Saftige Schenkel

Der Beinschinken ist der König der zahlreichen Wurst- und Schinken-Spezialitäten in Wiens Feinkost-Vitrinen, sozusagen das Fastfood der besseren Gesellschaft.

Saftige Schenkel

Text von Florian Holzer Fotos: Luzia Ellert
Schinken wird hauchdünn geschnitten, im Idealfall auf großen, alten, amerikanischen Maschinen, die man in Italien noch irgendwo erstanden hat. Schinken ist salzig. Die Nomenklatur der diversen Schinken ist weltweit ungefähr ebenso bekannt wie die Namen der fünf Erstgewächse des Bordelais, ob man einem zartschmelzenden San Daniele, einem Aroma-voluminösen Parma, einem nussig-dezenten andalusischen Iberico Bellota oder einem Karstluft-würzigen Prst aus Kroatien den Vorzug gibt, hängt zumeist davon ab, welches dieser raren Trockenfleische gerade zur Verfügung steht, die Qual der Wahl hat man nur an wenigen Orten auf dieser Welt.
Nur in Wien, da ist wieder alles anders, da existiert eine Schinken-Welt, die mit jener der getrockneten Schweinebeine nichts zu tun hat. In Wien (beziehungsweise auch in der Steiermark) ging es nämlich nicht darum, das rückwärtige Bein des geschlachteten Tieres möglichst lang haltbar zu machen; im Gegenteil, hier ging und geht es darum, den Schenkel zuzubereiten, zu einer Delikatesse werden zu lassen, die ihren Ursprung wohl in Prag hat, hierzulande im Laufe der vergangenen Jahrhunderte aber durchaus ein wenig verändert wurde und Profil gewonnen hat. Und die in Wiens Probierstuben, Buffets, an den Vitrinen der Feinkostläden und bei einem Picknick, das diesen Namen verdienen soll, jeden Tag mit selbstbewusster Wonne zelebriert wird: der Beinschinken.
Der Name ist freilich ein wenig irreführend, da natürlich jeder wahrhaftige Schinken vom hinteren Bein des Schweins stammt, er wird allerdings etwas klarer, wenn man weiß, dass in Wien "Bein" eben auch "Knochen" bedeutet und ein Beinschinken daher ein solcher ist, der am Knochen verarbeitet und auch angeschnitten wird (wobei die meisten der heute handelsüblichen Beinschinken natürlich längst entbeint in den Umlauf kommen, aber da nähern wir uns dann einer Art Wiener Paradoxon). Der Beinschinken ist der König der zahlreichen Wurst- und Schinken-Spezialitäten in Wiens Feinkost-Vitrinen; Beinschinken zu bestellen, zeugt von Altwiener Tradition, von bürgerlichem Bewusstsein, von gewissem Stand. Wer ein Semmerl mit Beinschinken isst, der zeigt seiner Umwelt, dass sein Schnitzerl selbstverständlich vom Kalb, sein Schulterscherzel vom Ochsen und seine Topfengolatsche vom Demel ist. Denn Beinschinken ist das Fastfood der besseren Gesellschaft, im Idealfall per Hand frisch vom Stück geschnitten, mit scharfem Senf oder unmittelbar zuvor gerissenem Kren aufs Porzellan platziert – perfekt.
Überlegt man, was ihn neben seinem hohen Stellenwert vor allem in der Wiener Genusstradition so reizvoll macht, findet man ein paar Indikatoren für diese Lust am Schinken: Da wäre zuerst einmal das große Stück. Ein großes Stück ist immer super, vermittelt Üppigkeit, Zufriedenheit und die archaische Garantie dafür, dass noch eine Zeit lang etwas da ist; dann die rosa Farbe. Was kann schlecht sein, das rosa ist? Rosa ist die Farbe der unschuldigen Verführung, eine Mischung aus Unschulds-Weiß (kommt im guten Schinken in Form der schönen Fettauflage und der intramuskulären Abteilung vor) und lüsternem Rot (im Schinken seltener anzutreffen, hin und wieder aber schon), Rosa ist die Farbe des perfekten Schinkens, eine unmissverständliche Bild-Geschmacks-Assoziation; und schließlich der Geschmack – subtil salzig, saftig durch die perfekte Balance zwischen Fett und Wassergehalt, vanillig-schmelzender Speck, mürb sich schmiegende Muskulatur …
Einen guten Schinken zu machen, ist nicht wirklich leicht. Und vor allem muss man es wollen. Denn Beinschinken herzustellen, kostet Geld, "aber das wird beim Beinschinken auch bezahlt", stellt Josef Fröhlich die Sache klar. Gissinger in Ottakring dürfte der größte Beinschinken-Erzeuger Österreichs sein, 20 Tonnen werden in dem Traditionsbetrieb pro Woche verarbeitet, ein Viertel davon macht allein der Beinschinken aus. Gegründet wurde die Fleischhauerei 1935 von Josef Gissinger, Fröhlichs Großvater, der wiederum bei einem tschechischen Fleischhauer gelernt hat – was für Beinschinken noch nie eine schlechte Voraussetzung war.
Die Herstellung ist aufwändig, erfordert handwerkliches Geschick und viel Erfahrung. Wesentlicher Punkt sei schon einmal der Schnitt, erklärt Rudolf Thum junior von der Schinken-Manufaktur Thum, dem zweitgrößten und überaus renommierten Hersteller dieser Spezialität in Wien. Denn damit werde der nächste, entscheidende und handwerklichste Schritt in der Beinschinken-Werdung definiert: Nach alter Tradition injiziert man in die Venen und Arterien des Schweineschenkels nämlich die konservierende Nitritsalz-Dextrose-Lauge, über das Adersystem erreicht die Flüssigkeit die gesamte Muskulatur des Beins, dringt sogar in den Knochen ein, "perfekt gesalzen – eine Maschine kann das nie so gut wie der Blutkreislauf", sagt Rudolf Thum junior. Mit Klammern verschließt man das System (bei perfektem Schnitt reicht eine einzige), und der Schinken wird je nach Rezeptur einige Tage bis zwei Wochen in der Kühlkammer gesurt.
