Wie Moleküle munden

Oder: Wenn Pommes frites am Gaumen explodieren.

Von Andrea Karrer Illu von Peter Jani

Traditionalisten und Modernisten werden die Frage, wie Essgenuss im 21. Jahrhundert ausgelöst werden kann, wahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Kann man völlig neue Gerichte erwarten, solange es keine neuen Tiere oder Früchte bzw. neues Gemüse gibt? Ich glaube nicht. Es wird sicherlich schwer sein, Speisen zu kreieren, die geschmacklich so neu sind, dass man von ihnen sagen kann, so habe man sie noch nie gegessen.

Diesen hohen Anspruch erfüllt sicherlich der als molekular firmierende Kochstil, mit dem Ferran Adrià bekannt wurde. Diese Küche, die – ja, fast respektlos – alles Dagewesene in Frage stellt, die Heißes eisig auf den Tisch bringt, Kaltes erhitzt, Festes verflüssigt, Flüssiges kristallisiert, die nahezu artistisch mit Schäumen, Gelees und Emulsionen spielt, die radikal verfremdet und dabei Neuartiges schafft, stellt die klassische Haute Cuisine sozusagen auf den Kopf. Sie überwindet die Tradition und illusioniert – wie bei der Kunst des Trompe l’oeil – den Essenden, indem das Auge etwas anderes signalisiert, als der Gaumen später wahrnimmt. Keine Frage, Adrià, der Textur-Magier, hat selbstbewusst und kühn in seinem Restaurant El Bulli bei Barcelona eine wahrhaft neue Küche entworfen: Bekannte Gerichte und Produkte werden in ihre Einzelteile zerlegt, analysiert, in ­ihrer Textur vollkommen verändert und in anderer Form und Konsistenz sowie Temperatur zu völlig neuen Speisen geformt. Aus Holundersaft und Melonen entsteht falscher Kaviar, aus Olivenöl entstehen Bonbons, aus Flüssigkeiten werden bunte Würfel hergestellt, und das berühmte „heiße Eis“ schmilzt beim Abkühlen im Mund. Kochkunst auf höchstem Niveau.

Ist eine rote Rübe noch eine rote Rübe oder ein Erdapfel noch ein Erdapfel, wenn das eine zu Schaum gerinnt und das andere flüssig serviert oder dem Gast gar als nitrorote Kügelchen unter dampfenden Wolken gereicht wird, mit der fürsorglichen Empfehlung, die Speise zwischen Zunge und Gaumen wirkungsvoll aufplatzen zu lassen?

Die Molekulargastronomie scheidet die Geister recht schroff. Die einen bejubeln sie als epochalen Sprung in der Entwicklungsgeschichte der Küche. Andere reagieren erschrocken auf die absichtlichen Verfremdungen.

Wie sieht das nun mit „banalen“ Pommes frites aus? Kann man Pommes frites auch im Stickstoff „frittieren“ bzw. können sie für molekulare Geschmacksexplosionen sorgen?

„Zum Frittieren im Stickstoff eignen sich Lebensmittel, die durch das Schockfrosten bei –196 °C ihre Textur beziehungsweise ihren Aggregatzustand verändern, zum Beispiel eine knackige Salatgurke, die elastisch und weich wird “, erklärt Drei-Hauben-Koch Heinz Hanner aus Mayerling mit dem ihm eigenen verschmitzten Lächeln. „Klassische Pommes frites kann man im Stickstoff jedoch nicht zubereiten, denn der Erdapfel ist in seiner Konsistenz hart, im Stickstoffbad wird ihm Wasser entzogen, er wird spröde und gefriert demnach wie Wasser. Pommes frites würden richtig kristallig und hart am Gaumen sein – man kann es sich vorstellen, wie wenn man einen Eiswürfel im Mund zergehen lässt.“ Hanner verrät im selben Atemzug, wie es aber funktionieren könnte: „Man könnte eine Art Erdäpfel-Baiser zubereiten: Erdäpfel kochen und gemeinsam mit Obers, Olivenöl oder Butter (aber wenig!) als eine Art Püree durch ein Sieb in die Isi-Flasche passieren. Patrone eindrehen, auf einen Esslöffel spritzen und im Stickstoffbad bei –196 °C „frittieren“ – keine Hexerei. Kann jeder. Denn wenn die Luft sozusagen zu Schaum gepresst wird, potenziert sich der Eigengeschmack. Der Geschmack explodiert gewissermaßen an der Luft, daher spricht man auch bei vielen Gerichten der Molekularküche von Geschmacksexplosionen am Gaumen.“

