Verstehen Sie Mehl?

Über die Frage, ob ein wenig Neidgefühl auf italienische Pizzaioli und französische Brotbäcker am Ende doch angebracht ist.

Text von Alexander Rabl Foto von Manuel Zauner

Ein normaler Wochentag, später Nachmittag. Vor der schmucken Boulangerie-Patisserie Le Barzic in Bénodet in der Südbretagne stehen die Kunden Schlange. Brot kaufen braucht ebenso viel Geduld wie Brot backen. Das berühmteste Brot der bretonischen Bäckerei heißt „La Parisse“, ein Hybrid zwischen klassischem Baguette und Landbrot. Dafür und für andere Backwaren erhielt der Boulanger die Auszeichnung „Meilleur Ouvrier de France“, eine Anerkennung für besondere Verdienste in einem Handwerk. Das „Pain Parisse“ wird am nächsten Tag noch 14 Stunden im Reisekoffer neben Wäschesäcken, Strandschuhen und Sardinendosen verbringen, von Quimper in der Bretagne mit dem Zug nach Paris und dann weiter mit dem Flugzeug nach Wien reisen, bevor es im Birnenholzbrotwohnzimmer Quartier nimmt und von der weiten Reise eine Nacht relaxen kann. Danach ist zwar die Kruste nicht mehr wie zwei Tag davor, aber Geschmack und Konsistenz sind immer noch nahezu perfekt. Das Brot behält dann noch zwei weitere Tage Aroma, Feuchtigkeit und Textur, kein Bissen davon wird dem Müll überantwortet. Man genießt, fragt sich hie und da: Warum?

Helmut Gragger hat die Wissenschaft des Brotes in Frankreich studiert. „Ja, das beste französische Brot kommt aus der Bretagne“, bestätigt er eine Vorahnung. Dabei komme es vor allem auf das verwendete Mehl an, neben dem Wasser und der Akkuratesse bei der Zubereitung des Teigs und beim Backen, wo die Franzosen nicht die kleinste Kleinigkeit dem Zufall überließen. „Gutes Mehl ist wie Wein ein Produkt von Boden und Klima“, sagt Gragger, der das Mehl für seine Baguettes aus Frankreich mit dem Bus importiert, weil „die kleinen Mühlen mit Logistik ins Ausland überfordert sind“. Die kleinen Mühlen, sie sind eines der großen Geheimnisse des Mehls, das aus Weizen kommt, welcher nicht auf Höchstleistung trainiert ist, sondern nach Güte seines Korns und der nach traditionellen Methoden mit Stein gemahlen wird.

Soll hier ein Bashing der Errungenschaften der Lebensmittelindustrie folgen? Zitieren wir Éric Kayser, dessen Werk The Larousse Book Of Bread ein Bestseller der Backkultur geworden ist. Kayser, der in Frankreich einige Bäckereien führt, schreibt zum Thema Mehl: „Die Qualität von Brot hängt vor allem von der Qualität der Zutaten ab und dann von der Art, wie damit gearbeitet wird.“ Und weiter: „Nach dem Zweiten Weltkrieg war die industrielle Weizenproduktion vom Imperativ des Profites geprägt und nicht vom Gedanken an Qualität und Nährwert. Weizensorten, die hohe Erträge versprachen, gewannen die Oberhand, und als Konsequenz hatte das Brot seit den 70er Jahren wenig Aroma.“ Das ändere sich gerade, so Kayser in seinem Buch. „Heute produzieren immer mehr Mühlen Mehl aus alten Weizensorten, die wegen ihrer niedrigeren Erträge verbannt waren.“

Im Vorgartenmarkt hat sich Helmut Gragger in seinem Geschäft einen Holzbackofen bauen lassen, ein prächtiges Stück in edlem Schwarz, das aussieht wie ein riesiger Schmortopf von Le Creuset und das die Hitze produziert, die Gragger für seine Brote braucht. Denn er weiß: „Es geht nicht nur um die Wärme alleine, sondern um die Art der Wärme.“ Die Wärme im Holzofen lässt die Kruste des Brotes besonders schnell schließen, die Feuchtigkeit bleibt drinnen. Im Keller unter dem Laden, wo es auch ein kleines Frühstück gibt, bewahrt Gragger seine Mehle auf. Es sind Mehle und Sorten aus Frankreich, Italien, Österreich und sogar Ghana.

„Das Thema Brot kommt eigentlich aus Amerika. Dort hat „Tartine“, von einem Franzosen geführt, zu einer Nachfrage nach Qualitätsbroten geführt“ so Gragger. Es sei ein Virus, der die Leute erfasst, darunter auch die Kunden von Graggers Bäckerei in Berlin-Neukölln, ein für Gourmandisen ebenso wenig naheliegender Standort wie der Vorgartenmarkt in Wien. Doch gerade die Menschen, die hier leben, sind bei den einfachen Dingen wie Brot Qualität gewohnt. Sie sind damit aufgewachsen. Plötzlich fällt es auf: Parallelen zwischen arabischem Fladenbrot und dem berühmten Alta-Mura-Brot aus Süditalien.

