Speck is back

Ernährungstechnisch gesehen müsste er hochkant aus unsereren Kühlschränken und Speisekammern fliegen. Die Elite der Avantgardeküche sieht das anders. Sie hat das fette Laster für sich entdeckt und stilisiert es zur – wohl dosierten – Delikatesse hoch.

Speck is back

Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Stephanie Golser
Die einen lassen sich Fett absaugen, die anderen legen es scheibchenweise aufs Brot. Was in der Gourmetszene vor wenigen Jahren noch verpönt war und als rustikale Jause auf Almhütten in 2.000 Meter Höhe verbannt wurde, ist trotz Schönheits- und Schlankheitswahn in der Spitzengastronomie wieder erlaubt und seit einiger Zeit auch in den Speisekarten visionärer Köche auffällig geworden: Sie sorgen mit unkonventionellen Kombinationen, in der die rauchige Geschmackskomponente zum Einsatz kommt, für Aha-Erlebnisse und heben das lange Zeit ungeliebte Produkt aus seinem alpinen Schattendasein. Der als weltbester Koch ge­feierte René Rezepi aus Kopenhagen etwa serviert in seinem Restaurant "Noma" als Häppchen einen Cracker aus Speck, Tannen- wipfeln und knallrotem Ribiselpulver. In einen völlig anderen Aggregatszustand verwandelt ihn der britische Alchemist Heston Blumenthal: Er verarbeitet einen Fettblock zu cremigem Eis, kombiniert es mit Paradeisermarmelade und Teegelee und ist dafür berühmt. Josef Zotter, österreichischer Chocolatier und Grenzgänger, geht sogar soweit, Speck mit Schokolade zu umhüllen: Er röstet und karamellisiert ihn für eine seiner neuesten Kreationen und füllt das krosse Material mit in Kaffee und Rotwein eingelegten Pflaumen in eine dunkle Kuvertüre mit 70 Prozent Kakaoanteil. Erlaubt ist, was ihm schmeckt: Deshalb entstand auch eine handgeschöpfte Schokoladetafel, für dessen Innenleben Zotter Süßwein mit Schmalz, Hippenkrokant und gerösteten Speckstreuseln vom Sonnenschwein aus dem steirischen Lafnitztal verbindet.
Derart exzentrische Gratwanderungen geht der Tiroler Spitzenkoch Alexander Fankhauser aus Hochfügen nicht. Dennoch ist Speck von Bauch, Rücken und Karree vom Schwein in seiner Küche, die auf 1.500 Metern Seehöhe liegt, ein unverzichtbares Produkt. "Speck ist etwas Traditionelles, Typisches für unsere Region, das man österreich- und weltweit kennt und das ihn, wenn man ihm die nötige Zeit zum Reifen lässt, mit seinem feinen Rauchgeschmack und seiner süßlichen Note – die man auch von luftgetrocknetem Prosciutto kennt –, unvergleichlich macht." Sinn macht die Verwendung von Speck für Fankhauser solange er nicht entfremdet wird. Der Tiroler Koch zieht es vor, den typischen Speckgeschmack untypisch zu kombinieren. Er paart ihn etwa mit Bitter Lemon und verwandelt die beiden Komponenten in andere Texturen. Die Limonade geliert Fankhauser und transformiert sie zu einem Würfel, auf den er eine Schicht Erbsenpüree streicht. Als effektvolles Finish wird vor den Augen des Gastes eine moussige, lauwarme Schicht weißer Speckschaum auf das geometrische Kunstwerk gesprüht. Für den Schaum legt Fankhauser gut durchzogenen Bauchspeck in Schlagobers ein, lässt die Sauce einmal aufkochen und den Speck eine halbe Stunde darin ziehen, bevor er den Stabmixer einsetzt, die Sauce passiert, einkocht und als Reduktion in eine Siphon-Flasche füllt. "Die Kombination von Erbsenmousse und Bitter Lemon ist zwar interessant, aber es verlangt nach mehr. Das süßlich Würzige vom Speck passt zur leichten Säure des Bitter Lemon und die Süße vom Erbsenmousse wird wiederum durch das Salzige vom Speck gehoben. Das ergibt eine Geschmacksexplosion", verspricht der Koch. Auch sonst fallen Fankhauser ad hoc Paarungen ein, die nicht alltäglich sind, wie ein in Speck pochierter Steinbutt, den er gemeinsam mit einigen Streifen des Fett- und Geschmacksträgers in einen Vakuumsack verfrachtet und bei 50 Grad im Wasser ziehen lässt. "Ich brauch‘ dann nicht einmal den Speck zum Fisch servieren, habe trotzdem das volle Aroma drin und jeder wird sich fragen, wie hat er das gemacht."
