Weisses Gold

Seit Jahrtausenden wird in den Apuanischen Alpen in der Toskana Marmor abgebaut – und fast genauso lange Speck erzeugt. Kein Wunder, dass kaum ein Lebensmittel so verwachsen ist mit seinem Herkunftsgebiet wie der berühmte weiße Speck aus Colonnata.

Text und Fotos von Georges Desrues

Die Fahrt ins Bergdorf Colonnata gestaltet sich staubig und geschichtsbeladen. Es geht hinauf in die Apuanischen Alpen, die von den Alpen nur den Namen haben, in Wahrheit aber zum Apennin gehören. In beide Richtungen behindern Kolonnen von schwerbeladenen Lastwägen den Verkehr, eine dicke Wolke weißen Staubs hängt in der Luft, allerorts stehen mächtige Maschinenanlagen und hohe Schutthalden, es wird gebohrt, gehämmert, geschliffen. Was auf ersten Blick wie weiße Schneefelder an den Hängen und Gipfeln der Berge wirkt, sind in Wahrheit die berühmten Steinbrüche von Carrara, aus denen schon die antiken Römer den weißen Marmor schlugen, mit dem sie ihre Villen, Tempel und Statuen errichteten. „Sehen Sie da oben?“, sagt Davide Bruni und zeigt auf ein gewaltiges weißes Loch im Berg, „das ist der Steinbruch, in dem Michelangelo persönlich den Marmor für seine Skulpturen ausgesucht hat.“ Bruni leitet ein Unternehmen, das Touristen in die Steinbrüche und ganz hinauf auf den Berg bringt, von wo man einen atemberaubenden Blick hat auf die Marmorbecken, die glitzernde Ligurische See und das kleine Dorf Colonnata mit seinen 300 Einwohnern, von denen zwölf den berühmten Speck herstellen, den sie Lardo di Colonnata nennen.

Einer der Erzeuger ist Fausto Guadagni, er und seine Mitarbeiter sind gerade dabei, Speck einzulegen, eine Arbeit, die in einer traditionellen Larderia wie dieser nur von Oktober bis April erledigt wird, wenn die Temperaturen in den ungekühlten Kellerräumen noch tief genug sind. Genau wie draußen in der Landschaft regiert auch im Reifekeller die Farbe Weiß: Weiß ist die Marmortäfelung des Kellerraums, weiß die Kleidung der Männer, weiß auch die Marmorwannen, in die sie die – schneeweißen – Speckschwarten legen. „Bei dieser Technik können wir kein rotes Fleisch verwenden“, sagt der Chef, „es würde zu viel von dem Salz aufnehmen, mit dem wir die Schwarten einreiben.“ Salz und eine nur teilweise geheim gehaltene Gewürzmischung aus Muskatnuss, Zimt, frischem Knoblauch, Rosmarin und Salbei bedecken die quadratischen Teile, die selbst ein wenig wie Miniaturversionen der Marmorblöcke aussehen. Eng aneinander geschlichtet, müssen sie mindestens sechs, häufig aber bis zu zehn Monate und noch länger in den Marmorwannen reifen. Verarbeitet werden ausschließlich die Schwarten aus den Rücken von Schweinen, die allesamt aus Italien stammen, und zwar aus denselben Regionen, die auch für Parmaschinken zugelassen sind. Mit dem Unterschied, dass es sich hierbei nicht um Edelteile handelt wie bei den Keulen für den Prosciutto. Was die fetten Schwarten edel macht, ist erst die Verarbeitung und Reifung.