Der unter anderem in Frankreich ausgebildete Bäcker verwendet Mehl möglichst unverfälscht. „Mehl mit Ascorbinsäure zu behandeln, wie es oft passiert, hat das Ziel, möglichst viel an Teigvolumen aus einer bestimmten Menge Mehl herauszuholen.“ Das Mehl soll teigmaschinentauglich werden. Wenig überraschend, dass Gragger das anders sieht. „Es geht um den Kleber, dessen Gehalt normalerweise bei 26 % liegt. Werden Gluten (Kleber-Eiweiß) zugesetzt, erhöht sich der Anteil auf 30 %. Die Krume ist aufgeblasen, und das Ganze trocknet ziemlich schnell.“ Gier nach mehr ist das tägliche Brot der Industrie. Es schmeckt den Leuten halt leider immer weniger.

In Frankreich habe jeder Bäcker, so Gragger, „seine“ kleine Mühle. Der Bäcker Poilâne in Paris, mittlerweile in der dritten Generation geführt, würde deren Adresse niemals preisgeben. Poilâne verwendet für seine „Miches“, die runden Laibe, grob gemahlenes Weizenmehl aus einer Steinmühle. Wir lernen: Mehlsorten spielen eine große Rolle, aber auch die Art, wie man mit dem Weizenkorn umgeht. An dieser Stelle ein interessanter Vergleich: In Frankreich kostet Mehl aus (Bio-)Weizen doppelt so viel wie in Österreich (€ 1,40 im Vergleich zu € 0,70). Dennoch ist Brot in Frankreich generell billiger als bei uns. Wie das kommt? Gragger meint: „Es sind nicht die Bauern oder die Bäcker, wo die große Spanne hängenbleibt, sondern der Lebensmittelhandel. Dort kostet das Personal, und man kalkuliert, dass viel Brot weggeworfen wird.“ Im Unterschied zu den Österreichern, die Brot normalerweise im Supermarkt kaufen, kaufen Franzosen ihr Brot beim Bäcker, übrigens auch sonntags.

Widmen wir uns zwischendurch ein wenig der trockenen Materie, nicht dem Mehl selbst, sondern ein paar Zahlen. Schon mal was von Typ 405 oder Typ 1600 gehört? Es existieren gefühlte unzählige Mehltypen, wobei die Type den Mineralstoffgehalt des Mehls angibt. Vergnüglich wird die Sache dadurch, dass etwa in Deutschland andere Typenbezeichnungen gelten als in Österreich. Dann gibt es noch den Ausmahlungsgrad: Mehl mit hohem Ausmahlungsgrad ist dunkel und reicher an Vitaminen (vor allem B-Vitaminen) und Mineralstoffen, da ein hoher Anteil der Schale (man nennt sie auch Kleie) mit gemahlen wird. Mehl mit niedrigem Ausmahlungsgrad (00) ist hingegen hell und reich an Stärke, die im gemahlenen Getreidekern enthalten ist. Helles Brot galt übrigens früher als nobler, oder? Gragger: „Das hängt wie immer von der Verfügbarkeit ab.“ In Rumänien, früher eine Hochburg des guten Brotes, sei es zum Beispiel umgekehrt gewesen.

Die Menschheit brauchte vermutlich Jahrhunderte oder mehr, um die inneren Werte des Weizenkorns zu entdecken und die Kunst des Backens zu lernen. Maria Fuchs, gastronomische Quereinsteigerin, die in Neapel studiert hat, brauchte nicht ganz so lang, um herauszufinden, mit welchen Mehlen dort Pizza gebacken wird. Aber es war, wie sie erzählt, doch ziemlich kräfteraubend, und schließlich gab sie auf. In Neapel herrscht bezüglich Zutaten Omertá (Schweigepflicht). Jeder Pizzaiolo hat seine eigene Mischung, die sich übrigens deutlich von der Mischung der Kollegen in Rom oder weiter nördlich unterscheidet. „Niemand wollte mir etwas sagen. Ich habe dann einfach die Augen aufgemacht und geschaut, womit die Pizzaioli arbeiten“, so Fuchs, die mit ihrer Pizza Mari’ den Wienern etwas eröffnete, das dem Vorbild in Neapel entspricht. Es gibt, wie man weiß, in Italien den lange mit Genuss und großer Gestik gepflogenen Streit darüber, ob die römische oder die neapolitanische Pizza die bessere sei. „Ich bin nicht der Papst der neapolitanischen Pizza“, gibt sich Maria Fuchs diplomatisch wie ein Hoteldirektor an der Amalfitana. „Aber es ist einfach das, was ich in Wien machen wollte.“ Sie sei an sich keine Freundin weit gereister Zutaten, beim Mehl musste es schließlich doch Italien sein.