Vier bis fünf Kilogramm Speck verarbeitet der Tiroler täglich, wobei er nicht nur Gerichten im Spitzenrestaurant eine Speckkomponente einimpft, sondern auch typische Tiroler Spezialitäten für seine Hotel- und Schigäste fabriziert. Selbst pur wird Speck bei ihm angeboten. "Wir servieren ihn entweder in hauchdünnen Scheiben am Teller gehäuft oder in Stifterln. Wichtig ist dabei, dass der Speck eine super Qualität hat. Sonst hat er einen monotonen Rauchgeschmack und wird aufgrund zäher Konsistenz kau­technisch zum Problem."
Als Gegenkultur zu Massenproduktion setzt Andreas Ortner auf Topqualität. Er betreibt in dritter Generation im Osttiroler Sillian eine Metzgerei, in der Speck nach alter Tradition entsteht und in der Rezepturen verwendet werden, die sein Großvater zu Beginn des 20. Jahrhunderts niedergeschrieben hat. In der 10-Mann-Produktion wird das Rohprodukt von Hand mit Salz und Gewürzen (deren einzelne Bestandteile bis heute geheim sind) eingerieben und bleibt anschließend 14 Tage lang im Pökelraum, in dem die Beize in Karree-, Bauch-, Schopf- und Schinkenspeck sukzessive einzieht. Anschließend wird das Fleisch auf Wägen gehängt und in die Räucherkammer geführt, in der der Speck bei 20 Grad mit Rauchschwaden von Buchen­holz und Wacholderstauden umnebelt und im Anschluss in mehreren Zyklen Trocknungs-, Räucher- und Ruhephasen unterzogen wird. 14 Tage verbringt dünner Bauchspeck in der Selch, drei Wochen braucht der Karreespeck, Schinkenspeck wird bis zu vier Wochen geräuchert. Im Reiferaum trocknen die Teile im Anschluss quasi in Slow Motion bis zu vier Monate, bis sie einen Trocknungsverlust von 40 Prozent vorweisen können und in Ortners Verkaufsvitrine landen. "Das Geheimnis ist die Gewürzmischung und die Zeit, die man dem Produkt zum Reifen geben muss, damit es seine mürbe Konsistenz und seinen charakteristischen Geschmack erhält. Speck lässt sich nicht schnell produzieren, auch wenn die Industrie das gerne hätte. Natürlich gibt es Mittel, mit denen man Prozesse beschleunigen kann, aber das schmeckt man dann auch."
Auf Zeit schwört auch Raimund Döllerer, Onkel des Salzburger Spitzenkochs Andreas Döllerer, dessen Metzgerei sich direkt neben der Küche des Genussrefugiums – bestehend aus Hotel, Restaurant, Wirtshaus und Fleischhauerei – befindet. Er versorgt nicht nur die Kunden aus dem Ort sowie den Delikatessensupermarkt Meinl am Graben in Wien mit Speck, sondern auch seinen Neffen. Dem passt das deftige Produkt gut ins Alpinkonzept, mit dem er wie die Brüder Obauer aus Werfen und Sissy Sonnleitner aus Kötschach-Mauthen ökologische Reflexion betreibt und Rohstoffe bevorzugt aus der Region bezieht. Döllerer baut Speck sowohl klassisch in seine Wirtshauskost als auch experimentell in Gerichte für das angrenzende Gourmetrestaurant ein, in dem Kreationen wie Döllerers Interpretation einer Tiroler Leber auf der Karte stehen, für die er Kalbsleber in hauchdünnen Bauchspeck wickelt, in Butter anbrät und mit glasierten Perlzwiebeln, gerösteter Zwiebelcreme und Petersilienöl serviert. Ein Highlight ist auch Bluntau-Forelle mit Lardo, die als Filet einer tagesfrisch gefangen Forelle in eine Scheibe hausgemachten weißen Rückenspeck vom Schwäbisch-Hällischen Schwein – es hat zuvor glücklich auf der acht Kilometer entfernten Koloman-Alm gelebt – eingepackt und auf einen heißen, mit Olivenöl bestrichenen Stein aus dem Bluntautal gelegt wird. Der Effekt: "Die Enden des Filets wölben sich sichelförmig auf und der Fisch schmeckt durch den würzigen Lardo und etwas Garam Masala genial." Auch beim Frühstück ist das regionale Produkt fixer Bestandteil. Am Frühstücksbuffet wird man es allerdings vergeblich suchen. Wer eine Auflage für sein Brot haben will, wird in die Metzgerei nebenan gebeten, in der man sich vom Hirschwürstel bis zum Karreespeck alles frisch aufschneiden lassen kann.
Ein individuelles kulinarisches Morgenprogramm fährt man auch in Hochfügen. "Bestellt der Gast ein Spiegelei mit Speck, wird es à la minute in die Pfanne geschlagen. "Wir braten den Speck dann in einem Butter-Ölgemisch oder bei hohem Fettgehalt pur in der Teflonpfanne. Aber nicht schnell, sondern schön langsam – sonst schmeckt er nicht", ist Alexander Fankhauser überzeugt und legt nach: "Wenn man den einmal so gegessen hast, lässt man jedes Spiegelei mit Schinken stehen."