Wahre Schönheit kommt von innen
Die Rindsroulade ist das hässliche Entlein der Wiener Küche, was ihren optischen Appeal betrifft. Ich habe lange genug so genannten "Food-Fotografen" über die Schulter geguckt. Natürlich kann man auch eine Rindsroulade so fotografieren, dass es hart an Perfektion grenzt.
Wahre Schönheit kommt von innen
Text von Eva Deissen Illustration: Eva Deissen
Aber was man auch anstellt, sie wird nie so ausschauen, dass einem beim Anblick des Fotos das Wasser im Mund zusammenläuft.
Diese Speise kann man maximal so arrangieren: ein perfekt gelungenes Exemplar für das Foto schräg durchschneiden. Doch was sieht man dann schon auf dem Bild: ein paar rotbraune Tüpfelchen, das waren noch vor kurzem frische Karotten. Wenn man hellorange Karotten und grüne Gurkerln erkennen kann, ist das Foto eine Fälschung der Food-Stylisten. Denn auch die Essiggurken verlieren beim Garen selbstverständlich ihre frische Farbe.
Rindsrouladen sind ein klarer Fall von Hausmannskost, die das letzte Monopol der klassischen Hausfrau ist. Darum ist die Mutterprägung in ihrem Fall eine unauslöschliche. Bei uns zu Hause gab es Rindsrouladen, wenn überhaupt, ausschließlich an Sonntagen. Denn für alle Tage waren Rindsschnitzel zu teuer und der Arbeitsaufwand, in unserer Sprache hieß das "de furchtbare Patzerei", entschieden zu hoch.
Da braucht es schon einen besonderen Impetus. Und der hieß in meinem Falle Gegenbauer. Ja, ganz richtig, DER Gegenbauer, Erwin mit Vornamen, ein junger Feschak, den sie alle zärtlich "Gegi" nennen. Berühmt für die vielen, köstlichen Essigsorten, die in seiner Manufaktur heranreifen, von Muskat-Ottonell bis Chardonnay.
Was die jungen Ikonen der Wiener Geschmackskultur betrifft, spielt der Gegi bei den Ersten Geigern mit.
Als der freudige Sonntag nahte, an dem ich Gegi zum Mittagessen erwarten durfte, traf ich ihn glücklicherweise auf dem Naschmarkt beim Urbanek, wo sonst. "Was soll ich denn am Sonntag kochen?" benützte ich die einmalige Gelegenheit, ihn vorher zu fragen und meine Grübeleien über das Menü zu beenden. Es kam wie aus der Pistole geschossen: "Rindsrouladen!" D’accord.
Die Zubereitung von Rindsrouladen beginnt für mich mit einer Fahrt in der U4. Von der Kettenbrücke vier Stationen bis Wien-Mitte. Mit dem Lift in den zweiten Stock der Markthalle zum formidablen Stand der Fleischhauer-Dynastie derer von Miedler. Nur dort schneiden sie mir die Rindsschnitzel so, wie ich sie will. Ganz nebenbei: Bei einer Menge von mindestens zehn Stück – für weniger fange ich mir die Patzerei gar nicht an – wirken sich die zivilen Preise des großen Marktes nicht uninteressant aus. Hier bekomme ich auch die nach dem Rindfleisch zweitwichtigste Ingredienz meiner Rindsrouladen: den ganz gewöhnlichen Selchspeck. Diese Art von Speck ist kein Bacon und kein Lardo, er ist nichts weiter als fett und geselcht und so unscheinbar und billig, dass ich immer Angst habe, er wird eines Tages ganz aus dem Fleischangebot verschwinden, das uns heute fast nur noch aus den Supermärkten anspringt.
Beim Miedler haben sie ihn natürlich, den guten, alten Selchspeck. Wie viel? Na, ein ordentliches Trumm halt. Dann viele, viele Zwiebeln. Ein paar Karotten. Eine gelbe Rübe. Eine halbe Sellerieknolle. Und viel scharfen Senf. Einen österreichischen, auch wenn sie ihn hier den "französischen" nennen. Ein großes Glas süß-saure Essiggurkerln. Sardellenringerln und Essigkapern.
Da hätten wir ja schon die wichtigsten Zutaten beisammen. Rasch die Beute heim geschleppt.
