Rohe Sitten

Ceviche, 42 °, fermentiert: Das dritte Jahrtausend beginnt kühl und roh. Kochavantgarde wie Gesundheitsapostel sehen im Rohen ihre Chance – und haben einen neuen Fetisch. Über Brokkolibrösel, Vakuum-Rhabarber und Londoner Speisekartentrends.

Text von Anna Burghardt Foto Satoshi Nagare

Die ersten sieben Gänge nur rohe Kräuter! Es hat doch bitte einen Grund, warum Kühe vier Mägen haben und wir nicht.“ Dieser Kommentar zum „Noma“, aus dem Mund eines selbst preisgekrönten Küchenchefs, ist nur einer von vielen, in denen das skandinavische Küchendenken über das Rohe kritisiert wird. Das Rohe als das Böse. Auch Statements wie „Welcher Wahnsinnige soll rohes Rinderherz essen?“ oder „Serviert rohe Wurzeln und nennt sich Koch!?“, ganz zu schweigen von rohen Ameisen und gar lebenden Garnelen, stehen exemplarisch für den Unmut, den René Redzepi und seine Mitstreiter aus dem Norden Europas wie Magnus Nilsson in den letzten Jahren mit dem Rohen in ihren Gerichten hervorgerufen haben. Das Rohe steht in dieser Kritik für Ekel, ebenso wie für Unkultur und Verarschung jener Gäste, die Kochkunst anders definiert haben wollen als die in ihren Augen freche Taktik „nimmt etwas und legt es mir einfach unverändert um viel Geld auf den Teller“. Umgekehrt dient das Rohe Avantgardisten und wagemutigen Foodies, die schon alles kennen, als Distinktionsmerkmal: Wer Dinge roh isst, die das gemeine Volk oder die gern als Metapher dienende Großmutter nie roh verzehren würden, seien es gehobelte Maroni, Karfiol, Jakobsmuscheln oder gehacktes Rentierherz, hat den anderen etwas voraus. Durchgebraten ist für Banausen, Auskenner essen rare bis roh.

Der Anthropologe und Begründer des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, hat in den 1960er Jahren über „das Rohe und das Gekochte“ (wie der erste Band seiner „Mythologica“ über die Bororo-Indianer heißt) den Übergang von Natur zu Kultur definiert – aus dem Blickwinkel der „Noma“-Kritiker von Unkultur zu Kultur. Mit seinem skizzierten „kulinarischen Dreieck“ arbeitete Lévi-Strauss heraus, dass es kulturelle Handlungen sind, die aus rohen Lebensmitteln etwas Gekochtes machen, während das Verrotten die Transformation durch die Natur sei. Wir Menschen würden also erst durch das Kochen – in seinem Denken ist das die Arbeit mit dem Feuer – zu kulturellen Wesen. Peter Weibel fasste Lévi-Strauss’ Gedanken so zusammen: „Gewissermaßen wächst mit der Höhe der Temperatur in der Küche die Höhe der Kultur. Kultur hat etwas zu tun mit der Temperatur der Nahrungsmittel.“

Dieses Schema lässt sich auf die Küche dieses Jahrtausends nicht anwenden. Wir essen womöglich noch roher – weil breiter gefächert roh – als zu Beginn der Menschheitsgeschichte. Und halten uns dennoch, oder vielmehr gerade deshalb, für höchst kultiviert. Ein paar kulinarische Stichworte der letzten Jahre reichen fürs Erste aus, um die Rohheit des dritten Jahrtausends aufzuzeigen: Beef Tatar. Ceviche. Fermentation. Sashimi. Green Smoothies. Raw Cuisine – 42 °C.

Diese internationalen Trends lassen trotz der niedrigen Verarbeitungstemperatur schwerlich auf Naturvölker schließen. Das zeigt nicht nur die hochelaborierte japanische Küche mit ihrem starken Einfluss auf andere Kochstile, sondern auch das Beispiel der Fermentation: Wenn Spitzenköche wie Jonnie Boer vom niederländischen Restaurant „De Librije“, Magnus Nilsson vom schwedischen „Fäviken“ oder Heinz Reitbauer vom „Steirereck“ unermüdlich mit Fermentationstechniken experimentieren, einer durch und durch rohen, kalten Verarbeitung, wenn sie teilweise akribisch Rückstellproben von zuvor noch nicht fermentierten Gemüsen archivieren und Notizen führen, muss man von höchst kulturellen Handlungen sprechen. Das Verrotten ist nicht mehr eine reine Transformation durch die Natur, also der Gegenpol zum Kochen, wie Claude Lévi-Strauss meint, es ist heute eine durch kulturelle Handlungen in Bahnen gelenkte und zu höheren Weihen gelangte Transformation.