Etwas Temperaturgefühl benötigt man auch für die klassische Zubereitung der Erdäpfel­stäbchen: Das Geheimnis rundum gelungener Pommes frites ist nämlich das zweimalige Frittieren in Pflanzenfett (in Belgien in tagesfrischem Rinderfett; nur das verleihe den Stäbchen ein an Haselnuss erinnerndes Aroma, wohingegen Öl neutral wirke). Als Erdäpfel sollte man eine mehlige Sorte wie ­Bintje oder Agria verwenden und diese möglichst frisch zuschneiden: Ein Durchmesser von 13 Millimeter gilt als ideal, mindestens 11 sollten es sein. Im ersten Ölbad garen die Pommes frites sanft bei einer Temperatur von ­maximal 140 °C. Sobald sie nach etwa fünf Minuten leise simmernd an die Oberfläche schwimmen, werden sie aus dem Fett gehoben und gründlich mit Küchenpapier abgetupft. Nach einem etwa halbstündigen Abkühlen (es kann auch ruhig länger dauern) sind sie bereit für den zweiten Durchgang, der drei bis vier Minuten lang bei einer Temperatur um die 170 °C erfolgt. Jetzt sollten die Pommes knusprig und goldbraun sein.

Die zweigeteilte Methode hat Sinn. Im ersten Tauchbad wird den Erdäpfeln ein Großteil ihrer Feuchtigkeit entzogen. Sie garen, ohne braun zu werden, so dass ihr Inneres später wie Püree cremig auf der Zunge zergeht. Für die Knusprigkeit und die goldgelbe Farbe sorgt schließlich der zweite Frittierdurchgang. Danach lässt man die à la minute hergestellten Pommes frites kurz abtropfen, bevor sie gesalzen und serviert werden Der Belgier kombiniert seine ­Fritten übrigens gerne mit sauren Muscheln, hart gekochtem Ei, Saucen und pikanten Beilagen, Gewürzgurken, Schmorfleisch, Frikadellen oder Cervelatwurst. Dass Pommes frites erst nach der zweiten Hitzewallung richtig gut schmecken, also außen knusprig und innen weich, haben Lebensmittelforscher an der englischen Leeds University bestätigt. Die Pommes, so konstatierten die Wissenschaftler nüchtern, seien nach dem ersten Frittieren richtige „Primitivlinge“. Erst im zweiten Gang entwickelten sie den ­typischen komplexen Geschmack mit bis zu neun wesentlichen Bestandteilen wie Karamell, Kakao, erdiger Erdapfel, Käse, Zwiebel, Blumen – und warmes Bügelbrett, was auch immer man sich darunter vorstellen mag. Weitaus prosaischer hat sich Heinrich Böll, der Dichter und Literatur-Nobelpreisträger zu Pommes geäußert: „Selig, die mit den Fingern essen dürfen.“

… stellt sich die Frage, ob es sich bei so viel Avantgarde um einen Trend mit Zukunft handelt oder ob die Mehrheit der hungrigen Gourmets nicht doch lieber in etwas beißen möchte, das sich im Mund so anfühlt wie das, wonach es schmeckt, nämlich knusprigen Pommes frites.

Geschichte der Pommes frites
Selbst erfahrene Frittologen müssen bei der Frage passen, wer wann und wo als Erster den Einfall hatte, Erdäpfel nicht in ihrer vollen Größe zu ­kochen oder zu braten, sondern sie in Stifte zu schneiden und in heißem Fett zu frittieren. Die Franzosen, nie verlegen, wenn es um gastrono­mische Ansprüche geht, behaupten, die Stäbchen ­seien erstmals während der Französischen Revo­lution gegen 1789 unter den Brücken von Paris ­gebraten worden und als „Pommes Pont-Neuf“ in die Geschichte eingegangen, sozusagen als eine Hommage an die wuchtigen Pfeiler der berühmten Pont-Neuf-Brücke. Doch auch die Amerikaner reklamieren die Speise für sich. Im Jahre 1853 soll George Crum als Koch der vornehmen Moon Lake Lodge in Saratoga im US-Bundesstaat New York gebratene Erdäpfelscheiben zu Steaks serviert haben, bis ein Gast sie als zu dick reklamierte und zurückgehen ließ. Crum schnitt daraufhin dünnere Scheiben. Als diese dem Gast, angeblich der Eisenbahn-Magnat Cornelius Vanderbilt, ­immer noch zu üppig waren, schnitt der Koch die Scheiben millimeterdünn, frittierte sie – und siehe da, der Gast war begeistert. Fortan standen die „Saratoga-Chips“ auf der Speisekarte. Allerdings kollidiert diese Erzählung mit einer Version, in der sich der feinschmeckerische US-Präsident Thomas Jefferson nach einer Reise durch Frankreich bereits 1802 ein Gericht namens „Pommes de terre frites à cru en petite tranches“ zubereiten ließ.

