Wer alles will … soll nichts verschwenden
Text von Eva Rossmann Illustration: Tim Möller-Kaya
Der Blick unserer Praktikantin ist unschuldig, gutwillig und wissbegierig. Und: Caro ist alles andere als dumm.
„Wegwerfen“, antworte ich. „Nicht einmal uns fällt etwas ein, das man aus Bananenschalen machen könnte.“
Wunder ist es eigentlich keines, dass Caro fragt. Fast alles lässt sich verwenden, das war auch eines der ersten Dinge, die ich in unserem Gasthaus nahe der Stadt gelernt habe. Ein paar Jahre hat der Buchinger nebenbei Kochen unterrichtet. Die Kids gaben ihm den Namen „Professor Schmeißnixweg“. Ich kann mir vorstellen, wie er nicht nur sie, sondern auch seine Kolleginnen und Kollegen damit
irritiert hat, dass Karottenschalen, Lauchreste, Zwiebelüberbleibsel, Gelbe-Rüben-Spitzen und Brokkolistrünke am Ende einen wunderbaren Gemüsefond ergeben können.
Als ich ein Kind war, mussten wir immer ganz brav aufessen, weil es in Afrika sooo viele kleine Negerlein (damals hat man sie noch so genannt und sollte versteckter Rassismus mitgeschwommen sein, hatte man ihn noch nicht enttarnt) hungern müssen. Also wurde ich – allerdings nicht nur dadurch, ich habe ohnehin gern und viel gegessen – ziemlich wohlgenährt. Denen in Afrika hat mein Übergewicht leider, so viel mir bekannt ist, nichts gebracht. Aber Essen verschwenden, Lebensmittel wegwerfen: Das hat man – zumindest so, wie ich aufgewachsen bin – einfach nicht getan.
Heute landen, speziell nach Feiertagen, ganze Truthühner inklusive Originalverpackung im Müllcontainer. Meine Güte, sie waren eben so billig, und dann noch das Angebot zwei statt einen zu nehmen: So waren sie fast schon geschenkt! Nur: Essen konnte man schon den ersten großen Vogel kaum, der zweite wurde im Kühlschrank alt und immer älter und schließlich flog er ein letztes Mal – hin zu den städtischen Entsorgungsbetrieben.
Ähnliches würde man sich allerdings – Verschwendung hin oder her – manchmal wünschen. Dann nämlich, wenn wieder einmal zu lesen ist, was in gewissen, strikt der heiligen Gewinnmaximierung verpflichteten Gastronomieunternehmen verwendet wird. In vollen Zügen oder halbleeren Sälen kann Gast beweisen, was sein Magen so alles an ergrauten Würsten, gut abgelegenem Salat und interessant überwürzten Ragouts aushält.
Mein Blickfeld als professionelle Köchin ist ja, ich gebe es zu, ein wenig eingeschränkt. Seit meiner Recherche für den Gastro-Krimi „Ausgekocht“ bin ich, wenn immer es sich ausgeht, beim Buchinger und sautiere, brate, backe, schneide, mariniere, schwitze und freu mich über Gäste, die wiederkommen. Nur hin und wieder ergibt sich ein Ausflug in fremde Küchen. Das hat dann meistens mit speziellen Weinviertler Menüs zu tun. Oder wenn eine bekömmliche Verbindung von Krimilesung und Kulinarik angesagt ist. Oder, noch seltener, wenn wir auswärts Kochkurse geben.
Gleich alle drei Gründe waren beteiligt, dass ich in die eindrucksvolle Küche eines sehr schönen Hotels in St. Moritz kam. Atemberaubend, so viele Köche (Köchinnen gab es kaum) in gleich drei Küchen in einem riesigen Raum im Untergeschoß. Ich musste ein paar Mal tief durchatmen und mir klar machen, dass auch die (so wie wir) nur mit Wasser kochen. Dann hab ich getan, was ich inzwischen auch kann: Nicht nur selbst kochen, sondern auch Leute einteilen zu kochen. Die Terrine aus sauren Rüben und geräuchertem Wildkarpfen war fertig, wunderbar, gerade richtig fest, nicht hart wie Plastik, aber auch nicht matschig. Aufschneiden, auf ein Blech legen, damit sie bald auf Teller gehoben und angerichtet werden kann. Ich kümmere mich kurz um unsere Vinaigrette, schaue wieder zurück und erstarre: Dieser biedere junge Schweizer Koch schneidet von jeder Terrine den Anschnitt zwei Zentimeter dick weg und wirft ihn in den Mülleimer. Ich stürze hin, frage etwas heftig (wie es bisweilen meine Art ist, wenn’s für mich ums Eingemachte, also ums Kochen, geht), ob er übergeschnappt sei? Er sieht mich fassungslos an. Ich deute auf den Kübel. „Das ist schon in Ordnung so, das ist unser Bio-Eimer“, stammelt er verunsichert.
Erst etwas später hat er verstanden, dass es mir nicht um korrekte Mülltrennung ging, sondern um etwas anderes: Selbst wenn die Gäste so verwöhnt sind, dass man ihnen keine – ganz frischen – Anschnitte vorsetzen mag, dann gibt es doch die rund 200 Mitarbeiter im Hotel. Personal-essen. Leute, die gerne eine Saure-Rüben-Wildkarpfenterrine mit nach Hause nehmen würden. Und wenn selbst das für die Schweiz alles nicht stimmte: Wären die Dinger nicht schon im Biokübel gelegen, ich hätte sie lieber auf einen Sitz aufgegessen, als sie wegzuwerfen. Was – ja, ich weiß, dass es auch jetzt – unterernährten Kindern in Afrika oder anderswo nichts bringen würde. Trotzdem.
Und außerdem: Erlerntes lässt sich ja auch weiterdenken. Sinnvollerweise bedeutet, nichts zu verschwenden, nichts übrig zu lassen, Lebensmittel zu nutzen auch, dass wir einfach nicht mehr einkaufen, verarbeiten und essen als wir brauchen. Statt des solidarischen Zuvielessens der Siebziger-Jahre also sorgfältiger Umgang mit unseren Ressourcen. Der nutzt nämlich schon. Nicht nur uns und unserer Geldbörse, sondern auch denen, die Mangel leiden. Weil zumindest weniger Schadstoffe und Folgekosten durch Transport anfallen. Weil die Müllhalden kleiner werden und weniger verpesten. Weil wir stattdessen ein paar Cent mehr für bessere und unter fairen Bedingungen hergestellte Lebensmittel zahlen können.
Irgendwann einmal wollte die Stadt-Wien-Bibliothek von mir einen Spruch für eine Kulinarik-Ausstellung. Ich hab lang überlegt, schon gedacht, ich spar mir alle klugen Worte und schreib einfach „Mahlzeit“, interpretiere, damit es nicht gar so banal klingt, den Wortteil „Zeit“ als wichtig für jedes gute „Mahl“, als mich gerade noch rechtzeitig ein junger Koch und ein dünner Gast auf etwas anderes gebracht haben. Der junge Koch hat eigentlich in einem der Wiener Gourmettempel gearbeitet und wollte für einige Tage an Buchingers ländlich kreativem Herd Abwechslung finden. Ich war einigermaßen nervös. Was, wenn ich gegen den Luxusbuben total abstinke? Es war dann sehr viel zu tun, und als unser Bauer ein Lamm geliefert hat, hatte ich längst keine Zeit mehr für solche Gedanken. Aber auch keine Zeit für das nett in seine beiden Hälften zerteilte Tier. Wenn unser Jungstar bereit ist, alles zu tun, dann soll er bitte schnell das Lamm auslösen. Er nickt. Ich bespreche die Tagesempfehlungen – und als ich wieder zu unserem Gaststar sehe, steht er mit einem Messer, das beileibe kein Ausbein-Messer ist, vor dem ersten halben Lamm. Oh, er hat nicht das richtige Werkzeug mit. Ich reiche ihm mein Lieblingswerkzeug. Er dankt und murmelt: „Das hab ich schon lange nicht mehr gemacht …“ Und wenig später weiß ich, dass in ihrer Gourmetküche das Lamm vakuumiert und portioniert geliefert wird: Alles in allerbester Qualität natürlich. Ausschließlich Edelstücke. Filets und Rücken. Wenig später gehe ich zu einem Tisch, um einen meiner Krimis zu signieren. Natürlich frage ich, ob es geschmeckt hat. Alle sind des Lobes voll. Nur eine sehr schlanke Frau sagt nichts. Naja, antwortet ihre Tischnachbarin auf meinen fragenden Blick hin. „Sie hat sich ein Filet erwartet, bei ihrem Rind war ein richtiges Stück Fett dran.“ Gallowayrinder.
