… und es liegt am Teller – wie gemalt!

Neu und in Serie: Küchenklassiker, ihre Geschichte und was man bei ihnen falsch machen kann, auch wenn's alle anscheinend richtig finden. In der zweiten Folge: Andrea Karrers Spurensuche zum Carpaccio.

… und es liegt am Teller – wie gemalt!

Text von Eva Rossmann Illustration: Tim Möller-Kaya

Hand aufs Herz: Noch zu Beginn der 1980er Jahre war vielen von uns das Carpaccio noch nicht bekannt und Verwechslungen mit dem phonetisch ähnlichen spanischen Gazpacho üblich. Doch dann kam es über uns. Blutrot, hauchdünn geschnitten, mit Olivenöl beträufelt und mit Parmesansplittern bestreut, eroberte das Carpaccio die Küchen von Wien bis Hamburg und von Wiener Neustadt bis San Francisco.

Offensichtlich kannten viele, durchaus geniale Köche das historische Original nicht, sondern sahen Carpaccio als eine Methode der Zubereitung, und es war bald kein Lebewesen vor deren fein geschliffenen Filetiermessern und Wurstmaschinen sicher, um allerlei in tiefgekühltem und kaum angetautem Zustand zu zersäbeln. Und so gab es einerseits durchaus legitime und von heimischen Produkten inspirierte Carpaccio-Kreationen – aber leider auch jede Menge Auswüchse. Ein Koch schnitt z. B. rohe Jakobsmuscheln in hauchdünne Scheiben und beträufelte sie mit Zitrone und Öl. Aber anstatt dies Sashimi zu nennen, wie es die Japaner tun, nannte er es Muschel-Carpaccio. Mittlerweile gibt es auch noch Carpaccio-Varianten von Fisch, Reh, Kaninchen, Perlhuhn, Knödel, Pilzen, Erdäpfeln, Paradeisern und sogar frischen Früchten. Genial, nicht wahr?
Es ist also gar nicht verwunderlich, dass man auf die Frage, was den eigentlich ein Carpaccio sei, immer nur etwas von geeist, hauchdünn aufgeschnitten und mariniert– aber kaum jemals die Wahrheit hört: Das echte italienische Carpaccio besteht aus hauchdünn geschnittenem, rohem Rindfleisch, serviert mit Mayonnaise-Dressing.
Erfunden wurde dieses Gericht von Giuseppe Cipriani, dem Inhaber von Harry’s Bar in Venedig. Und beim Stöbern in seinem Kochbuch ("Harry’s Bar Kochbuch") faszinierte mich, dass es sich der Familie nach um einen spontanen Einfall handelte.
Angeblich kam die Contessa Amalia Nani Mocenigo, eine Stammkundin, im Jahr 1950 ganz verzweifelt in die Bar, weil der Arzt ihr eine strikte Diät verordnet hatte, bei der gekochtes oder gebratenes Fleisch verboten war. Und die Dame wollte partout nicht zur Vegetarierin werden. Cipriani zeigte volles Verständnis und komponierte auf die Schnelle in der Küche dieses Gericht mit seiner Spezialsauce. Als die Kundin nach dem Namen der Kreation fragte, fiel ihm ein italienischer Maler der Renaissance ein, dessen Werke gerade in Venedig ausgestellt wurden und der bekannt war für leuchtende Rottöne: Vittore Carpaccio. Etliche Jahre vorher hatte Cipriani einen neuen Cocktail nach einem anderen Maler Bellini genannt. Das rohe Rindfleisch wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem beliebten Standardgericht der Bar .
Erzählt wird diese Geschichte von Giuseppes Sohn Arrigo Cipriani, der die Bar 1957 von seinem Vater übernommen hat und bis heute führt. Es gilt als ziemlich sicher, dass das Carpaccio tatsächlich in Harry’s Bar erfunden wurde. Die Rahmenhandlung darf man dagegen anzweifeln; die Contessa hat sich zu "ihrem" Gericht nie geäußert, aber rohes Fleisch war in den 1950er Jahren für eine adelige Dame garantiert tabu, zumal sie es bei Cipriani in aller Öffentlichkeit hätte essen müssen. Betrachten wir das Ganze nüchtern: Eine Bar ist kein Restaurant; Cipriani war auch kein Koch, sondern Barkeeper. Die meisten Gäste bestellten zumindest einen Drink oder zwei oder drei … und dazu einen Snack. Harry’s Bar hatte jahrzehntelang keine gedruckte Speisekarte und servierte nur Salate, Sandwiches und kleine warme Gerichte, die Ciprianis Frau zubereitete. Carpaccio war so gesehen eine ideale Ergänzung des Angebots. Das oft als Vorbild genannte " carne cruda all‘ Albese", eine Spezialität aus dem Piemont, wird nicht in Scheiben geschnitten, sondern wie Tatar klein gehackt und mit Olivenöl, Zitronensaft, Salz und Pfeffer gewürzt, saisonal auch mit gehobelter Trüffel oder Steinpilzen verfeinert.
O-Ton Arrigo Cipriani: "Das echte Carpaccio, das mein Vater erfunden hat, besteht aus hauchdünnen Scheiben von rohem Rindfleisch, die auf einem Teller ausgebreitet und à la Kandinsky mit unserer Universalsauce garniert sind." Diese "Universalsauce" ist eine Mayonnaise und wurde nicht speziell für das Carpaccio erfunden, sondern in Harry’s Bar schon vorher für verschiedene Gerichte verwendet. Das Carpaccio, das man in vielen Restaurants bekommt, ist meistens eine Abwandlung des Originals, denn es wird in der Regel nicht mit einer Mayonnaise serviert, sondern mit einem Öl-Dressing und Parmesan.