Mag sein, dass an diesen netten Anekdoten ­etwas stimmt, doch wahrscheinlich gebührt den Belgiern der gastronomische Verdienst, die Pommes frites mehr oder weniger erfunden zu haben. Das untermauert der Historiker Jo Gérard (1919–2006) mit Hinweis auf eine ­Familienchronik aus dem Jahre 1781: „Die ­Einwohner von Naumur, Andenne und Dinant sind es gewohnt, kleine Fische aus der Maas zu fangen, um ihre tägliche Kost aufzubessern. Diese werden in heißem Fett gebacken. Wenn im Winter das Wasser friert, schneiden sie Erdäpfel in die Form von Fischchen oder Figuren und frittieren diese auf dieselbe Art und Weise. Ich erinnere mich, dass diese Gewohnheit schon um die 100 Jahre existiert …“ Demnach wären die Pommes frites bereits um 1680 im heutigen Flandern zubereitet worden. Die ursprüngliche Winterspeise wurde schließlich in ganz Belgien populär, jetzt will man auch im Sommer auf die „Pommes de terre frites“ nicht verzichten.

Frittierte Nitro-Erdäpfelbeignets mit Schokolade-Olivenölsauce, Zitronenverveine-Rahm & Saiblingskaviar
Zutaten für 4 Personen

Nitro-Erdäpfelbeignets:
200 g Erdäpfelpüree*
3 Eiklar
Prise Salz

Bitterschokolade-Olivenölsauce:
3 EL bestes fruchtiges Olivenöl (z. B. Nr. 1 von Veronelli)
¹/16 einer kleinen roten Chilischote
2 g Ingwer, geschält und kleinwürfelig geschnitten
50 g Edelbitterschokolade (mindestens 70 % Kakaoanteil)
1 Prise Maldon-Salz

Saiblingskaviar mit Haselnussölgrieß:
70 ml Haselnussöl
125 g Saiblingscaviar
2 EL knusprig geröstete Schwarzbrotbrösel
1 Prise Maldon-Salz

Zitronenverveine-Rahm:
2 g Zitronenverveine, abgezupft
3 EL Sauerrahm, glatt verrührt
Salz, weißer Pfeffer
Saft von ¼ Zitrone
zum Garnieren 4 Verveine-Blattspitzen (Stickstoff gefroren)

Nitro-Erdäpfelbeignets: Handwarmes Erdäpfelpüree mit Eiklar und Salz verrühren, in eine Isi-Flasche ­füllen, mit einer Patrone begasen und kräftig ­schütteln. ­Eine Nocke auf einen Esslöffel spritzen und diese im Stickstoffbad bei –196 °C kurz (je nach ­Größe der ­Nocke 10–30 Sekunden) frittieren, dabei die Nocke zweimal mit Hilfe des Löffels wenden, dann herausheben.

Hinweis: Die Konsistenz sollte außen gefroren und kross, innen noch cremig und lauwarm sein (ähnlich einem Baiser).

Bitterschokolade-Olivenöl-Sauce: Chilischote und I­ngwer im Olivenöl auf etwa 35 °C erwärmen und darin 30 Minuten ziehen lassen, abseihen. Schokolade unter Rühren im Öl schmelzen und mit Maldon-Salz würzen.

Saiblingskaviar mit Haselnussölgrieß: Das Haselnussöl in die Isi-Flasche füllen, mit zwei Kapseln begasen und in das Stickstoffbad sprühen. Den gefrorenen ­Haselnussölgrieß herausheben und im Tiefkühler ­lagern. Kurz vor dem Anrichten mit dem Saiblings­kaviar sowie den Brotbröseln vermengen, mit wenig Maldon-Salz würzen.

Zitronenverveine-Rahm: Die Zitronenverveineblätter im Stickstoff 5 Sekunden frittieren, herausheben, ­zerbröseln und unter den Sauerrahm mengen. Mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft abschmecken.

Anrichten:

Je 1 EL Bitterschokolade-Olivenöl-Sauce in die Tellermitte gießen, ein Nitro-Erdäpfelbeignet daraufsetzen, mit Zitronenverveine-Rahm und Saiblingskaviar-­Haselnussölgrieß toppen und mit einem gefrorenen Verveineblatt garnieren.
*klassisch zubereitet, nur mit Salz, einem Hauch Muskatnuss und Zitronensaft abgeschmeckt, aber ohne viel Butterbeigabe.

Adressen
Restaurant Hanner
2534 Mayerling 1
Tel.: +43/(0)2258/23 78
www.hanner.cc

Maison Antoine
Place Jourdan 1

1040 Brüssel (Etterbeek)

Tel.: +32/2/230 54 56

Hier serviert man Pommes frites mit „Sauce tartare maison“ nach einem Rezept der Großmutter, bestehend aus Mayonnaise, gehackten Zwiebeln, Knoblauch und Petersilie.