Man nehme

Warum manche Rezepte funktionieren und andere nicht, Kochbuchfotos meist besser aussehen als das nachgekochte Original und was Redzepi mit „Braunschlag“ gemeisam hat.

Text von Eva Rossman

Sonntagmittag ist jeder Platz besetzt, und die Oma will statt der Brat­erdäpfel lieber Reis, während die Schwiegertochter in einer schwierigen Phase ist und nun neben ihrer üblichen Laktoseunverträglichkeit auch mit Weizengluten Probleme hat.
Wenn ich aus der Küche rausrenne, dann nur, um ein paar Teller zu servieren, auf dass Platz ist, um neue anzurichten. Manchmal wird man trotzdem gestoppt.

„Die Schoko-Marquise war hinreißend – ich brauche unbedingt das Rezept!“

Ich bemühe mich um ein Lächeln und teile der Hingerissenen mit, dass das Rezept in mehreren der Buchinger-Kochbücher zu finden sei.

„Ja, aber da steht sicher nicht alles drin“, kriege ich zur Antwort. „Vielleicht kann mir ja der Meister persönlich …“

Der Meister persönlich steht in der Küche und schwitzt wie ich. „Er hat keine Geheimnisse“, lächle ich weiter. „Zumindest nicht, was seine Rezepte angeht.“

„Können Sie mir sagen, wie man dieses köstliche Schokodings macht?“

„Später!“, bitte ich mit einem Blick auf Walter, der gerade im Akkord in die Bonier-Maschine getippt hat. Wenn ich schnell genug bin, dann bin ich gleichzeitig mit dem sicher meterlangen Bon aus dem Küchendrucker wieder beim Herd.

Im Abgang ernte ich einen listig-mitleidigen Blick. Motto: Die weiß offenbar auch nicht alles!

Damit hat unsere Marquise-Liebhaberin zwar grundsätzlich recht, nicht aber, was unser Dessert angeht. Denn das ist wirklich genau so, wie wir es machen, im Kochbuch drin.

Das vielleicht größte Geheimnis ist: In Profiküchen gibt es viel weniger Koch-, Küchen- und Rezeptgeheimnisse als viele vermuten. Die paar Rezepte, die wir vor allem für Desserts brauchen, liegen als ziemlich speckige Einzelblätter in einem alten Plastikbehälter gleich neben dem Kristallzucker zum Karamellisieren. Für Spezialfälle gibt’s den alten Duch (Handlexikon der Kochkunst). Wenn etwas daheim Nachgekochtes trotzdem anders wird, dann kann das mehrere Gründe haben: nicht exakt die gleichen Zutaten, nicht genau gewogen, nicht die gleichen Maschinen, ein anderes Timing, zu viel Gehorsam und zu wenig Intuition, zu viel Intuition und zu wenig Gehorsam, der Stand des Mondes, überhaupt mieses Kochkarma. Oder: Man hat sich am wunderschönen Kochbuchfoto orientiert und ist jetzt entsetzt über das Realbild der Kreation. Kochfotos haben nämlich schon ihre Geheimnisse. Mit Lack oder zumindest Wasser angesprühte Stellen, wundersames Spitzlicht auf die kokett aufgerichtete Deko, nicht fertig gegartes und daher knackig-grünes Gemüse, stundenlang hin- und hergeschobene Kräuter, bis sie wie zufällig perfekt gefallen wirken.

Ach ja, oder: Es handelt sich um ein Rezept, das sowieso nie funktioniert, weil es keiner je genau überprüft hat. Heute muss ja jeder, der einen Löffel halten kann, ein Kochbuch schreiben. Ja. Ich hab auch schon eines gemacht. Wobei mir erst im Nachhinein klar geworden ist, wie meine großartige Lektorin Eva-Maria gelitten haben muss. Weil: Erstens ist sie Vegetarierin. Zweitens hat sie als Tochter eines Südtiroler Hotel­besitzers die Gastgewerbeausbildung machen müssen. Danach ist sie an die Wiener Uni und zur deutschen Sprache geflohen. Und drittens ist sie unglaublich genau. Ihr entgeht kein fehlendes Salz, keine Mengenangabe, bei der sich eine Null zu viel eingeschummelt hat. Und dann hab ich ihr noch im Kapitel „Karibik“ ein Rezept für Leguan angetan. Solche Tiere zu essen, geht bei ihr einfach nicht. Ich für meinen Teil finde ja Lämmer deutlich sympathischer als Echsen mit Riesenmaul, aber ich habe es ihr zuliebe dann doch gestrichen.

Gewisse Dinge verlieren sich sowieso. Heutzutage gibt man in der Karibik ja nicht einmal mehr Rezepte für „Mountain-Chicken“ (einen angeblich sehr schmackhaften Riesenfrosch) von Generation zu Generation weiter.