Vor dem Kochen in speziellen Öfen kommt ein Schritt, bei dem es zwei Denkschulen gibt, die wohl nie Übereinstimmung erlangen werden, aber das gehört zum Mythos des Beinschinkens eben auch dazu, nämlich: Rauch oder nicht Rauch. Roman und Rudolf Thum räuchern ihre Schinken kurz und heiß über Buchenspänen. Erstens, um das Aroma des saftigen Schweinsschinkens dadurch noch stärker zu akzentuieren, zweitens, weil sich der Schinken dadurch doch ein bisschen länger hält – konkret zehn bis zwölf Tage statt zwei Tagen beim Schinken ohne Rauchbehandlung. Und der Optik sei die Rauchbehandlung auch nicht gerade abträglich, meint Rudolf Thum. Auch bei Gissinger kommen die Schinken in die Selch, zumindest der Großteil, denn eine kleinere Charge bleibt ungeräuchert, "ein österreichisches Phänomen, ungeräucherten Schinken gibt’s nur in Wien".
Und der berühmteste der ungeräucherten Beinschinken ist zweifellos jener im "Schwarzen Kameel". Die saftigen Schweinekeulen für Wiens Restaurant- und Buffet-Klassiker werden natürlich nicht in der Bognergasse hergestellt, die Verschinkung lässt man vielmehr lohnarbeiten, allerdings nach einer Hausrezeptur, von der man trachtet, dass sie nicht übermäßig publik wird. Tatsächlich ist das Geheimnis des unvergleichlich zarten und saftigen Schinkens im Kameel die relativ geringe Salzung. Das in Kombination mit dem Verzicht auf das Räuchern erfordert natürlich eine straffe Logistik und einen routinierten Umgang mit der sensiblen Ware. Und genau das ist der Punkt, erklärt Peter Friese, Kameel-Patron: Für den unmittelbaren Verzehr im Restaurant oder an der Theke werden von der etwa 13 Kilo schweren Keule nur vier Kilo aus dem besten und saftigsten Teil namens "Schale" aufgeschnitten, der Rest geht unmittelbar in die Verarbeitung, zu Schinkenbrötchen oder "Beinschinkensalat" (ein luftiger, ziemlich wunderbarer Fleischaufstrich).
Es gibt natürlich auch Beinschinken (also konkret sind das die allermeisten), die nicht nur ohne Bein angeboten, sondern auch ohne Bein verarbeitet werden. Das ist eine fraglos sehr viel günstigere Variante und kann geschmacklich durchaus gefallen, wie der A-la-Carte-Test bewies, die beiden Dinge haben miteinander aber nur relativ wenig zu tun. Beinfreier Beinschinken wird – zumindest bei den österreichischen Herstellern – manuell zerlegt, das geht sehr schnell, ein geübter Zerleger macht eine Schweinekeule in eineinhalb Minuten zu Einzelteilen. Die werden dann "gefließt", also geputzt, die besten Teile wie Schale und Fricandeau kommen in den Injektor, der die Lake mittels feinster Nadeln ins Fleisch bringt. Anschließend sind die Massiertrommeln am Zug, in denen die Schinkenstücke nach speziell ausgearbeiteten Programmen bewegt und gedreht werden. Dadurch verbinden sich Eiweiß und Lake und das Stück wird vom Fleisch zum Schinken. In weiterer Folge wird geräuchert, gekocht und aus den einzelnen Stücken wieder ein ganzer Schinken gemacht – eine Presse in Keulenform, mit oder ohne zurechtgeschnittener und passend applizierter Schwarte, bringt die Sache in Form. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand: Die Herstellung ist in hohem Maße automatisier- und steuerbar, abgesehen davon schmeckt solch ein Schinken an jeder Stelle gleich und sieht auch relativ gleich aus. Der Handel mag so was.
Ein anderer Punkt ist das Phosphat. Dieses dient mit seiner Fähigkeit der Wasserbindung in der Fleischindustrie oftmals dazu, die Ware "saftiger" zu machen, "schnittfestes Wasser", sagt Josef Fröhlich, der für seine Beinschinken diesen Zusatz ablehnt, "da gibt’s Länder, wo vorne ein Kilo Fleisch reingeht und hinten kommen drei Kilo raus". Phosphatfreiheit wird in Zukunft in der Fleischindustrie sicher noch ein größeres Thema werden, einstweilen fehlt dem Publikum da freilich noch die Sensibilität. Eine Initiative in Richtung EU, den Wiener Beinschinken mit einem g.U.- (geschützte Ursprungsbezeichnung) oder g.t.S.- (garantiert traditionelle Spezialität) Siegel zu definieren, wäre in diesem Sinne sicher nicht verkehrt und auch angebracht. Bisherige Bemühungen seitens Slow Food, sich des Schutzes des Wiener Beinschinkens anzunehmen, scheiterten allerdings stets an seinen Ursprüngen in den Bratöfen der Prager Küchen. Aber ein paar Wiener Anwälten, die die Tradition des Beinschinken-Gabelfrühstücks noch hochhalten, wird da schon etwas einfallen …