Originale

Warum es total egal ist, wer welches Rezept erfunden hat

Originale

Text von Eva Rossmann Illustration: Tim Möller-Kaya

Ein lauer Abend. Gerade eben bin ich der Küche in Buchingers Gasthaus "Zur Alten Schule" entfleucht und genieße meinen Gespritzten auf der Terrasse. Zwei Frauen nähern sich, beide ein Buch in der Hand. Ich suche nach einem funktionierenden Kugelschreiber – leider vergesse ich meistens, sie aus meiner Kochjacke zu entfernen, bevor ich sie in die Waschmaschine gebe –, finde nur zwei, die nicht schreiben und lächle ihnen zu. Signieren gehört für eine Autorin nun einmal dazu wie für die Köchin Schnittlauch auf der Suppe. Tatsächlich wollen die beiden eine Widmung. Sie haben auch einen Kugelschreiber mit und die eine lächelt, sie finde es nett, dass in meinen Krimis auch immer gekocht werde. Da hätte sie aber noch eine Frage: "Sind die Kochrezepte von Ihnen?" Und die andere fügt kein bisschen weniger freundlich hinzu: "Oder haben Sie die vom Buchinger? Oder schreiben Sie die ab?"
Ich nehme einen großen Schluck Spritzwein und hole Luft. Doch, die Rezepte seien schon von mir. Teilweise auch vom Buchinger, zumindest gäbe es das eine oder andere Ähnliche auch in seiner Küche. Und abgeschrieben habe ich sie nicht, allerdings sei es trotzdem möglich, dass das eine oder andere, was meine Mira im Krimi zubereitet, bereits in einem Kochbuch stehe. Gutwillige Ratlosigkeit im Blick meiner beiden Leserinnen. Was jetzt also? Ist diese Rossmann doch eine, die unbedacht, vielleicht sogar bedenkenlos, das klaut, was große Köche und Köchinnen im Schweiße ihres Angesichts erfunden haben? Ich versuche ihnen klarzumachen, dass es beim Kochen kaum mehr etwas gibt, das erfunden werden kann. Die karamellisierte Zwiebelcreme aus dem letzten Krimi ist sicher schon irgendwo einmal von irgendeinem zubereitet worden. Wenn ich Glück habe, wenigstens nicht mit geräucherten Austern. Trotzdem bilde ich mir ein, das Rezept noch nirgendwo gelesen zu haben. Ob es nicht klug wäre, auf jedes neue Rezept ein Patent anzumelden, fragt die eine – es soll ja Kochbuchschreiber geben, die nehmen, was sie kriegen können.
Lange, lange bevor ich meine Kochprüfung bestanden habe, wurde ich Doktorin der Rechtswissenschaften. Brösel alten Wissens treiben in einer Ecke meines Hirns zusammen und ich erkläre, dass es für die Anmeldung eines Patentes gewisser Voraussetzungen bedarf: Nämlich die einer originären Erfindung und ihrer kommerziellen Verwertbarkeit. Urheberrechtsschutz gäbe es aber schon, überlege ich weiter. Allerdings könne sich der wieder nur auf veröffentlichte Rezepte beziehen. Wobei zu überlegen wäre, ob in diesem juristisch-kulinarischen Sonderfall darunter auch der Verkauf eines Gerichtes in einem öffentlich zugänglichen Lokal zu verstehen wäre … Die beiden raffen ihre Bücher und den mir vorübergehend geliehenen Kugelschreiber an sich und fliehen unter höflichen Danksagungen. Ich bleibe mit meinem halbvollen Gespritzten zurück.
Da gab es doch diesen berühmten Streit um die Original-Sachertorte. War aber auch zu blöd, dass Eduard Sacher ausgerechnet im Demel seine Lehre gemacht und dort die Sachertorte eines Vorfahren vollendet hat. Jedenfalls zog sich der Rechtsstreit über drei Jahrzehnte und endete mit einem Vergleich: Demel bekam die "Eduard-Sacher-Torte" und das Sacher die "Original-Sacher-Torte". Eine hat eine Marmeladeschichte in der Mitte, die andere nur eine unter der Glasur. Wobei es in diesem erbitterten Streit wohl weniger um die Marmelade, die Familien- und Firmenehre, sondern wohl in erster Linie ums Geld ging. Apropos: Vor nicht allzu langer Zeit gab es zwischen einem Kurzzeiteigentümer des Demel und der Sacher-Lady Gürtler eine Neuauflage dieser Auseinandersetzung. Wie aus ziemlich gut informierten Kreisen durchsickerte, war sie allerdings ein Werbegag – ausgeschnapst in einem deutschen Gourmetlokal. Die Sache ging auf. Es hat im Blätterwald gerauscht und Sachertorten geregnet.