Rezept

Zutaten für 6 Portionen
650 g gut pariertes Contrefilet
Salz
Carpacciosauce (200 ml)
1 Dotter
1 TL Weiß- oder Rotweinessig
1/8 TL Senfpulver
frisch gemahlener
weißer Pfeffer
Salz
200 ml mildes Olivenöl
frisch gepresster Zitronensaft
1–2 TL Worcestershiresauce
2–3 EL Milch
Alle Zutaten für die Mayonnaise müssen Raumtemperatur haben. Dotter mit Essig, Senfpulver sowie etwas Salz und Pfeffer in eine Schüssel geben und mit einem Schneebesen oder dem Handrührgerät auf mittlerer Stufe cremig rühren. Zuerst etwa ein Drittel des Öls tropfenweise beifügen, anschließend das restliche Öl in dünnem Strahl einrühren bis eine feste Emulsion entsteht. Danach die Mayonnaise mit Salz, Pfeffer, Zitronensaft und Worcestershiresauce abschmecken; und nun wird die Sauce mit soviel Milch verdünnt, dass sie gerade den Löffelrücken überzieht.
Und nun zum Rindfleisch: In der Harry’s Bar nimmt man das Contrefilet (bei uns besser unter Rostbraten bekannt), welches würziger und saftiger ist, als der oft verwendete Lungenbraten. Egal ob Sie sich für Filet oder Rostbraten entscheiden, wichtig ist: Verwenden Sie nur absolut frisches und gut abgehangenes Fleisch. Erst die Reifung macht das Fleisch zart, mürbe und aromatisch. Das Fleisch muss sehr sorgfältig pariert (zugeputzt) und gut gekühlt ( ja nicht tiefgekühlt!) werden. Sollten Sie den Ratschlag bekommen, das Fleisch vor dem Aufschneiden etwa 1 Stunde tiefzukühlen, wissen Sie, dass Sie es mit einem Stümper zu tun haben. Richtig ist es: Das Fleisch mit einem sehr scharfen Messer in hauchdünne Scheiben schneiden (Tipp: Einen handwerklich geschickten Fleischhauer darum bitten bzw. eventuell die Fleischscheiben zwischen zwei Klarsichtfolien behutsam plattieren = dünn ausklopfen. Die Folie verhindert, dass die Fleischfasern reißen.). Nun sechs flache Teller mit den Fleischscheiben auslegen, leicht salzen und für etwa 5 Minuten in den Kühlschrank stellen. Danach die Sauce mit einem Löffel in einem unregelmäßigen Gittermuster über das Fleisch träufeln und sofort servieren.
Ein hervorragendes Carpaccio, korrekt zubereitet und mit Mayonnaisesauce garniert, bekommt man natürlich in der legendären Harry’s Bar.