Jetzt fehlen nur noch die unverzichtbaren Teigwaren. Bei Rindsrouladen MÜSSEN es ganz gewöhnliche Hörnchen sein. Keine andere Nudel ist imstande, sich von dem zu erwartenden köstlichen Saft der Rindsrouladen so gänzlich bis ins Innerste durchdringen zu lassen.
Dass wir nicht zu knapp Sauerrahm und eine Spur Mehl brauchen werden, versteht sich eigentlich von selbst.
Weil es noch welche gibt, kaufe ich noch ein halbes Kilo Preiselbeeren und ein paar Orangen mit genießbarer Schale.
Mit diesen Einkäufen und mit ein paar Tratschereien ist der Samstagnachmittag angenehm verplempert. Aber jetzt fängt die Patzerei an. Denn ich würde dringend abraten, für die Zubereitung von Rindsrouladen nur den Vormittag zu veranschlagen, sofern man noch halbwegs frisch zum Mittagmahl erscheinen möchte.
Zuerst der Selchspeck. Er muss frisch sein, daher weich und glitschig. Es ist eine ziemliche Hacken, ihn in möglichst kleine Würferl zu schneiden. Tränen müssen fließen, wenn viele Zwiebeln geschält und gehackt werden. Und jetzt verrate ich den Küchentrick von Mutter und Großmutter, die es aus unerfindlichen Gründen immer so gemacht haben: Zwiebelwürfel und Selchspeckwürfel in eine Schüssel geben, ordentlich pfeffern (schwarz) und mit den Händen innigst vermischen. Stehen lassen.
Karotten, gelbe Rübe und Sellerie schälen und in Stifte schneiden, die etwa der Breite eines Rindsschnitzels entsprechen. Ebenso die Gurkerln.
Jetzt die Rindsschnitzel einzeln auflegen, eventuell noch anhängende Hautränder mit einem scharfen Messer wegschneiden. Die Schnitzel nicht zu sachte mit dem hölzernen Fleischschlegel klopfen (das Angebot, die Schnitzel im Hause Miedler "durchrennen" zu lassen, habe ich selbstverständlich abgelehnt; dafür habe ich ihnen eine Spule Rouladenzwirn abgebettelt).
Sardellenringerln und Kapern zusammen fein hacken, die Moulinette erledigt das besonders gut.
Leicht ermattet, benütze ich diesen Zustand für eine sitzende Beschäftigung. Ich nehme den Rouladenzwirn her und schneide zehn ziemlich lange Stücke ab. In jedes Ende knüpfe ich eine Schlinge und ziehe den Faden einmal durch wie bei einem Lasso. Diese Vorarbeit wird später das Verschnüren der Rouladen sehr erleichtern. Hab ich jetzt gehört, da nimmt man doch Zahnstocher oder eigene Metallspieße, auch Rouladenringe soll es geben …? Fi donc.
Jetzt könnte ein Schluck Rotwein nicht schaden, denn es geht weiter.
Die geklopften Rindsschnitzel der Reihe nach auflegen, leicht salzen und pfeffern. Mit Senf bestreichen. Auf den Senf eine hauchdünne Schicht Tomatenmark streichen (das haben Mutter und Großmutter nicht gemacht, es ist mein innovativer Beitrag zur Tradition). Auf das Tomatenmark eine Schicht von der Sardellen-Kapern-Mischung streichen. Jetzt mit den Händen hinein in die glibbrige Speck-Zwiebel-Mischung und eine ordentliche Pfote voll als vierte Schicht aufbringen. Zuletzt mit den niedlich zurechtgeschnittenen Gurken-, Karotten-, Gelbrüben- und Selleriestreifen abwechselnd belegen.
Und jetzt, hätte die Großmutter gesagt, kommt der Moment, wo der Aff‘ ins Wasser springt: Das Ganze so einrollen, dass möglichst nichts von der Füllung herausquillt und auch die Gemüsestäbchen halbwegs an ihrem Platz bleiben.
Den Zipfel der Roulade mit dem vorbereiteten Lasso einfangen und rasch zusammenziehen. Uff. Jetzt hält das Ding. Rundum verschnüren und am oberen Ende verknüpfen.