Die Wiederentdeckung der Fermentation beziehungsweise des milchsauren Vergärens – Sandor Katz in den USA ist der Vater dieser Welle – war in den letzten zwei, drei Jahren überhaupt die wohl stärkste Veränderung in der Küche im Spannungsfeld roh/gekocht. Lebensmittel, vorrangig Gemüse, aber auch Obst oder Fleisch, werden ohne Erhitzen in einen anderen Zustand versetzt. Sie bleiben roh, was etwa bei Quitten etwas wirklich Neues ist, und verändern sich dennoch eklatant: unter Luftabschluss, mithilfe von „guten“ Bakterien, die den enthaltenen Zucker in Milchsäure umwandeln und völlig neue Aromaspektren und Konsistenzen eröffnen – so, wie es sonst heiße Zubereitungsarten wie Grillen, Sieden, Backen tun. Diese Veränderung ohne Erhitzen, ohne Herd, also die Transformation im rohen Zustand, war es, was diese Methode für die vielen Fermentierfreudigen so spannend machte – diese herb-prickelnden, zart-gärenden Aromen waren neu.
Ebenso neu war es für Nicht-Peruaner, dass man rohen Fisch mit Säure kalt garen konnte, Stichwort Ceviche. Die Zitrussäure zersetzt das Eiweiß, der Fisch wird milchig und verliert seine Glasigkeit, bleibt aber geschmacklich eindeutig roh – ein spannender Kon­trast. Das steigende Interesse an den südamerikanischen Küchen zeitigte auch auf anderen Kontinenten diverse erfrischende Experimente mit Ceviche: Abseits des Klassikers Limette-Koriander-Zwiebel wird der gewürfelte Fisch mit neuen, oft sauren Zutaten wie Maracuja, Sanddorn oder Fermentiertem kombiniert oder, im Sinne der japanisch-peruanischen Einwandererküche Nikkei aus dem 19. Jahrhundert, in Scheiben geschnitten mit Yuzu, Soja oder Miso. So gelangte roher – wiewohl doch irgendwie gegarter, weil zersetzter – Fisch auch in anderer Form als die schon länger bekannten Sushi und Sashimi auf westliche Speisekarten: etwa in Martin Morales’ optisch unspektakulärem, aber lange ausgebuchtem Lokal „Ceviche“ in London, im japanisch-peruanischen „Pakta“ in Barcelona, dessen Nikkei-Ausrichtung von Albert Adrià konzipiert wurde, oder in zahlreichen weiteren Restaurants wie dem brasilianisch-japanischen „Sushi Samba“ in New York, das auch dank seiner ethnischen Bevölkerungsstruktur mittlerweile eine Ceviche-Hochburg ist. In London wiederum ist gerade zu beobachten, dass Restaurants wie das „City Social“ oder das „Artusi“ ihre Speisekarten nicht in die Rubriken Vorspeise, Hauptspeise und Dessert einteilen, sondern in „raw“, „boiled“ und „fried“, „Crudo“, „Pasta“, „Main“ oder „uncooked“ und „cooked“, was das Rohe als neuen Fetisch für Foodies herausstreicht – auch für solche, die mit der ideologisch verdächtigen Raw Cuisine nichts am Hut haben.

Deren Verfechter huldigen dem Rohen aus gesundheitlichen Gründen: 42 °C gilt als Obergrenze für das Erhitzen beim Kochen – vielleicht, damit theoretisch auch im Wüstenschatten Raw Cuisine möglich ist. Unter diesem magischen Temperaturlimit behalten Lebensmittel in den Augen der Raw-Community alle Nährstoffe. Die Raw Cuisine ist nicht unbedingt etwas Neues, sie erlebte schon einmal eine Hochblüte: in den 1970ern und 1980ern, freilich unter dem weniger glamourösen Namen Rohkost. Mit klobigen Sellerie- und Karottensticks und fadem Sprossenkuchen hat die heutige hundertprozentige Rohküche nicht mehr allzu viel gemein – den Entwicklungen in der Küchentechnik sei Dank.

Zur Unterscheidung von roh und gekocht diente früher nur das Feuer. Heute haben wir nicht nur unzählige Variationen von kultiviertem Feuer entwickelt – Bunsenbrenner, Josper Grill oder Green Egg sind nur ein Bruchteil –, wir haben auch den elektrischen Strom in endlosen Varianten als Hitzequelle. Tepanyaki-Platten, Tauchsieder, Wasserkocher, Gasherd, Ceranfeld, Dampfgarer, Konvektomat, Thermomix. Die Technik macht aus Rohem Gekochtes – sie macht aber auch aus Rohem Rohes. Und das ist das eigentlich Interessante: Denn auch die technischen Möglichkeiten für die rohe Küche haben sich rasant weiterentwickelt. Gefinkelte Kühlsysteme sorgen für die bei rohem Protein wie Fisch und Fleisch absolut notwendige Hygiene. Mit flüssigem Stickstoff oder durch Dehydrieren kann man quasi frittieren und schafft eine splitternde Knusprigkeit ganz ohne Fett. Im Vakuumierer lassen sich Zutaten wie Ananas, Mangold, Radieschen oder Rhabarber kalt garen: Die Textur verändert sich, sie wird glasig-saftig, wie wenn Hitze zum Einsatz gekommen wäre. Die Farbe wird intensiviert, die Zutaten behalten aber geschmacklich eindeutig ihren rohen Charakter, was etwa bei Rhabarber abermals etwas Neues ist. Durch Kalträuchern kann man rohe Zutaten irritierend aromatisieren, ohne etwa die glatte, kühle Textur von rohem Fisch oder Fleisch aufrauen zu müssen. Und vor allem durch die Zerkleinerung wird in der rohen Küche „gekocht“, im Sinne von transformiert. Die Gerätschaften für eine hochentwickelte rohe Küche sind fast ausschließlich solche, die in irgendeiner Form zerkleinern.

