Wie macht das die Tante Jolesch?

Rezepte für Krautfleckerln sind wie Sex mit dem Kamasutra in der Hand. Nicht einmal die Mutter wird dir in manchen Bereichen ihr Innerstes verraten. Hier wie dort hilft nur beherzte Feldforschung am eigenen Herd.

Wie macht das die Tante Jolesch?

Text von Eva Deissen Illustration: Eva Deissen
Ödipus muss von seiner Mutter Jokaste mit Krautfleckerln großgezogen worden sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass dieser Inbegriff eines Arme-Leute-Essens bei Männern derart heftige Gefühlswallungen auszulösen vermag. Krautfleckerln können nicht gerade als Diskussionsstoff für die großen Küchen gelten. Aber zumindest in den Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Kronländer lassen sie niemanden kalt. Wie schmecken Krautfleckerln eigentlich? Schwer zu beschreiben. Oder doch: wie bei der Mama!
Emotionen prallen aufeinander. Die eine Partei schüttelt sich vor Ekel und gräbt sofort traumatische Kindheitserlebnisse von Internaten oder Schulschikursen aus. Die andere verfällt in sinnliches Schwärmen. Manche Männer können "Kochst mir einmal Krautfleckerln?" derartig ins geneigte Ohr einer Frau schnurren, dass die Frage einem unsittlichen Antrag, spätere Heirat nicht ausgeschlossen, gleichkommt.
Bald nach der Hochzeit hatte mein Vater an meine Mutter oben genannte Schicksalsfrage gestellt. Mit Lampenfieber machte sie sich ans Werk, denn sie kannte diese Speise nicht aus eigener Erfahrung, nur vom Hörensagen. Ob es dem frisch gebackenen Göttergatten geschmeckt hat? "Na ja, ganz gut", sagte er, der die russische Kriegsgefangenschaft noch in den Knochen hatte und daher als leicht zufrieden zu stellender Esser galt, "aber meine Mutter hat sie halt anders gemacht." Erster schwerer Ehekrach. Tränen. Damit waren Krautfleckerln bei uns vom Tisch, sowohl als Speise als auch als Gesprächsthema, und zwar für immer. Ich kannte als Kind das Wort Krautfleckerln nicht einmal vom Hörensagen.
Auf meinem ersten Schulschikurs wurde mir nach langem Fußmarsch auf eine abgelegene Berghütte ein gräulich-bräunlicher Gatsch serviert. Ich betrachtete die Speise nachdenklich und schloss mich der Meinung meiner Mutter an, dass es nicht Gottes Wille sein kann, dass der Mensch etwas so Perverses tut, wie letscherte Teigwaren mit letschertem Weißkraut zu vermischen.
Bis ein Mann mir etliche Jährchen später die Gretchenfrage stellte. Es war vor einem großen Künstlerfest im Berliner Szenelokal "Paris Bar". Man wollte Malerfürsten wie Joseph Beuys, Jörg Immendorf und Markus Lüppertz mit Wiener Spezialitäten überraschen. Gefüllte Kalbsbrust, Kalbsschnitzel, Grammelknödel standen schon auf dem Schlachtplan. Da seufzte der Gastgeber, der Exil-Berliner Reinald Nohal, gebürtiger Weinhauerssohn aus Neustift am Walde: "Und kannst net Krautfleckerln machen?" Aber die sind doch so was von ordinär! "Na geh", wurde ich umschmeichelt, "meine Mutter hat die immer so herrlich g’macht …"
Das saß. Das Thema Krautfleckerln begann in mir zu nagen. Wenn so viele kulinarisch durchaus ernst zu nehmende Leute sich immer wieder Krautfleckerln wünschen, dann muss doch irgendetwas dran sein an dieser Speise. Aber was? Ungefähr zur selben Zeit erschien Friedrich Torbergs Bestseller "Die Tante Jolesch", von der uns auch nur die kryptische Antwort auf dem Totenbett überliefert wurde: "Ich hab immer e bissele zu wenig gemacht." Keine wirklich praktikable Anleitung, um hundert Gäste zu verwöhnen.
