Sauerstoff

Ihre Wurzeln haben Zitrusfrüchte in Asien. Dennoch gedeihen die Exoten, die mit ihrem Säuregehalt an die Grenzen des Erträglichen gehen, auch in Österreich und werden nicht nur von heimischen Paradegärtnern erfolgreich kultiviert, sondern auch in den Küchen der Spitzengastronomie mit zunehmender Euphorie eingesetzt.

Sauerstoff

Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Stephanie Golser
Fünfzehn Männer, zehn Leitern und 30 Hände. Das angepeilte Ziel: die nach Zitronen- und Orangenblüten duftenden Haine vor einem herrschaftlichen Landhaus im ostsizilianischen Catania. Routiniert lehnen die Männer in 10-Meter-Abständen ihre Leitern an die Bäume, tasten die Früchte nach ihrem Reifegrad ab, pflücken Stück für Stück von den Ästen, schlichten sie in Kunststoffkisten und stapeln sie in Lkws. Die Destination der sauren und süßen Ware: der Großgrünmarkt in Wien-Inzersdorf.

Heimo Karner erntet nicht gerne und wenn, dann nur so viele Früchte wie unbedingt nötig. Er beliefert keinen Supermarkt. Seine Kundschaft besteht aus ausgewählten Köchen der österreichi­schen Top-Liga. Die Wurzeln seiner Zitronen-, Orangen-, Grapefruit- und Limettenbäume sind nicht mit dem Boden sizilianischer Erde verwachsen, sondern gedeihen in Töpfen mit eigens zusam­mengestellter Erde im Wiener Schloss Schönbrunn und haben mit den Zitrusfrüchten, die man alltäglich erhält, nur wenig zu tun. Er kultiviert neben bekannten Sorten Raritäten wie die mit grünen Längsstreifen versehene Gescheckte rotfleischige Zitrone, die säure­lose, blassgelbe Zitronensorte Dolce und die dickschalige Zitronatzitrone Buddhas Hand, die mit etlichen Fingern versehen ist und als Delikatesse geschätzt wird. Während die kälteempfindlichen Pflanzen – die Schönbrunner Sammlung umfasst rund 100 Sorten und Arten – im Winter in einem eigens für sie gebauten Gewächshaus Unterschlupf finden, gedeihen sie von Mai bis Oktober am Ostflügel des Schlosses, im Kronprinzengarten, unter der Obhut des passionierten Gärtners und Veredlungskünstlers. 365 Tage im Jahr tragen die außergewöhnlichen Pflanzen Früchte, da sie gleichzeitig blühen, Blätter tragen und ausreifen.
Stolz ist Karner auf den Zitrus-Altbestand aus der Kaiserzeit: Seine Pomeranzen sind 180 Jahre alt (sie können bei guter Führung 400 Jahre alt werden), wurden damals aus Sizilien zugekauft, zur Herstellung von Marmelade verwendet und als optische Zierde genutzt. Den Zitrusfrüchten zu Ehren wurde im 18. Jahrhundert die barocke Orangerie inklusive fortschrittlicher Fußbodenheizung gebaut, die auch heute noch jährlich für die Wiener Zitrustage genützt wird, bei der Sortenraritäten bewundert und gekauft werden können. Besonderen Stellenwert hatte auch die Zitronatzitrone (= Cedratzitrone), für die ein eigenes Cedrathaus eröffnet wurde, das sich im ehemaligen Apothekertrakt befindet und mit niedrigen Räumen versehen wurde, um es für die frostempfindlichen Bäume im Winter ebenfalls schnell mit Ofenheizungen befeuern zu können. Den heutigen Standort im Kronprinzengarten haben die sensiblen Pflanzen erst vor wenigen Jahren bezogen. "Dort sind sie vor dem Westwind geschützt, den sie gar nicht mögen", so Karner.