Nach vielen Versuchen wusste Maria Fuchs nämlich, dass Italien nicht nur in puncto Wetter, sondern auch bei der Weizenverarbeitung unvergleichlich ist. „Die 00-Type, also den Ausmahlungsgrad (mit geringer Ausbeute und hohem Kleberanteil) hätte der Müller in Österreich hingekriegt. Aber irgendwie ist es nicht dasselbe.“ Die mechanische Verarbeitung, also die Frage Walze oder Stein, so Fuchs, wirke sich extrem auf das Mehl aus, auf seine Feuchtigkeit und den Kleber, der beispielsweise unter anderem für das Funktionieren, die Elastizität eines Pizzateigs zuständig sei. In der mittlerweile zu Ruhm und Größe gelangten Caputomühle bei Neapel wird mit modernen Methoden und Walzen gearbeitet. Caputo-Mehl, von dem es erstaunlicherweise immer mehr gibt, ist das Kultmehl der ­Pizzaioli. Allerdings gibt es so viel, dass Maria Fuchs mittlerweile auf andere Lieferanten, deren Namen sie lieber verschweigt, umgestiegen ist. Ein guter Pizzateig braucht Zeit. Wer Ihnen erzählt, dass weniger als 36 oder 24 Stunden genug sind, lügt ganz sicher. Wie lange ein Pizzabäcker dem Teig Zeit gibt, davon hängt auch seine Entscheidung für die Mehlsorte ab. Manche benutzen eine
Mischung aus bis zu vier Mehlsorten. Es ist nicht übertrieben, von einer Wissenschaft zu sprechen.

Im 22. Bezirk steht das Hauptquartier der Bäckerei Ströck. Dort bäckt und forscht Pierre Reboul, der Professor des Backens. Ein kurzes Seminar bietet Antworten auf Fragen, die ein Laie gar nicht gestellt hätte. In der Nachkriegszeit, so lernt man, galt Weizen mit einem Eiweißgehalt von 8 % als backfähig. Irgendjemand habe dann die Bäcker – nicht nur in Österreich – dahingehend bearbeitet, dass sie glaubten, Weizen sei erst ab der doppelten Menge an Eiweißgehalt gut fürs Backen. Das sei aber schlecht für die Leute, denn das Eiweiß wird oft schlecht verdaut. Pierre Reboul weiß auch über die Macht von Monsanto zu erzählen, dessen Dünger das Wachstum des Weizens ab einer gewissen Größe stoppten, sodass mehr Energie ins Korn gesteckt wird.

Alles, so Reboul, sei seit Jahrzehnten auf den Profit, den größtmöglichen Ertrag konzentriert. Auch die Mühlen, die den Keimling vom Rest des Korns trennen, weil er die Lagerung von Mehl kniffliger mache, machten mit dem Verkauf eben dieser Keimlinge ein großes Geschäft. Dabei sei das schade, denn der Keim enthalte Fette und Mineralien und mache damit das Brot selbst wertvoller. In der Backindustrie kein Argument. So schwärmt auch Reboul von der Steinmühle, in welcher er das Mehl für sein Feierabend-Brot mahlt. In der Steinmühle kann man die Kleie (die äußere Schale des Korns) nicht entfernen. Reboul hat sich in Osttirol eine Steinmühle bauen lassen, das Herzstück seiner Unternehmungen zur Verfeinerung des Brotes. Je nach Schalenanteil und Aussiebung duftet dann das frische Mehl einmal nach Heu, dann wieder nach Maroni. Welche Energie im Keimling steckt, erklärt Reboul an einem simplen Beispiel. Man nehme ein Weizenkorn und gebe einen Tropfen Wasser dazu. Sofort reagiere der Keimling, wache sozusagen auf und beginne zu keimen. Das Korn lebt. Energie, die uns die Backindustrie vorenthält.

Es ist jetzt Zeit für die Pizza. 24 bis 36 Stunden darf der Teig ruhen, bis er in den Backofen kommt. Der Teig ist eine Diva, reagiert sofort über, wenn man ihn zu hart knetet oder mit Temperaturwechseln erschreckt. Deshalb: Handarbeit. Eine Maschine spürt nichts. Der ideale Pizzateig, so Maria Fuchs, habe Spannung und Weichheit gleichzeitig – wie ein schöner Frauenhintern. Ob dieser Vergleich von Frau Fuchs oder von einem neapolitanischen Pizzabäcker stammt, wurde nicht hinterfragt. Auch das österreichische Wetter mit seinen Schwankungen aus Hoch und Tief macht dem Teig zu schaffen. Die Köche in der Pizza Mari’ passen das Rezept der Witterung an. Und stolpern ständig über Kisten. „Bei uns ist alles voll mit Teigkisten“, erzählt Maria Fuchs. Pizzateig braucht Platz. Ideal wären die Pizzen nach einem Feiertag oder einem Abend, wenn Fußball im Fernsehen war und kein Gast in der Pizzeria.