Wenn es früher im Stiegenhaus eines Wiener Gründerzeithauses nach Krautfleckerln roch, dann sagte man: "O je, bei denen gibt’s scho wieder Krautfleckerln, des kennt ma glei am Armeleutg’ruch!" Heute servieren unsere raffinierten Chefs in ihren Spitzenlokalen Krautfleckerln zum böhmischen Karpfen und zur Flugentenbrust. Verbeugung vor der "cucina povera".

Kochbücher zählen Krautfleckerln selten zu ihrem Standardrepertoire. Die Anleitungen sind lapidar. Um die Pflicht zu erfüllen, werden sie allemal genügen. Aber die Kür? Das Ewigweibliche? Das uralte Wissen von Großmüttern, Müttern und Tanten seit der Venus von Willendorf? Vergessen Sie’s. Rezepte für Krautfleckerln sind wie Sex mit dem Kamasutra in der Hand. Nicht einmal die Mutter wird dir in manchen Bereichen ihr Innerstes verraten. Hier wie dort hilft nur beherzte Feldforschung am eigenen Herd.
Da ich persönlich nicht bis zum Totenbett warten möchte, versuche ich schon hier und heute, meine Forschungsergebnisse mit Ihnen zu teilen: Wenn Sie für Ihre Liebsten Krautfleckerln kochen wollen, spucken Sie in die Hände. Vergessen Sie das vom Händler vorbereitete Schnittkraut! Zerlegen Sie einen weißen Krautkopf in Viertel und schneiden Sie das Kraut zuerst in zwei Zentimeter breite Streifen, dann in Viereckerln, die aus irgendeinem mystischen Grund nicht quadratisch sein dürfen, sondern rhomboid sein sollten. Auch reichlich Zwiebeln nicht fein schneiden, sondern in gröbere Würfelchen. Fundamentalistinnen greifen nun zum Schweineschmalz, aber normales Pflanzenöl tut’s auch. In einer großen Edelstahlpfanne mit dickem Boden und gut passendem Deckel die Zwiebeln im heißen Fett glasig anlaufen lassen. Mit Kristallzucker bestreuen und tüchtig rühren, bis der Zucker geschmolzen ist. In der Sekunde, wo er zu karamellisieren beginnt, also leicht gelblich wird, das Kraut sofort dazugeben. Kräftig durchrühren und nicht zu sparsam salzen, nochmals gut durchrühren. Deckel drauf und etliche Sekunden die Nerven bewahren. Wenn man den Deckel jetzt wegnimmt, sollte das Kraut bereits in seinem eigenen Saft, den das Salz herausgezogen hat, schmoren. Und dieser Natursaft genügt! Man muss nicht aufgießen, weder mit Wasser, noch mit Suppe, noch mit Weißwein. Nur immer wieder umrühren und immer wieder gleich zudecken. In wenigen Minuten ist das Kraut bissfest und gar. Deckel weg und weiter rühren, bis die krauteigene Flüssigkeit fast völlig verdampft ist. Weiter rühren, bis das Kraut durch und durch goldbraun und rundum glänzend geröstet ist. Die Fleckerln sind in der Zwischenzeit in reichlich Salzwasser bissfest gekocht. Im Sieb abtropfen lassen und zu dem dunkelgoldenen Kraut geben. Heftig umrühren, kräftig pfeffern, fertig. Die Nässe der Fleckerln genügt, um sich mit dem Karamell des Krautes zu verbinden. Den häufig empfohlenen Kümmel finde ich verzichtbar.
