Scharfe Chili

Chili ist längst nicht mehr Droge einer eingeschworenen Community, sondern Standard im Supermarktregal. Österreichs Paradeproduzenten widmen sich der Thematik verschärft, und auch asiatische Spitzenköche heizen ihren Gästen immer mehr ein.

Scharfe Chilli

Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Luzia Ellert und Stephanie Golser
Er ist ein Freak und steht dazu: Landwirt Erich Stekovics. Bekannt ist er als Kaiser der Paradeiser. Stekovics hat aber auch eine andere Obsession: Chili. Rund 400 Sorten – von mild bis explosiv, von zartrosa über durchscheinend gelb bis schokobraun und von glatt bis runzelig – wachsen in Frauenkirchen im Burgenland. Das Saatgut hat oft eine lange Reise hinter sich, kommt aus dem Kosovo, Russland, Mexiko, Spanien und dem asiatischen Raum. Vielfalt-Fanatiker Stekovics wird von Arche Noah und einem internationalen Netzwerk regelmäßig mit Samenraritäten aus der ganzen Welt versorgt. "Ich habe sehr gute Kontakte in Amerika, und das Institut Gatersleben in Deutschland hat mir gerade 1.800 Sorten angeboten. Derzeit habe ich aber einen Aufnahmestopp. 100 von unseren 360 Sorten sind erprobt und gehören zum Standardprogramm, die anderen sind noch im Experimentierstadium. Mehr ist logistisch nicht möglich.
Neben milden und bekannten Sorten wie Apfelpaprika und Santa Fe sind auch scharfe Kollegen bei Chilijunkies heiß begehrt: Im Habanero-Bereich kann Stekovics gleich 40 Vertreter aus seinem Sortenkatalog aufzählen. Sie reifen in den Farben Weiß, Gelb, Pfirsich, Orange, Rot, Lila und Schoko ab, tragen Namen wie White Bullet, Hot Lemon, Big Sun, Peach und Chocolate und zählen mit Scovilleeinheiten – sie geben Auskunft über den Schärfegrad – im sechsstelligen Bereich zu den feurigsten Sorten der Welt. Beheimatet sind bei Stekovics auch Exoten wie Yatsufusa aus Japan, der faltig-gelbe Fatalii aus Afrika, der rote Assam aus Indien und die Urform aller Sorten: Chiltepin. Die stecknadelgroßen, knallroten Früchte sind nicht wie man es bei Chilis vermuten würde spitz zusammenlaufend, sondern rund, wachsen in der Sonora-Wüste in Mexiko und im Süden von Texas und Arizona. Sie sind besonders schmackhaft und magenfreundlich und zeichnen sich durch eine schneidende Schärfe aus. "Chiltepins werden von Vögeln gesät, die schmerzunempfindlich sind und die Samen unverdaut wieder ausscheiden – deshalb nennt man sie auch Vogelaugenchilis", verrät Stekovics. Da der Urchili nur von Hand gepflückt werden kann und sich die Büsche weit über die Wüste verstreuen, ist Chiltepin eines der teuersten Gewürze der Welt, zählt zu den zehn gefährdetsten Lebensmitteln des amerikanischen Kontinents und wurde von Slow Food USA in die Arche des Geschmacks aufgenommen.
Kultiviert werden Stekovics‘ Chilis auf rund zwei von insgesamt 33 Hektar Fläche, teils unter freiem Himmel, teils überdacht. Trotz der vielen Sonnenstunden im Süden Österreichs favorisiert die Pflanze der Gattung Paprika schützende Folientunnel: "Chili ist extrem wärmeliebend. Er schießt aus dem Boden, wenn wir in der Nacht vor Hitze nicht mehr schlafen können. Auf Kälteeinbrüche reagiert er mit Krankheiten und Zugluft mag er auch nicht. Ab 25 Grad gepaart mit hoher Luftfeuchtigkeit fühlt er sich wohl – im Brutkasten also", Stekovics lacht. Werden die Idealvoraussetzungen erfüllt, wachsen die Schützlinge bis an die Decke und geben noch mehr Schärfe ab. Trockene Böden heizen der Pflanze zusätzlich ein: Wasserentzug macht ihnen Stress, so dass Chili noch mehr von ihrer Scharfmachersubstanz Capsaicin bildet, das den Brenneffekt im Mund und den damit verbunden prickelnden Kick verursacht.
Die Angst vor Schärfe kann Stekovics nicht nachvollziehen: "Was man bei Chili nicht vermutet, sind die Aromen", schwärmt er. "Es gibt Chilis, die nach Zitrone schmecken, andere wiederum haben Minze-, Holunder- und Schokoladenoten. Chili ist eben nicht nur scharf. Die Skepsis der Gastronomie ist unbegründet. Anstatt den Gast mit einem sechsgängigen Menü zu betonieren, so dass er am Ende eines Abends übersättigt ist, sollte man ihm zwischendurch etwas Scharfes servieren, um den Gaumen zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass Chili der Stoff der Köche wird. Leider ist die Hemmschwelle noch zu groß."