"Aufgestellt wurden die Pflanzen nach historischem Muster, wie es in Schlössern in Italien üblich ist", schwärmt der Gärtner, der seinen Schützlingen in den Sommermonaten besonders viel Aufmerksamkeit schenken muss. Um sechs Uhr morgens beginnt dann sein Arbeitstag. In voller Montur und mit einem Gartenschlauch bewaffnet, ist er fünf Stunden ausschließlich mit dem Gießen von Limetten-, Zitronen- und Orangenbäumen beschäftigt. "In der heißesten Zeit verbrauche ich einen 1.500-Liter-Wassertank." Wichtig ist für die Zitrusfrüchte, das Wasser 24 Stunden im Tank zu lassen, wodurch es wesentlich weicher und handwarm wird. Gegossen wird mit der Hand, denn jede Frucht hat ihre speziel­len Vorlieben. Bleibt Wasser übrig, bekommt auch das Laub eine nasse Abkühlung: "Ich gieße von innen in die Krone hinein, weil dort die Spaltöffnungen sitzen und die Pflanzen das Wasser somit gleich aufnehmen." Seit 1997 ist Heimo Karner für die ­Raritätensammlung zuständig, die bei der Übernahme in einem kümmerlichen Zustand war. Heute kann sie sich mit den schönsten in Europa messen und wird ständig um neue historische Zitrusarten und -sorten erweitert. Die Deutsche Landsknecht-hose etwa, deren Charakteristikum unterschiedlich breite, grüne und später orange Streifen auf der Fruchtschale sind, hat Karner von Hamburg nach Wien transferiert. Im 16. Jahrhundert wurde sie erstmals beschrieben, ihr Name ist auf die gestreifte Hosentracht deutscher Landsknechte zurückzuführen, die auch heute noch die Tracht der Vatikangarde ist. Im Gegensatz zur kleinwüchsigen Bitterorange Landsknechthose erreicht die Zitronat­sorte Medica, auch Riesenzitrone genannt, eine Durchmesser-Größe von 35 bis 40 Zentimeter. Anders als bei der normalen Zitrone ist die weiße Schicht (= Mesokarp) zwischen der Schale und dem Fruchtfleisch viel dicker und gilt in der Toskana als erfrischende Delikatesse. Das Mesokarp wird dort vom Fruchtfleisch gelöst und in drei bis vier Millimeter dicke Scheiben geschnitten, mit Olivenöl, Petersilie und frisch gemahlenem schwarzen Pfeffer mariniert und als Vorspeise gegessen oder zur Herstellung von Zitronat verwendet. Die dickschalige, höckrige Zitrone enthält kaum Fruchtfleisch, was nicht heißt, dass man aus ihr keinen Saft holen kann. Karner, der täglich mehrere Krüge Zitronenwasser für sich zubereitet, erinnert sich noch an ein besonders groß gewachsenes Unikum: "Aus dem größten gepflückten Exemplar, das ich bis jetzt in der Hand hatte, konnte ich einen Liter Saft pressen".
Auf die Auseinandersetzung mit Zitrusfrüchten lässt sich Vestibül-Küchenchef Christian Domschitz genauso ein wie Spitzenkoch Heinz Reitbauer vom Wiener "Steirereck", der sich regelmäßig von Heimo Karner mit der Zitronatzitronensorte Buddhas Hand beliefern lässt, mit japanischer Yuzu (der heilende Kräfte zugesprochen werden), Kaffirblättern und der optisch an eine zu schlank geratenen Salzgurke erinnernden Fingerlimette. Vor drei Jahren ist der Spitzenkoch auf den Geschmack der Zitrusfrüchte gekommen: "Entstanden ist der Kontakt über Herrn Karners Bruder, der bei Gourmet Express arbeitet und den ich gequält habe, weil wir etwas Exotisches in dieser Richtung haben wollten. Für mich sind Zitronatzitronen besonders interessant, weil der Gast so auch einmal ein ganzes Stück Zitrone im Mund haben kann, und das nicht nur in der kandierten Variante." Kulinarischen Wert hat für Reitbauer auch die Fingerlimette, die sich geschmacklich deutlich von der herkömmlichen Limette unterscheidet. Einerseits durch ihren dominanten, zitronig-blumigen, aber gleichzeitig auch sauren Geschmack, der ihren Einsatz nur in homöopathischen Dosen ermöglicht; andererseits durch ihr Fruchtfleisch, das aus etlichen körnigen Segmenten besteht und an Perlen erinnert. Zum Einsatz kommen die sauren Exemplare in der süßen wie in der pikanten Küche, wobei sich Reitbauer verstärkt auf Säureexperimente mit Gemüse und Fleisch einlässt, weil "sich die Küche der Zukunft immer mehr in eine frischere, leichtere Richtung entwickelt". Zum Einsatz kommen bei dem Spitzenkoch auch Salz­zitronen, die in Marokko als alltägliches Gewürz verwendet werden und die Reitbauer glasweise lagert, um ständig damit versorgt zu sein. Dazu schneidet er die Schale unbehandelter Zitronen mehrmals ein, reibt sie mit grobem Meersalz ein und rext sie in Einmachgläser, in denen das saure Gewürz bis zur Weiterverwendung einen Monat kühl gelagert werden muss. "Man kann die Schale und das Fruchtfleisch verarbeiten – beides wird sehr saftig und bekommt eine Supersäure. Ich verwende es gerne zum Würzen für klassische Innereien-Gerichte wie Beuschel oder Lammherz."