Mir tut es übrigens immer noch leid, dass ich Omas Rezept fürs gefüllte Hendl nicht rechtzeitig erfragt habe. Es war einzigartig. Jedenfalls in meiner Erinnerung. Und um diese ziemlich subjektive Wahrnehmung geht’s ja bei vielen Überlieferungen. Zum Glück weiß ich wenigstens, dass sie ihre Vanillekipferl immer mit Walnüssen und Margarine gemacht hat. Kein Problem, es zu erzählen. Ihre weltmeisterlichen Kipferln sind ja zum Glück bloß Privatsache und nicht Mittelpunkt einer jener Gastronomie-Dynastien, die sich, wie wir es ja auch von Dynasty-Soaps aus dem Fernsehen kennen, teilen, gegeneinander ausspielen und rechtzeitig zum Geschäft wiederfinden.

Der Streit um die einzig wahre und echte und originale Sachertorte hat sich über Jahrzehnte und einen Weltkrieg hingezogen. Weil der Eduard Sacher zum Demel gegangen ist und die Hotel-Nachfolger mit seiner Torte geworben haben. Da ging es in Prozessen wirklich um die Frage, ob sie in der Mitte durchgeschnitten und mit Marmelade gefüllt werden darf. Irgendwann hat man das dann so beigelegt, dass Demel und Sacher daran verdienen konnten. Worauf in den Neunzigern Sachertorten-Streit Nummer zwei entbrannte. Allerdings soll man die Kontrahenten durchaus einträchtig in Hamburg sitzen gesehen haben. Ist es gar möglich, dass da gar nicht das Rezept, sondern das Marketing im Mittelpunkt gestanden ist?

Jedenfalls: Das original Sachertortenrezept ist weiterhin geheim. Und es findet sich natürlich in „Das große Sacher-Kochbuch“ von Franz Maier-Bruck. – Oder steht es inzwischen doch im „Kronen-Zeitung-Kochbuch“?

Egal. Ich gehöre jedenfalls zur Gruppe der Kochbuch-Freaks. Keine Ahnung, wie viele ich davon habe. Die meisten sind für mich ohnehin eher anregendes Lesebuch als Zubereitungsanleitungen. Sie reichen von der Rezeptsammlung des Frauenvereins von Basseterre bis hin zum wohl schwergewichtigsten Kompendium der Küchengeschichte, der „Modernist Cuisine“: Mehrere Wälzer in einem Plexiglas-Kasten, der locker als Beistelltisch fungieren kann. Sein Autor Nathan Myhrvold war mit dreiundzwanzig Doktor in mathematischer und theoretischer Physik, nach einem Zwischenstopp am Institut von Stephen Hawking hat er eine Softwarefirma aufgebaut, sie an Microsoft verkauft und arbeitete dann dort als Cheftechniker und Chefdenker. Und er ist Hobbykoch. Er versteht sein Monsterwerk als Neudefinition der modernen und wissenschaftlichen Art zu kochen. Den Begriff „Molekularküche“ mag er freilich gar nicht, und allein dafür bin ich ihm als Physikliebhaberin dankbar. Seinen Burger, für den er mehr als einen ganzen Tag Zubereitungszeit veranschlagt, hab ich trotzdem noch nie ausprobiert.

Jetzt gibt’s als sozusagen kleinen Ableger die „Modernist Cuisine at Home“. Würde ich den Hauptband im Bett am Rücken liegend lesen und dabei einschlafen, hätte ich danach trotzdem zumindest eine gebrochene Nase. „Hausfrauenausgabe“ sagt Buchinger dazu. Weil natürlich hat auch er das Megawerk (und auch sonst übrigens noch viel mehr Kochbücher als ich). Interessant ist, wer von unserer Belegschaft darin liest und wer nicht. Klar, nicht alle Köche haben es so mit den vielen Buchstaben. Noch dazu, wo es im Fernsehen täglich mehrere coole und weniger coole Kochsendungen gibt. Wir hatten einen, der hat die Experimentalküche sicherheitshalber gleich per se als Blödsinn abgetan. Er kann Knödel. Und die wirklich gut. Mo, der eigentlich Moritz heißt und Lehrling ist, steht hingegen auf alles, was mit Kochen zu tun hat, also auch auf alles Neue. Er hat einen Satz Pinzetten, liebt Tupfen, die er dann wie die Großen als Sauce ausgibt. Mit einem neuen Sous-vide-Gerät, Pacojet oder Thermomixer ist er glücklich. Und er macht uns Freude, selbst wenn ich das besser nicht schreiben sollte, denn er pendelt so irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. – Allerdings: Wann, wenn nicht mit siebzehn?
Viel Spaß hatte ich mit ihm schon, als er vierzehn war und bei uns geschnuppert hat. Damals hat er den Buchinger nach einem Rezept gefragt. Buchinger hat sich übers Interesse gefreut und es ihm genau erklärt. Worauf Mo ihn mit seinem einzigartigen Blick angesehen und geantwortet hat: „Interessant. Ich mache das ganz anders.“