­Kommen Sie mit, wir haben auch noch einen größeren Schatz“, sagt Fausto Guadagni und stößt eine unscheinbare Türe auf zu einem kleineren Saal mit niedriger Decke. Fast hat man das Gefühl, in die sakrale Atmosphäre einer Krypta zu treten. In einer Ecke steht eine Christusstatue, natürlich aus weißem Marmor, und breitet schützend ihre Arme über einige Marmortröge aus, die kleiner sind als jene im Hauptreifekeller, offensichtlich ein paar Jahre mehr am Buckel haben und wie kleine Sarkophage wirken. „Früher waren sie zum Privatgebrauch gedacht, jetzt nutzen wir sie, um darin Spezialitäten zu reifen“, sagt Guadagni und zeigt auf die kleinen Tafeln, die auf den Trögen stehen. Mora Romagnola steht auf einem zu lesen, Cinta Senese auf einem anderen, Mora Calabrese auf einem dritten. Es sind alte, teilweise vom Aussterben bedrohte italienische Schweinerassen, deren Schwarten hier ebenfalls zu Lardo ­heranreifen. Von ganz anderer Konsistenz sei ihr Fett, viel üppiger, zugleich weicher, aber vor allem nicht so weiß wie jenes der ­normalen Schweine, betont Guadagni. „Hier experimentieren wir ein wenig, benennen dabei die Produkte anders, weil die Rassen für die Herkunftsbezeichnung di Colonnata nicht zugelassen sind“, sagt er. So reift hier unter anderem ein Lardo, den sie Mediterraneo nennen und bei dem das Fett der Schweine zwar ebenfalls mit Salz, aber auch mit anderen Gewürzen und Kräutern eingerieben wird, in diesem Fall mit scharfem Chili und getrockneter Schale von Bergamotte, zwei Produkte, die typisch sind für die Region Kalabrien im Süden ­Italiens, aus der auch die Schweine stammen.

Gleich gegenüber der Larderia liegt die Trattoria Locandapuana, die Guadagnis Schwester Carla gehört und wo die Männer mittags zu essen pflegen. Doch bevor es zu Tisch geht, möchte der Speckmacher noch eine Runde durch den Ort ­drehen. Sie führt vorbei am Marmordenkmal für die zahlreichen Steinhauer, die bei dem einst so gefähr­lichen Abbau und Abtransport der Marmorblöcke ihr Leben gelassen haben, sowie an Gedenktafeln (aus Marmor) für ruhmreiche Anarchisten, die sich für die Rechte der Arbeiter in den Steinbrüchen eingesetzt ­haben. Bis heute gilt Carrara mit seinen Ortsteilen, zu denen Colonnata gehört, als Zentrum der anarchistischen Bewegung in Italien. „Über Jahrhunderte waren es sehr harte Arbeitsbedingungen, der Marmor wurde per Hand aus den Steinbrüchen geschlagen und mit Ochsenkarren abtransportiert. Dabei war der Speck oft die einzige nahrhafte Mahlzeit, die den Marmoristi überhaupt zur Verfügung stand“, sagt Flavio.

In der Trattoria serviert seine Schwester Carla Crostini mit Lardo und Sardellen, dazu einen Teller mit hauchdünnen Scheiben Lardo ohne nichts und einen anderen mit „Carpaccio“ vom Lardo mit Kapernbeeren, Frühlingszwiebeln und etwas Olivenöl. Auch zum Kochen hätten die Frauen von Colonnata einst eher zu Speck gegriffen als zum damals viel teureren Olivenöl, etwa für die Zubereitung der Taglierini nei fagioli, dieser lokalen Spielart der in ganz Italien beliebten Pasta mit Bohnen. Heute jedoch sei Schweinefett aus der Mode gekommen, zumindest als Kochfett. Als Delikatesse aber sei der weiße Speck aus Colonnata so beliebt wie noch nie, „Lardo di Colonnata gilt als eine der am meisten gefälschten italienischen Herkunftsbezeichnungen überhaupt, Fälschungen kommen aus ganz Europa“, bedauert Guadagni. Und das, obwohl es doch weltweit kaum ein zweites Lebensmittel gebe, das auf so einzigartige Weise mit seinem Herkunftsgebiet und dessen Geschichte verwachsen sei wie der weiße Speck aus dem weißen Marmor von Carrara .