Es gibt aber auch "süß-saure" Extrembeispiele, die dem Gast im Gegensatz zu der perfekt ausbalancierten Säure-Kreation von Café-Central-Patissier Pierre Reboul (Er hat für seine Kolonialtorte ein Konsistenz-Kunstwerk aus Mandelcrisp, Lemon Curd, Zitronencreme, Grapefruitgelee und Mandelbaiser zusammengesetzt.) einiges an Säureresistenz abverlangen. Etwa bei Reitbauers Zitrus-Säurespiel, bei dem der Kreativkoch ans Geschmackslimit geht: "Ich wollte, dass der Gast seine Grenzen auslotet. Ich selbst bin beispielsweise jemand, der Säure gut verträgt, trotzdem hat jeder ein anderes Empfinden, was Säure betrifft". Für sein Dessert brachte Reitbauer Säure in unterschiedlichen Konsistenzen und Säurestufen auf den Teller: Joghurt-Limetten-Sauce und Limonenschaum mit Zitronatzitrone wurden durch knusprigen Limettenkuchen und Kaffirlimettensorbet gesteigert, von Finger­limettenperlen mit kandiertem Zitronenmelissenblatt und einem Yuzugelee mit Zitronenstaub und Zitronenbrausepulver abgelöst und für Säure-Junkies von Kumquats mit Zitronenverbene und Zitronengranité mit verschiedenen Zitrusfrüchten und Kräutern finalisiert. "Ich wollte mit diesem Dessert durchaus provozieren, der Gast sollte an einem Punkt ankommen, an dem er sagt: Jetzt hör‘ ich auf. Überraschenderweise waren alle so neugierig, dass sie sich bis zur letzten Säurestufe durchgekostet haben und ich kein Negativ-Feedback bekommen habe", sagt Reitbauer und legt amüsiert nach: "Und das, obwohl ich eines wollte."
Auf 5.000 Quadratmetern hat Michael Ceron in Faak am See einen Zitronengarten aufgebaut, der jenen toskanischer Plantagen um nichts nachsteht. Was als private Sammlung begonnen hat, ist vor rund fünf Jahren zu Cerons Business geworden. 220 Sorten an Zitrusgewächsen hat er aus aller Welt in den letzten 20 Jahren zusammengetragen, dazu zählen Kuriositäten wie die gefurchte Sorte "Citrus lemon Canaliculata", die birnenförmig wachsende Cedratsorte "Sanctus Domenicus" oder die "Lucchesische Cedratzitrone", deren Früchte in der Vollreife gleich zwei Farben, grün und violett, annehmen. Die meisten Exemplare seiner exotischen Ware bezieht der Gärtner aus der Toskana und topft sie bei ihrer Ankunft mit einer speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Erdmischung mit Bims- und Vulkangestein aus dem Vesuv in selbst gebrannte Töpfe um. "Für ihr Wachstum ist das essenziell. Zitruspflanzen sind an der Wurzel hochempfindlich, vor allem in den ersten zehn Jahren." Um das Aroma seiner Zitronen, Orangen, Grapefruits, Limetten und Clementinen nicht zu verfälschen, hat sich Ceron für die Umstellung auf einen biologisch geführten Betrieb entschieden. Vor drei Jahren hat er damit begonnen, heuer stehen die ersten biozertifizierten Zitrustöpfe in seiner teils überdachten, teils Open-Air-Gärtnerei. Gezüchtet werden die Pflanzen bei ihm nicht: "Davon bin ich noch weit entfernt", gibt er offen zu.