Wenn die prallen Kerlchen solcherart ihrer strengen Fesselung unterzogen sind, ist der erste Gipfel der Lust erreicht. Ich bette sie entspannt seufzend neben- und aufeinander auf eine Platte und decke sie über Nacht mit Folie gut zu, damit sie sich für die morgen zu erwartenden Strapazen ein bisserl ausrasten können.
Da waren ja noch die Preiselbeeren. Das geht flott. Zucker im trockenen Topf hellbraun karamellisieren, im entscheidenden Augenblick mit Rotwein ablöschen. Zisch! Die roten Kügelchen dazugeben und ein bisserl Orangenzeste drüberreiben. Winzige Prise Salz. Leicht pfeffern. Kühl stellen.
Ein kleines Stück vom Nachtfilm, dann: schnarch.
Irgendwann im Traum habe ich noch Hühnereinmachsuppe mit Bröselknöderln gekocht, aber das wäre jetzt eine ganz eigene Geschichte und würde zu weit führen.
Erfrischt springe ich Sonntag früh aus dem Pfühl, denn bald geht es weiter. Der Topf, in dem den Rouladen der Gar-Aus gemacht werden soll, kann gar nicht geräumig genug sein, am besten aus schwerem Gusseisen. Gut passender Deckel ist lebenswichtig.
Da hinein, in diesen Topf, werfe ich alles, was mir gestern von der gepfefferten Speck-Zwiebel-Mischung übrig geblieben ist, das ist gar nicht wenig. Wenn beides glasig ist, kommen die Rouladen dazu und werden einzeln außen ein wenig angebraten. Aber nicht zu stark. Wenn alle Rouladen angebraten sind, in den Topf schichten. Sie können auch übereinander liegen. Ganz wenig Salz drüberstreuen und die Hitze reduzieren. Deckel drauf.
Nun habe ich Zeit, das Kochwasser für die Hörnchen aufzustellen. Salzen, Tropfen Öl, Lorbeerblatt.
Bald höre ich, wie die Rouladen bei gemütlicher Hitze in ihrem eigenen Saft vor sich hin zu schmurgeln beginnen. Wenn man den Deckel drauf lässt, kann nichts passieren, trotzdem muss man natürlich ein Auge drauf haben, dass sie in diesem Stadium ja nicht anbrennen.
Irgendwann kann man sie dann herausnehmen. Es ist eigentlich wurscht, ob sie jetzt schon gar sind oder noch nicht ganz. Wieder kommt eine lästige Arbeit: Man muss wie ein Chirurg die Fäden ziehen und wird sich voraussichtlich dabei die Finger verbrennen. Aber was soll’s. Die fast fertigen Rouladen sind höchstens so heiß wie die Liebe, die jetzt schon ganz stark den zu erwartenden Gästen entgegenschlägt. Bisserl auskühlen lassen. Verschnürung abwickeln. Die Rouladen müssen jetzt ihre Form schon von alleine halten.
Der ganz ohne Aufgießen hoffentlich reichlich entstandene Saft wird jetzt passiert. Früher hat man das durch das gute, alte Passiersieb mit dem hölzernen Stössel gemacht. Heute lassen wir den Stabmixer seine schnellen Dienste tun.
Jetzt kommt das G’machtl. Fragen Sie mich nicht, warum, aber Großmutter und Mutter nannten den Sauerrahm, in dem ein Teelöfferl Mehl verrührt wurde, ein G’machtl. Dieses rühren wir jetzt durch ein Haarsieb in den Natursaft, den wir wieder zum Köcheln gebracht haben. Mit der Schneerute gut verrühren, ein ordentlicher Klacks scharfer Senf kann an dieser Stelle nicht schaden.
Wenn dieser mollige Saft so ideal geworden ist, dass man mit dem Kosten und Abschmecken gar nicht mehr aufhören möchte, werden die Rouladen wieder in ihn zurückgebettet. Deckel drauf und bei milder Hitze einfach warten, bis es los geht. Die Hörnchen sollten sich jetzt auch schon voll Vorfreude in warmer Butter räkeln.
Nach dem Essen seufzt der gertenschlanke Gegi, der als einziger zwei Rouladen und ziemlich viel Hörnchen vertilgt sowie das Preiselbeerschüsserl ausgeschleckt hat: "Wie bei der Mama."
Da weiß frau, wofür sie die letzten 24 Stunden gelebt hat.