Expertin in Sachen scharfe Küche ist Spitzenköchin Sohyi Kim. Im Alter von eineinhalb Jahren hat die gebürtige Koreanerin die ersten Erfahrungen mit Schärfe durch den Verzehr des fermentierten Chinakohlsalats Kimchi gemacht. Mit Reis, Tofu und Chili kennt sie sich aus. Sie hat Chili im Blut. Kim verwendet die Schoten frisch, in getrockneter und pulverisierter Form. Am liebsten sind ihr rote und grüne Sorten aus Thailand sowie Schoten aus Korea: "Die sind süßer, saftiger und schärfer als die thailändischen", schwärmt Kim. Keines ihrer Gerichte kommt ohne Chili aus. "Untertönig ist er immer dabei. Chili ist mein Thema. Damit meine ich aber nicht automatisch Schärfe. Wenn es nur um Schärfe geht, hole ich sie mir auch aus Ingredienzien wie Knoblauch, Ingwer und Zwiebel. Da ich kein Schlagobers oder Butter verwende, ist das die einzige Möglichkeit, dem Gaumen Hallo zu sagen." Für Kim ist Chili sowohl Gewürz- als auch Heilmittel: "Er ist Bakterien abtötend, hilft richtig dosiert bei Migräne und auch wenn viele glauben, dass Chili schlecht für den Magen-Darmtrakt ist: Sie irren. Wenn ich total ausgelaugt bin und Energie brauche – das kommt oft vorm Abendgeschäft vor – , verlangt mein Körper nach Schärfe. Auch wenn meine Küchen-Crew w. o. gibt und vor lauter Feuer im Mund schon nicht mehr kann, bin ich noch total relaxt und spüre weder ein Brennen noch sonst etwas im Mund", sagt Kim. Aber auch sie hat ihre Grenzen. "Ich habe immer ganz lässig erzählt, wie gut ich Chili vertrage. Bis mir eine Freundin aus New York ein Fläschchen mit künstlich hergestellter Chili-Schärfe und einem Totenkopf als Branding gebracht hat. Ich hab vor den Gästen einen Teelöffel geschluckt und im ersten Moment keine Veränderung bemerkt. Erst nach ein paar Minuten habe ich einen bitteren Geschmack im Mund gespürt und kurz darauf einen Krampf bekommen. Ich bin nach hinten in die Kammer gelaufen, hab‘ mich auf den Boden gelegt, war kreideweiß, schweißgebadet und habe am ganzen Körper gezittert. Die Folge: 25 Minuten Arbeitsunfähigkeit. Die einzige Rettung waren warmer Reis und warmes Wasser. Seither habe ich Respekt vor Fläschchen, deren Inhalt ich nicht genau kenne." Nicht nur Imitate sind tückisch. Auch das Original sorgt manchmal für einen Scovilleschock. "Es gibt bei Chili keine Regel: Auch wenn manche Sorten unschuldig aussehen – Farbe, Größe oder Form sagen nichts über den Schärfegrad aus", weiß Erich Stekovics.
Ein halbes Kilogramm getrockneter Chili wird pro Tag im "Kim kocht" verbraucht. Wer bei Kim isst, isst gerne scharf. Ihre Gäste lassen sich immer öfter auf eine Steigerung ein. "Einige, die bei ihrem ersten Besuch null Hitze vertragen haben, bestellen mittlerweile mittlere Schärfe." Trotzdem: Schärfe ist relativ. Niemand sollte beim Essen leiden. "Im persönlichen Gespräch kann ich einschätzen, welche Mengen die Leute vertragen. Und auch wenn so mancher Gast lautstark "superscharf" bestellt, bekommt er zwei Grade weniger und hat noch immer das Gefühl hot, hot, hot gegessen zu haben. Wenn ich mir nicht sicher bin, stelle ich extra frischen Chili dazu. Es gibt nämlich auch Gäste, die die Schoten regelrecht hineinschaufeln – Menschen, die das Leben zwischen Himmel und Hölle gleichzeitig spüren wollen", Kim grinst. Jenen abgehärteten Helden kocht Kim eine Suppe, die garantiert einfährt: "Wenn ich die getrockneten Schoten mitkoche, geben sie Vollgas, denn durch die heiße Flüssigkeit werden die Öle im Samen freigesetzt. In die fertige Suppe schneide ich dann noch frische Schoten inklusive Samen hinein. Mit dieser Suppe macht man den Gaumen leicht schwindelig, und wenn man dann noch einen Kick braucht, beißt man einfach von der Chili ab."
Schärfe ist nicht nur Sohyi Kims Signatur, sondern auch Schwerpunkt bei "Indochine"-Küchenchef Wini Brugger. Er hat vor einem Jahr ein Menü mit Sorten zusammengestellt, das hierzulande in keinem anderen Restaurant bestellt werden kann. "Auf den Märkten in Wien findet man nur die gängigen Chilisorten. Ich wollte nicht von der Stange kaufen, sondern sowohl dem Einsteiger als auch dem Aficionado etwas bieten." In Kooperation mit Arche Noah und Slow Food ließ Brugger sich von österreichischen Bauern wie Peter Lassnig und Erich Stekovics beliefern und war von der Aromenvielfalt überzeugt. "Lemondrop ist ein irrsinnig feiner, zitronenlastiger Chili, der sich gut mit Fisch und Meeresfrüchten kombinieren lässt, Pretty in Pink schmeckt blumig und passt zu einem Curry und Brazilian Starfish sieht aus wie ein kleiner Seestern, ist würzig und harmoniert mit Fleisch." Sobald im Herbst die ganze Palette Chilis in Österreich geerntet ist, will Brugger sein Menü "Chili for all Senses" wieder auf die Karte setzen und nimmt sich vor, eine Serie an getrockneten, eingelegten und pürierten Sorten wie Fish Pepper, Black Elephant und Joe’s Round zu produzieren. Das dürfte Erich Stekovics gefallen. Der ehemalige Theologielehrer versucht sich als Prophet und ist überzeugt: "Die Chiliwelle ist nicht mehr aufzuhalten."