Saft ist ein ganz besonderer Saft

Oder: Über ein neues Leben mit Entsafter

Text von Thomas Maurer Fotos von Ingo Pertramer

Ungewöhnlich früh begann heuer der Frühling, und entsprechend vorzeitig kamen auch die untrennbar zu ihm gehörenden Wünsche und Vorsätze: Die Fenster könnte man mal wieder putzen, bei der Gelegenheit vielleicht auch gleich den Kleiderschrank entrümpeln, die Möbel umstellen, ausmalen lassen, zehn Kilo abnehmen, mit Leistungssport anfangen, ein bis zwei Fremdsprachen ­erlernen und endlich einmal eine leidenschaftliche Affaire mit Zwillingen anfangen.

Nach bedächtigem Erwägen der Für und Wider all dieser Optionen kaufte ich mir letztlich einen Entsafter.

Mit diesem, so mein Kalkül, könnte ich immerhin Obst und Gemüse zu gesunden Säften versaften, und der Rest käme dann ja mehr oder weniger von allein.

Steht aber ein neuer Entsafter mit blitzenden, wahre Wunder der feuchten Abwischbarkeit verheißenenden Oberflächen und vor Entsaftungsbereitschaft förmlich vibrierend erst einmal in der Küche, so wird einem schleichend bewusst, dass Entsafter generell (gemeinsam mit z. B. Zimmerfahrrädern, Tajine-Schmortöpfen und Zweimannzelten) in die Kategorie „stauraumverstellender Zivilisa­tionskramuri“ ressortieren: Dinge, die man – man wäre denn Radsportler, Marokkaner oder Pfadfinder – einmal kauft, zweimal benutzt und dann so lange mit schlechtem Gewissen von einer Wohnung in die andere übersiedelt, bis natürliche Materialermüdung oder irrtümliche Beschädigung ein beherztes Wegschmeißen endlich rechtfertigen.

Weniges ist so zur Dämpfung der Freude an einer kostspieligen Neuanschaffung geeignet wie diese Einsicht, vor allem, wenn sie von der unschönen Vision begleitet wird, die das in jungfräulichem Glanz funkelnde Haushaltsgerät in ein mit Lurch bewachsenes und neben das Fondueset aufs oberste Speisekammerregal verbanntes Sinnbild des Überflüssigen verwandelt zeigt.

Um den teuren Entsafter vor diesem grausen Schicksal zu bewahren, beschließe ich also, möglichst viel mentales Tamtam um seine Existenz zu machen und mir vorübergehend einzureden, ich stünde dank seiner Anschaffung – ähnlich einem ans Klostertor klopfenden Buddhistennovizen – an der Schwelle zu einem neuen Leben.

Und das heißt, ich muss mich nach einem Meister umsehen.

Womit nun, nachdem ich so raffiniert die Stichworte „Entsaften“ und „Meister“ untergebracht habe, endlich Rainer Melichar ins Spiel kommt, die wohl unbekannteste Küchenlegende des Landes.

Ein Mann, der nicht nur quasi seit dem Paläolithikum der heimischen Hochküche aktiv ist (ab 1985 bei Karl Eschlböck, dem ersten, inzwischen halb im Nebel der Legendenbildung versunkenen Spitzenkoch Österreichs; später dann beim nicht minder wirkungsmächtigen Jörg Wörther), sondern der obendrein bekannt – bzw. eben nicht bekannt – wurde durch die Erfindung einer Küchentechnik, die den gemeinen Entsafter als zentrales Arbeitsgerät für forciert hochkulinarische Zwecke dienstbar macht.

Die Methode hört auf den ein wenig sperrigen ­Namen „SuccoWell“ (Marketing ist, to say the least, nicht gerade Rainer Melichars starke Seite), und sie hat, still und bescheiden wie ihr Urheber, eine ganz schöne Karriere hingelegt: Küchenkoryphäen von Walter Eselböck über Josef Floh bis Heinz Reitbauer bekennen sich zu ihrer Verwendung, und selbst aus Ferran Adrias El Bully sollen seinerzeit Emissäre ­gesichtet worden sein.