Ach ja, die Fleckerln. Woher nehmen wir die? Puristen und Besitzer einer Nudelmaschine könnten sie natürlich selber machen. Meine Großmutter pflegte jede Woche den Bedarf an Suppennudeln für die ganze Familie herzustellen, indem sie Mehl, Ei, Salz und Wasser verknetete, mit dem Nudelwalker ausrollte und jeden freien Quadratzentimeter in der Wohnung mit weißen Tüchern bedeckte, auf denen dann die Nudelflecke trockneten. Heute würde man für einen guten Nudelteig kein Wasser nehmen, dafür entsprechend mehr Eier und etwas Olivenöl. Eier und Öl waren zu Omas Zeiten rar. Und Nudeln wurden nicht hausgemacht, weil das so schick war, sondern weil es eine Sünde gewesen wäre, so etwas Watscheneinfaches um teures Geld beim Greißler zu kaufen. Heute könnte man selbst gemachte Fleckerln nicht mehr zu dem Preis herstellen, um den man sie im Supermarkt bekommt. (Kleine Indiskretion: Am besten sind die billigen, wo clever draufsteht.) Aus den runden Nudelflecken wurden schöne, breite Streifen geschnitten, und diese wiederum in schöne, schmale Nudeln. Was bei dieser Prozedur an den Rändern abfiel, wurde dann zu Fleckerln weiter verarbeitet.
Fleckerln waren eigentlich nie das angestrebte Ziel der Nudelzubereitung im eigenen Haushalt, sondern eher ein Nebenprodukt. Plumpe, arme, etwas formlose Verwandte jener eleganten, schlanken Vettern, die wir später als Fettuccine kennen lernten. Ob das der Grund ist, warum gerade die Fleckerln so von Herzen geliebt werden?
Als ich das erste Mal Italien bereiste, damals natürlich in Richtung Caorle, fand ich auf einer Speisenkarte zu meiner größten Verwunderung eine Speise namens "Fazzoletti". Dieses Wort hatte ich bis dato nur als Ausdruck für jene allerliebsten kleinen Kopftüchlein gekannt, wie sie in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gleichzeitig mit Petticoat, Fischerhosen und Baby Pumps in Mode kamen. Die Schauspielerin Audrey Hepburn trug ein Fazzoletto in ihrer Rolle als bezaubernde "Sabrina". Fazzoletti auf der Speisenkarte? Bald dämmerte mir, dass mit diesem Wort nicht nur kleine Fetzerln als Kopftüchlein, sondern eben auch Fleckerln aus Teig gemeint sein konnten.
Die Krautfleckerln der Tante Jolesch sind in die österreichische Literatur eingegangen. Und die Schinkenfleckerln in die Wiener Musik. Hermann Leopoldis gleichnamiges Lied geht bekanntlich so: "Warum spielt in d‘ Schinkenfleckerln immer nur des Fleisch versteckerln?"
Was wir gemeinhin als Schinken angeboten bekommen, eignet sich vielleicht für die Frühstückssemmel, nicht unbedingt jedoch für Schinkenfleckerln. Wenn man nicht zu den Privilegierten gehört, für die Gerhard Urbanek am Naschmarkt seine delikaten Stelzerln vom Beinschinken unter der Budel aufhebt, nimmt man besser einen Rollschinken oder das so genannte "Teilsame", das preiswerter ist und würziger durch kräftigeren Räuchergeschmack. Bei meinem jüngsten Versuch, Schinkenfleckerln ohne Fleischversteckerln herzustellen, nahm ich ein Stück Teilsames von mehr als eineinhalb Kilo auf eine Menge von 40 Deka Fleckerln. Dann das übliche Trallala mit Butter-Dotter-Abtrieb, Sauerrahm, Eischnee, Salz, Pfeffer, Muskatnuss, auch reichlich Reibkäse darf da hinein, das weiß ich vom Gerer, der übrigens auch Majoran dazutut.
Als ich die fertige Pracht der überbackenen Schinkenfleckerln vor den begeisterten Gästen aufzuteilen begann, hatte ich dennoch eine liebe Mühe, jedem zu einem gerechten Anteil an Schinken zu verhelfen. Warum spielt das Fleisch vesteckerln? Fragen der Wiener Küche, die auf ewig unbeantwortet bleiben werden. Ach ja, falls Sie mich nun fragen wollen, wie viel Zucker ich in die Krautfleckerln hineintue, kann ich nur reziprok zur Tante Jolesch antworten: "Ich habe immer genug genommen."
einladung