Jedenfalls: Menschen mögen Originale. Irgendwie feiner, das Echte als das Nachgemachte zu haben. Wobei die Sorge, dass etwas original, besser noch neu, nie da gewesen, einzigartig sein soll, gerade in der Küche eigenartige Blüten treibt. Im Bewusstsein, dass sich kaum noch etwas erfinden lässt, entstand wohl auch das, was jetzt als "Molekularküche" bezeichnet wird. Als bestünde ein Schweinsbratl nicht auch aus Molekülen, als müsste es sich nicht auch der chemischen Maillard-Reaktion unterwerfen, um zu seiner Kruste zu kommen, als hätten nicht schon Köche und Köchinnen vergangener Jahrhunderte darauf geschworen, dass ihr Bratl niedertemperaturgegart besonders zart schmeckt. Okay, damals hat man "warmhalten" dazu gesagt. Neu an der neuen Küche ist in erster Linie die verwendete Chemie – und diese diversen Texturen werden natürlich patentiert. Kann es sein, dass sie gerade deswegen entstanden ist? Wegen ihrer besseren kommerziellen Verwertbarkeit? Als Krimiautorin könnte ich da einiges vermuten … aber zum Glück bin ich auch Köchin und als solche denke ich mir einfach, dass wir eben neugierig sind, in unseren Breiten zum Glück nicht nur an Sättigung, sondern auch an Geschmackserlebnisse denken dürfen und ständig auf der Suche sind.
Die hat wohl auch dazu geführt, dass vor einiger Zeit alle Köche, die kreativ genannt werden wollten, ihre Neigung zu Kombinationen von Meerestieren mit Kutteln, Grammeln, Innereien entdeckt und ausgelebt haben. Im besten Fall war’s interessant. Andererseits: Tatar vom Wildkarpfen auf Kalbsbries mit Chili-Vanille-Schaum. Klingt gar nicht übel. Habe ich soeben erfunden. Hab ich? Was weiß ich, wer auch das schon gemacht hat? Irgendwo im Schwarzwald, wo sie letztes Jahre eine Haube und fast einen Stern bekommen hätten, oder in diesem kaum zu findenden Lokal im Mailänder Industrieviertel – nein, da wäre es wohl eher ein Jakobsmuscheltatar. Würde ich dem Buchinger davon oder von einer weit besseren, ausgefallenen Idee erzählen, könnte die Antwort allerdings lauten: "Intercontinental Hannover 1979, haben wir damals gemacht, damals war ich noch in dieser Phase …" Verspielt ist er allerdings immer noch, das kann sich kein Koch mit Fantasie abgewöhnen. Nur dass sich seine Urheberrechtsdiskussionen eher auf Regionales beziehen. Zum Beispiel auf "Mutters legendäre Wurstkrapferl". Irgendwann kam einer aus einem Nachbarort und hat gemeint, die Wurstkrapferl, die habe keinesfalls die Buchinger-Mutter erfunden, die habe es bei ihnen daheim auch immer wieder gegeben. – Weil’s seine Mutter von der Buchinger-Mutter abgeschaut hat? Oder umgekehrt? Die allererste Wurstkrapferlerzeugerin wird sich nicht mehr erkunden lassen. Tatsache ist, dass diese Wurststücke in einer Art Palatschinkenteig in der Gegend verbreitet waren und inzwischen weitgehend verschwunden sind. Bis eben auf das Lokal vom Buchinger. Weil sie sein Lieblingsessen als Kind waren. Jedenfalls: In einer Zeit, in der jeder, der einen Kochlöffel halten kann, irgendetwas an irgendetwas zu irgendetwas auf irgendetwas in irgendetwas kombinieren muss und dann auch noch den Tellerrand mit totgetrockneten Kräutern, Salzen oder industriellem Lack (finde ich total ehrlich, dass das jetzt wirklich so bezeichnet wird) verziert, in einer Zeit, in der selbst in biederen Provinzgasthäusern mancherlei Undefinierbares als Schäumchen, Carpaccio, Risotto (womit wir beim Gegenteil von