Die meisten Köche hätten auf einem solchen Treffer wohl eine schöne Karriere aufgebaut oder zumindest den Versuch dazu in Angriff genommen: Fernsehauftritte, eigenes lizensiertes Entsaftermodell, Limited-Edition-Geschirrsets, Franchise-Outlets, Promi-Testimonials, die ganze Richtung.

Rainer Melichar aber konnte für derlei Firlefanz keine Zeit erübrigen, weil er 1991 ins schwiegerelterliche Traditionsgasthaus Nibelungenhof heiratete, gelegen im nicht gerade für seine unvergleichlich malerische Umgebung bekannten Traismauer.

Hier brachte er gute zehn Jahre lang das logistische Wahnsinnskunststück zuwege, im vorderen Bereich des Lokals einen brummenden Leberknödelsuppen-Surschnitzel-Topfenpala-Betrieb am Laufen zu halten und im hinteren, wenn gerade jemand gehobenen Gusto hatte, gleichzeitig eine hoch- bis höchstbewertete State-of-the-Art-Couisine mit allen Schikanen hinzulegen. (Inzwischen bescheidet er sich mit dem Kochen der Gasthausspeisekarte, deren Gerichte allerdings dramatisch leichter, raffinierter und aromatischer daherkommen, als man annehmen würde, wenn man erstmals in der mit selbstersonnenen Designelementen garnierten Siebziger-Jahre-Gaststube Platz nimmt.)

Interessanterweise gab aber gerade diese sehr spezielle Doppelbelastungssituation für Herrn Melichar den Ausschlag, seine ersten Experimente mit Gemüsesäften zur Methode weiterzuentwickeln: Einerseits war er es gewohnt, mit nur unter stundenlangem Aufwand herzustellenden Komponenten wie Selleriefond oder Tomatenwasser zu kochen (Eschlböck! Wörther!), andererseits hatte er für diesen stundenlangen Aufwand weder Zeit, Geld noch Personal.

Mit seiner SuccoWell-Methode (Ja, an das Wort werden Sie sich jetzt gewöhnen müssen) ist es ihm, wie er glaubwürdig versichert, gelungen, qualitativ absolut satisfaktionsfähige Suppen- und Saucenbasen in einem Bruchteil der Zeit herzustellen.

Mit einem gewöhnlichen Küchengerät deppeneinfach Profi-Essenzen herstellen und dabei auch noch zeitlich einen Abschneider nehmen zu können – das ist natürlich so etwas wie der feuchte Traum jedes ehrgeizelnden Amateurkochs, also meiner zum Beispiel. Womit endlich auch das wahre Motiv meines Entsafter-Erwerbs enthüllt wäre. Wir schalten nunmehr live ins Gasthaus Zur Weintraube vulgo Nibelungenhof!

Das vereinbarte SuccoWell-Praxis-Seminar beginnt vernünftigerweise mit einem Essen, schon weil der Chef mittags zum Reden keine Zeit hat, da kocht er nämlich.

Zum Auftakt gibt es Frischkäse, umkränzt von farbenfroh kontrastierenden Saucenarabesken, deren Leuchtkraft ebenso eindrucksvoll ist wie ihre Geschmacksintensität.

Dann eine sehr subtile Gemüsesuppe auf Zellerbasis, gefolgt von der SuccoWell-Variante einer Ente a l’orange, serviert mit rubinroter Blutorangen- und sonnengelber Normalorangenreduktion, die beide dem saftig-mürben Entenfleisch den gewünschten fruchtigen Kontrastkick verleihen.

Nachdem das Mittagsgeschäft abgeebbt ist, dürfen Fotograf Ingo Pertramer und ich die Küche betreten. Ich, um mich selbst als SuccoWell-Koch zu versuchen, Ingo, um mich bei diesem Versuch abzubilden und auszulachen. Aber wir haben die Rechnung buchstäblich ohne den Wirt, konkret: ohne Rainer Melichar gemacht.

Der nämlich steht seit einigen Jahren völlig allein, unterstützt lediglich von einer Abwäscherin, in seiner Küche. Mit der Folge, dass zwischen ihm und der Küche augenscheinlich eine Art Verwachsungssymbiose eingetreten ist.