Ganz anders sind übrigens gewisse Rezeptanleitungen. Um unseren neuen Kombi-Ofen samt Touch-Funktion, USB-Stick und Signaltonauswahl (Wir haben eine Schiffshupe gewählt, und wann immer sich unser gutes Stück meldet, ruft Buchinger: „Meine Jacht legt an!“) zu verstehen, ist es sinnvoll, im Internet die Gebrauchsanweisung samt praktischen Kochbeispielen zu lesen. So habe ich endlich erfahren, wie es vor allem in Deutschland gelingt, etwas, das sich „Wiener Schnitzel“ nennt, als trockene Fleischsubstanz mit zäher Bröselbrotkruste zu servieren. Die Lösung: Man legt das Ding fixfertig paniert tiefkühlfrisch und mit irgendeiner Substanz, deren Namen ich vergessen habe, besprüht in den Ofen. Mahlzeit. Nette Hinweise findet man in solchen Online-Büchern ebenso zum Auftauen, Aufbacken, Regenerieren. Trotzdem: Man darf noch kochen.

Auch wenn das neueste Buch von Redzepi (nein, kein Künstlername nahe am Rezept, der Typ aus dem Noma heißt wirklich so, weil er einen albanisch-mazedonischen Vater hat) „Cook it raw“ heißt. Was auf Deutsch als „Manifest der rohen Küche“ übersetzt wurde. Weil der angeblich weltbeste Koch nicht bloß irgendein Kochbuch machen kann. Es muss schon ein „Manifest“ sein. Ernst und heilig.

Dabei ist die Idee von Redzepi ziemlich witzig: Er ist mit ein paar Spitzenköchen durchs dänische Gebüsch geschlichen und hat versucht, neue gute Dinge zum Essen zu entdecken. Motto: Regional, regionaler, am regionalsten. Ein wenig erinnert mich diese Eskapade an eine Folge meiner Lieblingsserie „Braunschlag“, in der ein durch alle möglichen Professionen zum Koch gewandelter Typ alle zum ultimativen Dinner in den Wald einlädt. Das Schwammerl pur, angerichtet auf einem Altarstein, ein Kräutlein dazu, und der Gastronomiekritiker hat ihm gemeinsam mit der Gästeschar als neuem Koch-Messias gehuldigt.

Redzepis Rezepte werden wohl häufiger gekauft als gekocht. Eine Ausnahme ist ein erstaunlicher Freund und Gast, der mit wahrer Leidenschaft das Schwierige sucht und uns tatsächlich Köstliches serviert. Modern, modernist oder nicht: Ich frage mich schon, warum man genau 14,73 Gramm Zucker 325 Minuten lang bei 47,8 Grad schmelzen lassen muss. Wurde da einfach übersetzt und von Unzen umgerechnet? Hat man ein Kantinenrezept für 100 Portionen ausdividiert? Hat der geschätzte Verfasser Anteile an einer Präzisionswaagen-Firma?

Da lobe ich mir schon eher als anderes Extrem den Becherkuchen. Arme Dealer mit tausenderlei Must-have-Geräten! Überflüssige Ess-Labore! Ein Joghurtbecher reicht. Da wird alles abgemessen, danach wird alles zusammengerührt, gebacken und fertig. Mit ein paar Beeren aus dem eigenen Garten, frisch gepflückt, ganz wie es Abenteurer Redzepi liebt: ein Gedicht!

Dass bisweilen weniger mehr ist, zeigt auch folgende Buchinger-Geschichte, die ihm einer der Großmeister der elsässischen Kochkunst erzählt hat. Dessen Chef hat den jungen Köchen die Vorbereitung seiner überall berühmten Gänseleberterrine gestattet. Sie durften sie schälen, Äderchen rausholen, ausbreiten, leicht darübersalzen und sie kalt stellen. Aber niemand sollte wissen, wie der Meister sie vollendet. Dazu ging er ganz allein in den Kühlraum. Erst als er in einem Alter war, in dem man alles erzählt, was man noch weiß, hat er es seinem inzwischen längst arrivierten Nachfolger gestanden: Er hat die ausgebreitete Gänseleber genommen, sein Brustfläschchen Cognac darübergeleert, hat sie zusammengerollt und gepresst. Die Kunst war, nichts Überflüssiges dazuzutun.

Eva Rossmann war Journalistin, ehe sie mit den Mira-Valensky-Krimis zur Bestsellerautorin wurde. Daneben arbeitet sie als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule.