revolutionär muss ein Kochstil sein, wie ausgeprägt der konzeptuelle Erneuerungswille, dass sein Protagonist als Künstler gefeiert wird?
Fakt ist, dass Ferran Adrià als Koch begonnen hat und sein Werk erst später von der Kunstwelt entdeckt wurde. Dies macht zumindest die Abgrenzung von der Eat Art leicht, einer Kunstrichtung, die für ihre Werke Lebensmittel als Material wählt. Die Resultate sind dort etwa ein Kopf aus gefrorener Kokosmilch, wie derzeit in der Sammlung Essl zu sehen, oder Bilder, die mit Sauermilch oder Schokolade gemalt werden. Adrià und seine Kollegen hingegen machen noch immer Essen. Freilich ist das Ziel der Spitzenköche nicht mehr allein die Sättigung – aus dem "elBulli" soll schließlich schon so mancher hungriger herausgekommen sein, als er hineinverschwunden ist. Vielmehr sind Ess-Erlebnisse mit hedonistischem Mehrwert das Ziel, ein Anspruch, der seinerseits genauso unter Wertverfall leidet wie der Begriff Kunst. Die zahlreichen ultimativen Ritteressen und andere Highlights aus dem gastronomischen Zirkus belegen dies eindrucksvoll.
Was viele Gerichte von Ferran Adrià (und Kollegen, wollen wir hier doch nicht darüber richten, wer den Titel Künstler verdient und wer nicht) jedenfalls mit Kunstwerken gemein haben, ist die künstlerische Intelligenz, durch die sie entstehen konnten. Dies stand auch für den Documenta-Leiter im Vordergrund, als er die Wahl des katalanischen Kochs begründen musste. Die künstlerische Intelligenz als wichtigstes Auswahlkriterium erleichtert in jedem Fall das Parlieren über die Frage "Kunst oder nicht Kunst" in Sachen Kochen ungemein: Ihre Indizien sind auffindbar, belegbar und beschreibbar. Die Strategien, die Ferran Adrià und Co. anwenden, sind quasi katalogisierbar und vereinfachen kunstbeflissenen Gourmets eine eindruckschindende Expertise – sofern diese auch des Kunstjargons mächtig sind. Die Kulinarikszene tut sich gewiss damit noch schwer, wird sich aber mit dieser neuen Sprache auseinandersetzen müssen. Wenn ein Cocktail etwa in Geleeform serviert wird, so nannte man das bisher – schon nicht wenig eindrucksvoll – "Auflösung des bekannten Aggregatzustandes". Nun aber darf man getrost "Transfer der Produktidentität in einen neuen Kontext" dazu sagen. "Dekontextualisierung" lautet auch das Zauberwort bei Gerichten wie den Eislutschern aus Spargel und weißer Trüffel, die im "elBulli" und in ähnlicher Art in anderen Küchen serviert werden. Bisher eher im Schwimmbadbuffet verankert, wird die Form der Lutscher nun ihrem angestammten Platz entrissen und in die hohen Gefilde der Gourmettempel gebracht. Hierzulande gewiss nicht ganz neu: Im Restaurant "Bauer" in Wien etwa wendet man diese Strategie seit Jahren an: Ein Minileberkäse auf einem Pappteller erfreut dort augenzwinkernd als dekontextualisiertes Bauarbeiteressen die Gäste.
Weitere Parallelen zur bildenden Kunst werden wirklichen Kennern indes nicht verborgen bleiben: "Objet trouvé!", mag man ausrufen, wenn man liest, dass Adrià sich vom Bodensatz eines Fruchtsaftpackerls leiten lässt oder Milchhaut zur Crêpe macht.
Wenn Abfallprodukte zu gleichwertigen Komponenten eines Gerichts werden, wie beim Spanier etwa eine Gelatine aus dem Wasser von Dosenmais, so ist das nicht nur ein gleichsam politisches Statement zur Gleichwertigkeit der Produkte, sondern erinnert auch an die Strategien der Arte Povera. Ein "armes" Material erfährt eine Wertsteigerung, vielleicht eine der meist unterschätzten Errungenschaften Ferran Adriàs, der auch die andernorts entfernten Kerne von Paprika und Tomate zu adeln versteht. Diese Materialsymbolik kommt auch beim viel kopierten Melonenkaviar zur Wirkung, besteht doch der Reiz dieser Kreation nicht nur aus der technisch gewiss faszinierenden Methode des Gelierens. Vielmehr spielt Adrià hier mit der Formensprache des Luxusprodukts Kaviar. Man könnte sagen, dessen allzu arroganzbehaftete Identität werde insofern unterlaufen, als eine Nachbildung aus preisgünstigerem Material ermöglicht wird.
Das Trompe l’œil wiederum, die Augentäuschung in der Malerei, ist in Rufweite, wenn Adrià die Reiskörner für ein Risotto aus Sojasprossenstückchen schnitzt oder die Gäste mit dem falschen Kaviar spielerisch täuscht.
Gerichte können als Kunstwerke bezeichnet werden, wenn sie metaphorisch sind, also in ihrer Bedeutung über den Gegenstand selbst hinausweisen. Ein Schnitzel in einem Wirtshaus ist ein Schnitzel ist ein Schnitzel ist ein Schnitzel. Für Adriàs "Gegrilltes Gemüse" hingegen wird aus Paradeiser und Co. ein Extrakt gewonnen, dieser in die Form von Gemüsestreifen "zurückgeliert" und als Reminiszenz an das Ursprungsgericht noch Holzkohleöl darübergeträufelt. Dieses Gericht ist mehr als sein schlichter Name verrät. Es ist ein Spiel mit der Frage, was die Identität einer Speise ausmacht. Ist ein Hühnercurry noch ein Hühnercurry, wenn es zwar aus denselben Zutaten besteht, aber als Schaum und Gelee serviert wird? Es ist auch ein Spiel mit der Sprache, mit den Namen. Und auch das kennen wir wiederum aus der Kunst.
Freilich könnte man sagen, die kunstbezogene Diskussion über Essen sei Humbug, sei nichts als Wortgeschäume. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass die Werke aus der Küche ein gewaltiges Potenzial an Bedeutung haben. Ein Potenzial, dem man allerdings nur mit Worten auf die Schliche kommt. Die Substanz von Speisen birgt mehr, als bisher zur Kenntnis genommen wurde, mehr als aromatische oder haptische Aspekte. Durchkomponierte Gerichte unterliegen stilistischen Konzepten, die genauso knifflig erscheinen können wie die anerkannter Kunstwerke.
Ferran Adrià auf der documenta, das ist etwas, was noch größere Kreise ziehen wird als bisher angenommen.