Als ich ihn darin loslegen sehe, kommt mir unwillkürlich eine Szene aus einem vor Jahrzehnten konsumierten Film der Star-Wars-Serie ins Gedächtnis: jene nämlich, in der der pummelige kleine Roboter R2D2, der bis dahin lediglich durch Piepsen, Zwitschern und kompaktstaubsaugerhaftes Dahergerolle aufgefallen war, in einer passgenauen Öffnung auf der Oberfläche eines Raumschiffes einrastet und sich als hochkompetente Steuereinheit erweist, für die das zu steuernde Schiff weniger Arbeitsgerät denn Erweiterung des eigenen Körpers ist. Jetzt stellen Sie sich das Ganze noch auf einen Koch umgelegt vor, und Sie haben ein Bild der Zustände in der Nibelungenhof-Küche vor Augen.

Und so befriedigend es von ästhetischer Warte aus auch ist, Rainer Melichar mit maximaler Ökonomie, stupender Effizienz und schlafwandlerischer Präzision in seinem Reich walten zu sehen, so unmöglich ist es leider – Stichwort: Bitte nicht in den laufenden Motor greifen –, ihm dabei zur Hand zu gehen, geschweige denn an seiner Statt zu agieren.

Ich habe es probiert. Ehrlich. Es geht nicht.

Stattdessen kommt es zu einer Abfolge von Dialogen, die alle so oder ähnlich klingen:

„Soll ich einmal ein paar Paprika zum Entsaften kleinschneiden?“
„Nicht notwendig, hab ich grad gemacht.“
„Na gut, dann tu ich sie in den Entsafter.“
„Ah. Achso. Hoppala. Zu spät. Na ja, wir entsaften dann eh noch was anderes auch.“
„Und den Saft soll ich jetzt aufkochen?“
„Danke, der kocht eh schon. Den Selleriefond kannst du abseihen.“
„Hm. Hast den nicht grad du abgeseiht?“
„Ah. Ah ja. Achso. Hoppala.“

Sollte also dieser Artikel mit Bildern illustriert sein, die den Autor beim Ausführen von Küchentätigkeiten zeigen, so handelt es sich dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um gestellte Aufnahmen.

Aber auch beim Zuschauen kann man bekanntlich etwas lernen.

Am Beginn steht diesfalls das vierstufige Melicharsche SuccoWell-Klassifikationssystem, das aber weniger kompliziert ist, als es zunächst wirkt, wenngleich die auf Basis der Begriffs „Succo“ gebildeten Neologismen ein klein wenig gewöhnungsbedürftig sind.

Also: Der frische Saft (z. B. Tomaten, Karotten, aber auch Obst) wird im Weiteren Natursucco genannt und kann direkt für geeiste Suppen, Marinaden oder Sorbets verwendet werden, wobei eher trockenes Material – Wurzeln, aber auch Pilze – mit kaltem Wasser im Verhältnis 1:1 bis 1:5 gepresst werden.

Unfiltriert zu gewünschter Konsistenz eingekocht, wird aus dem Natursucco ein Naturkraftsucco, der sich als Suppe, ­Natursauce oder zum Herstellen von Aufstrich oder Aromabutter verwenden lässt.

Kochend heiß filtrierter Natursucco aber heißt fürderhin Feinsucco und kann dann als voll­wertiger Grundfond eingesetzt werden, also an Stelle von eingangs erwähnten Klassikern wie Tomatenwasser oder Selleriefond.

Kocht man den Feinsucco weiter ein, heißt das Resultat dann Feinkraftsucco und kann für Jus und Saucen, aber auch als eigenständiger Aromenträger verwendet werden: Die farbenfrohen Geschmacksbomben, die am Beginn unseres Nibelungenhof-Aufenthalts standen, waren beispielsweise Vertreter der Gattung „Fein­succo“.