Nach dem letzten Rombesuch sei sie mit zwei Sackerln italienischem Brot nach Wien gereist, erzählt Maria Fuchs. Der neue Job: süditalienisches Brot, wie es das bei uns noch nie gab. „Ich bin schon sehr weit mit dem Brot“, gibt sie sich optimistisch. „Ich will ein Brot, wie man es hier nicht kennt, starke, gleichmäßige Kruste, großporiger Teig.“ Fuchs weiter: „Apulien und die Basilikata sind Hochburgen des Brotes.“ Das neue Brot soll im neuen Laden in der Innenstadt verkauft werden, der im späteren Sommer aufsperren wird.

Auch in Österreich erwacht langsam das Interesse an seltenen, dafür markanten Getreidesorten. In Salzburg arbeitet Gerhard Wieser in seiner Lerchenmühle am Beginn des Bluntautals. Sein Motto: kleine Einheiten, Absage an den Lebensmittelhandel, der nur an Menge und Billigware interessiert sei. Gerhard Wieser liefert unter anderem Tauernroggen an den Bäcker Rosenmayer, der für Andreas Döllerer in Golling das wunderbare Brot bäckt, das dann – noch einmal warm aufgebacken – als eigener Gang im Menü serviert wird. Dieser Roggen, der aus dem Lungau kommt, hat sich gegen widrigste Wetterbedingungen durchsetzen müssen. Er erwies sich dabei als klein, aber stark. Vitalität und geschmackliche Wucht in kleinster Form.

Und dann noch die alten Sorten. Thorsten Probost arbeitet im Burg Vital Resort seit Jahren mit Einkorn, einer der ältesten domestizierten Weizensorten, welche kaum mehr zu bekommen sind. Er schwört auf ihre Bekömmlichkeit, besonders auch ihre Güte, wenn es um den Stoffwechel geht. Natürlich wird in Oberlech dann auch im Haus gebacken, und das besondere Brot gibt es nicht nur für die Gäste der Griggeler Stuba, sondern es ist auch Teil des Frühstücksbuffets. Die Backmischung für Probosts Einkornbrot hat dann allerdings einen weiten Weg hinter sich. Sie kommt aus einer Bäckerei im Waldviertel. Wir aber bleiben noch kurz in Lech. Dort sorgt die ortsansässige Back­stube mit ihren Semmeln für Applaus. Frage an Clemens Walch, den Bäcker mit dem Hozbackofen vorm Haus, der einen Teil der Lecher Gastronomie mit Brot und Semmeln versorgt: „Wie hält man es in Vorarlberg mit dem Mehl?“ „Wir verwenden österreichisches Mehl, haben zwei Müller. Wir bestehen auf unbehandeltes Mehl. Enzyme und Ascorbinsäure haben keine Chance. Bei uns wird auch alles selbst gemischt. Unser Ehrenkodex lautet: keine Backmischung.“ Und da sei nicht einmal den vertrauenswertesten Müllern zu vertrauen. Clemens Walch hat sich eine kleine Weizenmühle gekauft, schrotet alles im Haus. Man sagte ihm: „Sie brauchen Enzyme.“ Doch Walch sagte: „Nein.“ Mit der richtigen Teigführung sei es schon getan. Heißt Langzeitführung, kontrollierte Gärung. Brot: Zuerst das Mehl, dann der Müller, doch am Ende ist es auch eine Sache des Bäckerhandwerks. Gute Brotbäcker gibt es immer noch zu wenige. Gilt im Übrigen auch für Pizza.

Gragger & Cie
Vorgartenmarkt Stand 14–15 1020 Wien,
www.gragger-cie.at

Pizza Mari’
Leopoldsgasse 23A, 1020 Wien
www.pizzamari.at

Ströck Feierabend
Landstraßer Hauptstraße 82 1030 Wien
www.stroeck-feierabend.at

Lerchenmühle
Taggerstraße 43, 5440 Torren
www.lerchenmuehle.at

Rosenmayer
Bürgerspitalplatz 1, 5400 Hallein
www.baeckerei-rosenmayer.at

Helma Hamader
3580 St. Bernhard 48
www.meierhof.at

Backstube Lech
Omesberg 352, 6764 Lech am Arlberg
www.backstubelech.at