Der Pacojet erlaubt es mit seinen Abfräsbewegungen, rohe Wurzeln wie Steckrüben sowie andere Zutaten mit störrischer Textur in samtige Cremes zu verwandeln – davor war dieser Zustand nur nach heißer Garung möglich. Die erdigen, herben und bisweilen reizvoll adstringierenden Töne von Roten Rüben, Steckrüben oder Pastinaken bleiben bei dieser Verarbeitung besser erhalten, während Wurzeln beim Garen stets ins Süße abgleiten. Somit bedeutet das Rohe hier abermals eine Erweiterung des aromatischen Spek­trums. Der Spiralschneider macht aus Zucchini oder Karotten rohe Spaghetti – Glutenallergiker freuen sich –, und dank Microplane-Reibe werden aus rohem Brokkoli grüne Brösel. Auch Entsafter sind für die roh dominierte Küche wichtig: Sie erzeugen aus rohem Gemüse hocharomatischen Saft, in der Spitzenküche gern Succo genannt, der heute oft als leichtere Saucenbasis dient – davor konnte man das Aroma von Karotten oder Sellerie nur durch Auskochen ins Flüssige transferieren. Apropos flüssig: Dass grüne Smoothies aus rohem Kohl einmal zum Fetisch einer Hochkultur werden würde, hätte sich Claude Lévi-Strauss wohl auch nicht gedacht.

Die Hitze steht uns also als Mittel zur kulturellen Handlung, um in Lévi-Strauss’ Diktion zu bleiben, zwar jederzeit zur Verfügung – allein, wir wollen sie nicht immer. Sei es aus ideologischen beziehungsweise gesundheitlichen Gründen, auf denen die Raw-Food-Bewegung mit ihrer Erhitzungsobergrenze von 42 °C gründet, sei es aus kulinarischer Neugier und Neuerungswillen: Wenn alles bekannt ist, beginnt man neu, indem man bisher Gekochtes roh verarbeitet. Nach diesem Credo arbeiten Köche wie Daniel Patterson vom kalifornischen „Coi“. Als Inspiration dienen Patterson durchaus auch 42-°C-Jünger und deren gern eingesetzte Zutaten wie Weizengras, gekeimtes Getreide und Hülsenfrüchte oder eingeweichte Nüsse, die er etwa mit Ziegenfleisch kombiniert. Die ex­trem frischen wiewohl sanftmütigen Geschmäcker, die diese für ihn neuen Zutaten lieferten, seien völlig überraschend gewesen. „So gut die Ziege auch war, es waren die rohen Zutaten, die das Gericht energetisierten“, notiert Patterson in seinem Kochbuch. So beeinflussen heute Roh-Dogmatiker die Spitzenküche und umgekehrt. In Kochbüchern zur Raw Cuisine finden sich heute Gerichte wie Ententatar mit Kaki oder Jakobsmuscheln mit ­Topinambur und Vanille.

Der neue Umgang mit rohen Lebensmitteln gründet nicht nur auf technischen Gerätschaften. Ebenso wichtig für die heutige Küche mit ihrer Vorliebe für das Rohe waren Querdenker wie Ferran Adrià und ihr völlig anderer Blick auf Zutaten. Adrià machte aus rohem Karfiol oder Minimaiskolben Couscous, aus Brombeeren Kaviar und aus rohen Sojasprossen Reiskörner.

Das Entfremden der reinen Zutat allein durch neue Schneidearten haben sich auch skandinavische Köche und Nachfolger zu eigen gemacht. Bei ihnen sind auffallend oft rohe weiße, chiffondünne Späne das optisch tellerbestimmende Element: Hobel aus rohem weißen Spargel, aus rohem Karfiol, rohen Champignons, aus rohen Maroni. Bei Letzteren ist die Verwandlung besonders augenfällig: Statt ganzer gerösteter, karamellbrauner Maroni oder geschmacklich einlullender milchkaffeebrauner ­Pürees haben wir heute weiße, knackige Hobel auf den Tellern, die geschmacklich wie haptisch herausfordern. Denn das tut das Rohe heute – und ist somit ein kultureller Fortschritt: Es fordert tatsächlich heraus. Die Genießer zu neuer Offenheit, die Kochzunft zum Umdenken, zum Weiterdenken. Und das alles ist noch lange nicht zu Ende.