Engagiert und wissbegierig gibt er sich dennoch: In Zusammenarbeit mit der Universität für Bodenkultur in Wien hat er Untersuchungen gestartet, bei denen der Säuregehalt der unterschiedlichen Früchte und die Genieß­barkeit der Schalen ausgetestet werden sollen, denn "von der Hälfte der Sorten kann man die Schale essen", ist Ceron überzeugt.
Seinen gärtnerischen Rat holen nicht nur viele Dachterrassenbesitzer in Wien ein, sondern auch Kräuterkoch und Fischzüchter Michael Sicher aus Tainach sowie Spitzenkoch Arnold Pucher im Kärntner Nassfeld. Zitrustöpfe wintert Ceron gegen eine Parkgebühr von 120 Euro pro Quadratmeter in seinen Gewächshäusern ein und bietet auch Verarztung erkrankter Pflanzen an. Selbst Seminare und Führungen durch seinen Zitrusgarten hält der umtriebige Gärtner ab, für die er einen hausgemachten Eistee aus Grüntee, einer Pressung unterschiedlichster Zitronensorten, Rohrzucker und Kräutern ansetzt und Orangentorten und -tartes nach alten Rezep­turen fabriziert, die man sich sonst nur von einer italienischen Nonna erwarten kann. Selbst gemachtes Süßwerk serviert auch Josef Lederleitner im Pavillon seiner Gärtnerei-Oase im niederösterreichischen Atzenbrugg. Neben einer Vielzahl an sonnenhungrigen und schattentauglichen Sträuchern, Stauden und Blumen sowie Wasserpflanzen kann Lederleitner auch mit Zitrusraritäten aufwarten, die er aus Oscar Tintoris Gärtnerei in Pescia bezieht. Vergessene Sorten wie "Buddhas Hand", "Four Seasons" und die "Zitronat Maxima" wachsen in seinem Gewächshaus genauso wie die "Otaiti"-Orange mit saftig-süßlichem Fruchtfleisch und die saure "Kaiserzitrone", die es bevorzugt, mit dem Pinsel bestäubt zu werden. Wie auch Ceron bietet Gärtnerguru Lederleitner eine Überwinterung der frostempfindlichen Bäume an. Dennoch nimmt nicht jeder Zitrusbesitzer dieses Angebot in Anspruch: "Ich habe einen Kunden, der für seinen Orangenbaum eigens ein Gewächshaus gebaut hat, damit er sich nicht von ihm trennen muss".
Schloss Schönbrunn
Heimo Karner
Zitrus-Sammlung Schönbrunn (im Kronprinzengarten)
1130 Wien
Tel.: 01/811 13-0
Informationen über die Wiener Zitrustage,die jährlich Anfang Mai stattfinden, unter www.bundesgaerten.at
Zitrusgarten
Michael Ceron
Blumenweg 3
9583 Faak am See
Tel.: 04254/22 34
Gärtnerei Lederleitner
Josef Lederleitner
Schubertstraße 36
3452 Atzenbrugg
Tel.: 02275/56 03
Oscar Tintori
www.oscartintori.it
Restaurants
Steirereck im Stadtpark
Heinz Reitbauer
Am Heumarkt 2A
1030 Wien
Tel.: 01/713 31 68
Vestibül
Christian Domschitz
im Burgtheater
Dr.-Karl-Lueger-Ring 2
1010 Wien
Tel.: 01/532 49 99
Saag Ja
Hubert Wallner
Saag 11
9212 Techelsberg am Wörther See
Tel.: 04272/435 01
Café Central
Pierre Reboul
Ecke Herrengasse/Strauchgasse
1010 Wien
Tel.: 01/533 37 64-26
Orlando di Castello
Pierre Reboul
Freyung 1
1010 Wien
Tel.: 01/533 76 29