Ökologisch, moralisch und ästhetisch befriedigend ist auch der Umstand, dass die beim Auspressen anfallenden Pressrückstände ebenfalls einer sinnvollen kulinarischen Nutzung zugeführt werden können, also so gut wie gar kein Abfall anfällt: Die Trester von Zeller, Peterwurzel und Karotte lassen sich hervorragend im Backrohr trocknen und dann entweder mit Salz zu einem Allzweckwürzmittel vermahlen oder dazu verwenden, Suppen aromatisch auf die Beine zu helfen. Die trockenen Erbsenrückstände (der Saftanteil wird abends als feine Natursauce ein Stück Waller begleiten) sind im Nu (mit Sauerrahm, Salz, Pfeffer, Staubzucker und Eiern) zu einem Teig verarbeitet, mit dem sich nach Dampfgarung ein herrlich luftiger Erbsenflan herstellten lässt.

Die Überbleibsel von Tomaten oder Oliven marschieren in den Brotteig und machen dort eine gute Figur, und so ganz nebenher lassen sich auch noch knallfarbige Gelees oder, ­unter Zugabe von Gelierzucker und im Ofen getrocknet, knisterdünne Knusperfruchtplättchen erzeugen.

Und so weiter und so fort.

All das ist dann, wenn man es daheim probiert, natürlich nicht ganz so mühelos zu erledigen, wie es bei der Vorführung durch Rainer Melichar gewirkt hat, aber es geht. Sogar, wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann, ziemlich gut.

Mein erster Versuch, eine auf Basis von Fischfond und ­Paradeis-Feinkraftsucco fabrizierte Fischsuppe, gelang gleich einmal so vorzüglich, dass ich sie umgehend in der mit „Rezepte zum Angeben“ beschrifteten Schublade meines Gedächtnisses ablegte. Das mit Paprika-Naturkraftsucco angegossene Erdäpfelgulasch war von einer unbekannt fruchtigen Frische, ohne dabei an herzhafter Deftigkeit einzubüßen. Und der in Fenchel-Feinkraftsucco gegarte Fenchel, den ich unlängst zum kurzgebratenen Beiried reichte, war ein durchschlagender Erfolg, zumindest bei jenen 60% der am Tisch Anwesenden, die nicht prinzipiell den Geschmack von Fenchel hassen.

Mein Entsafter jedenfalls glänzt nicht mehr so neu wie noch unlängst – rote Rüben zermatscht man nun einmal nicht ungestraft in schneeweißem Kunststoff, und auch die grünlichen und blassorangen Verfärbungen sind nicht mehr ganz wegzukriegen.

Das ist ein gutes Zeichen. Er ist keine Neuanschaffung mehr, sondern ein Küchengerät.

Und als solches wird es voraussichtlich auch nicht so bald im Ausgedinge landen, dort, wo sich Melonenentkerner und elek­trisches Waffeleisen gute Nacht sagen.

Wiener Straße 23, 3133 Traismauer
Tel.: 02783/63 49 oder
0676/400 46 45
www.nibelungenhof.at

Das Lokal ist im Prinzip täglich geöffnet, zumindest sommers (im Winter gönnt man sich gelegentlich einen freien Sonntag), es sei denn, so Hausherrin Elisabeth Melichar-Haimeder, es finde eine geschlossene Veranstaltung statt, in jedem Fall sei es am Gescheitesten, vorher zu reservieren. Der Nibelungenhof hat auch Zimmer, Übernachtungen sind an 365 Tagen im Jahr möglich. Für nähere Informationen zur SuccoWell-Methode ist Rainer Melichar, ein Enthusiast vor dem Herrn, jederzeit persönlich ansprechbar, soweit es der Geschäftsgang gerade zulässt. Es existiert auch eine im Eigenverlag gedruckte Broschüre („SuccoWell – Kochen mit Aromasäften. G’schwind / G’schmackig / G’sund“), um die man vor Ort bitten kann. Für weiterführende Studien außerhalb Traismauers empfehlen die Melichars das Buch: „Küche: Garmethoden und Rezepte“ aus dem Trauner-Verlag, ISBN 978-3-85487-999-2. Menschen, die mit der Anschaffung eines Entsafters liebäugeln, empfiehlt Rainer Melichar übrigens (ohne Prozente zu bekommen, Marketing ist wie gesagt nicht seine starke Seite) mit großer Überzeugung den klassischen Champion Juicer, über den man sich mühelos im Internet schlau machen kann.