Wir haben sie vom Krexner-Bauern aus der Nachbargemeide Kronberg. Sie dürfen ihr ganzes Leben im Freien auf der Weide verbringen. Sie sind besonders zart, weil ihr Fleisch marmoriert ist. Und am Beiried ist eine Fettschicht, die wir knusprig anbraten und die so gut schmeckt, dass wir sie dran lassen. Wer sie nicht mag, kann sie ja immer noch wegschneiden. „Mir wird leider ganz anders, wenn ich Fett nur sehe“, antwortet die Frau auf meine Erklärung hin. Sie hatte übrigens eine tolle Figur. So eine, mit der man wirklich alles tragen kann. Selbst Schlauchkleider, in denen ich aussehe wie eine verirrte Knackwurst. Trotzdem: Sie hat mir irgendwie leid getan, sie hat einfach was versäumt.
Das intensivste Aroma hat mit Knochen, mit Fett, mit dem Fleisch neben den Flaxen zu tun. Mit Schalen und dem, was knapp darunter ist. Nichts schmeckt köstlicher als angeröstete Fleischknochen, frisch aus dem Ofen, das, was essbar ist, mit den Fingern heruntergezupft. Frische Bio-Erdäpfel samt Schale: Dafür lasse ich jedes Edelgemüse aus dem Tiefkühlschlaf stehen. Und für unser Bruckfleisch kam einst sogar einer aus Italien, ein vornehmer Herr, trotzdem voll Temperament und jedenfalls der deutschen Sprache nicht mächtig. Walter hat schon geglaubt, der Italiener bekommt einen Herzinfarkt, so wild hat er sich abwechselnd auf Brust und Bauch geschlagen. Mein Küchenitalienisch hat zum Glück gereicht, um zu klären, dass er damit bloß auf Herz, Leber, Lunge und all das Köstliche, das einst von der Schlachtbrücke fiel und gutes Bruckfleisch ausmacht, hindeuten wollte.
ALLES zu verwenden, das ist für mich auch ein Zeichen des Respekts gegenüber anderen Lebewesen.
Naja. Vielleicht dient es auch zur Beruhigung des schlechten Gewissens. Weil: Wenn ich die kleinen Lämmer und die wolligen Mangalitza-Schweinchen und die jungen Ziegen sehe, werde ich schon immer wieder zur Vegetarierin. Zumindest für einige Minuten.
Niemand soll mir sagen, dass Tiere keine Gefühle haben, dass sie nicht gerne leben und herumspringen. Man muss sich nur Herkules ansehen, Buchingers Schäfermischling, der gar nichts Antik-Kampfbetontes hat, sondern so ziemlich das freundlichste Hundsvieh zwischen Riedenthal und Nebraska ist. Klar, Hunde werden bei uns nicht gegessen, aber das ist auch nur ein geringfügiger Unterschied zu anderen Ländern. Und schon gar kein zivilisatorischer.
Auch wenn es bei uns viele auf die von anderswoher herabschauen, wenn sie älter gewordene Schafe und Hühner, Lammköpfe und alles das kaufen, was billig ist: Sollten wir das, was nicht jeder Idiot zart braten kann, besser wegwerfen? Für den echten Coq au Vin braucht man eben einen Hahn, der schon einige Zeit gekräht hat. Und aus Lammfilet wird nie ein ordentlich duftendes Hammelragout. Viel Geld ist für solche Speisen nicht notwendig, dafür aber Zeit und Geschmack. Soll ein jeder für sich selbst entscheiden, was ihm lieber ist.
Ich jedenfalls bin mir sicher: Zu verwenden statt zu verschwenden ist nicht nur sparsam. Es ist auch nicht bloß moralisch oder gar solidarisch. Es ist einfach spannend. Es fordert die Kreativität. Es bringt, fernab modischer Schäumchen, neue Geschmackserlebnisse.
Ach ja, der Spruch, den die Kulinarik-Aussteller schließlich von mir bekommen haben: „Wer immer nur Filets isst, der hat auch sonst im Leben einiges versäumt.“