original wären: der Reispampe) bezeichnet wird, in der begabte Spitzengastronomen als innovativ gelten wollen, indem sie sechs verschiedene Komponenten, fünfzehn verschiedene Geschmäcker zu einem Gericht patchworken, ist mir die neue (oder alte) Schlichtheit lieber als verkrampfte Originalität. Jörg Wörther wurde einst für ein schlichtes Gericht mit dem "Rezept des Jahrzehnts" ausgezeichnet: Sellerieravioli. Neu und innovativ, allerdings: Zehn Jahre vorher konnte man sie bei Rob Kranenburg in Amsterdam essen. Haben da einfach zwei Köche dieselbe Idee gehabt? Buchinger, den irgendein Gastronomiejournalist einmal als "Andy Warhol der Küche" bezeichnet hat, geht davon aus, dass so gut wie alles schon einmal da war: Zu viel kann er herleiten von Escoffier und Bocuse und Robuchon (bei dem er sogar einmal gekocht hat). Trotzdem: Unseren Kokos-Chili-Röhrndiab gibt’s anderswo nicht. – Okay, die Forschergemeinschaft Buchinger-Buchinger-Hauer-Rossmann ist in der Karibik auf eine Blunzen mit Chili gestoßen und die haben wir dann in anderer Form ins Weinviertel exportiert. Aber was ist mit den Saushi? Jener Japan-Persiflage, bei der Kraut mit feinem Schinken umwickelt und sushiartig serviert wird? Ein echter Buchinger! Na gut, bis auf den Namen. Der ist meinem Mann eingefallen. Und dem Umstand, dass wir den Saushi in einem anderen Lokal begegnet sind. Aber sie waren damals schon in Buchingers Kochbuch. Ihre Vorläufer waren übrigens die Erdäpfel-Sushi. Und die sind auch von ihm. Hat er vor Jahren im Intercontinental entwickelt. Also, klar: Original-Saushi-Erfinder ist Manfred Buchinger. Ich stelle es ins Internet.
Über die Erfindung des Tiramisu gibt es dort schon jetzt lange Abhandlungen. Ich habe ja eigentlich gehört, dass es in den Achtzigern in Deutschland erfunden wurde und konnte das gut glauben. Dem Internet aber entnehme ich, dass es 1970 im Restaurant "Alle Beccherie" in Treviso entstanden ist. Behauptet die Webseite von "Alle Beccherie" und weist stolz darauf hin, dass die Originalform die einer runden Torte sei und dass es zuerst "tira me sú" geheißen habe. Eine Geschichte, die von der Gastronomiejournalistin Anna Maria Volpi über viele, viele Internetseiten bis hin zu Wikipedia getragen wurde. Dann freilich kam ein Amerikaner mit viel Zeit dahinter: Der eigentliche Erfinder lebe in Baltimore, trage den schönen Namen Carminantonio Lannaccone und habe einst ein kleines Lokal in Treviso gehabt. Er selbst sehe sich nicht als großen Entdecker, er habe ja bloß ein Dessert erfunden und nicht das Telefon. Er habe es einem Schwager gegeben, der habe dem "Alle Beccherie" das Rezept verkauft … und außerdem habe sich das neue Dessert sehr, sehr schnell verbreitet. Vor kurzem war ich in Treviso und eilte sofort zum "Alle Beccherie": Überall habe ich auf Hinweise nach dem ersten aller Tiramisu gesucht – und keinen gefunden. Nicht einmal auf der eher traditionell venetisch orientierten Speisekarte. Warum das Lokal seine Erfindung nur im Internet preist? Vielleicht, weil es in Treviso so einige gibt, die das Tiramisu erfunden haben? Oder zumindest wissen, dass es nicht die von "Alle Beccherie" waren? Der Cyberspace eröffnet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten – auch für kulinarische Legendenbildung. Und sollte ich noch einmal gefragt werden, ob ich die Rezepte in meinen Krimis selbst erfinde, werde ich einfach fragen: Sind sie gut?