Wilde Zeiten

Hasenblut-Eiswürfel, Schnepfendarm auf Röstbrot und Hirschohrensalat mit Kumquats: In Sachen Wild wird uns noch lange nicht fad. Die Zukunft hat gerade erst begonnen.

Text von Anna Burghardt Fotos von Philipp Horak

Wir sind Wild!“ Oder, so die weniger boulevardeske Nachricht: Österreichs Gastronomie hat durch die hiesige Wildvielfalt und -auswahl international eine Sonderstellung. Steirer-eck-Chef Heinz Reitbauer formuliert den Vorsprung so: „In Frankreich sind sie total fertig ob unserer Wildqualität. Die haben vielleicht Wildgeflügel, aber das restliche Wild ist von einer Qualität, die wir schon nicht mehr nehmen würden. Wir selbst haben seit fünf Jahren einen extremen Drive auf Wild. Einfach, weil’s der internationale Gast kaum kennt.“ Andreas Senn vom Heimatliebe in Kitzbühel berichtet von ausländischen Gästen, die Tage vor ihrem Besuch bei ihm anrufen und fragen, ob er eh Wild auf der Karte habe, sie hätten gehört, dass sie in Österreich unbedingt Wild essen sollten. Und meinen damit wohl weniger ein Ragout vom hundertjährigen Steinbock mit dem obligatorischen Grabrednerduo Preiselbeeren und Orangenscheibe.

Die neue österreichische Wildküche liest sich anders: Maibock mit Pekannuss, Mispeln und Rettich im Heimatliebe. Wildente mit Perlgraupen, Kressewurzeln und Tomatillo im Steirereck. Fasanenleberkäse mit Gruyère, Karamell-Zwiebel-Senf und Quitte im Freiwild im vierten Wiener Bezirk. „Die Akzeptanz ist heute sehr groß“, sagt Heinz Reitbauer. Wildfleisch ist seinen Hautgout-Ruf zumindest in der Spitzengastronomie losgeworden, Fasan etwa ist im Steirereck im Herbst das meistbestellte Gericht. Diese Beliebtheit bei den Gästen hat nicht nur mit der Kreativität von Küchenchefs zu tun, die von den ewigen Kombinationen weggehen und Rebhuhn heute mit Pistazien und Kerbelwurzeln servieren oder Wildschwein mit Fenchel, Kumquats und Roten Rüben. Die neue Akzeptanz kommt auch von den steigenden Vorbehalten der Massentierhaltung gegenüber – und beim Wild sind Bewusstgenießer gut aufgehoben. Allein die Zahlen zu Jagdscheinabsolventen aus urbanen Schichten sprechen Bände: in Wien etwa das Zehnfache von vor zehn Jahren, darunter immer mehr Frauen und so manche Vegetarierin. Eines der Hauptargumente für Wild ist heute: Mehr Freiland geht nicht. Die Tiere halten nicht die Pharmaindustrie am Leben, sondern fressen das, was auch auf unseren Tellern derzeit Trend ist, also das Beste aus Wald und Wiese. Reh und Co. sterben – sofern gekonnt geschossen wird – ohne Stress, da die Munition schneller da ist, als das Wild den Schuss hören kann. Das Fleisch ist mager. Und die Vielfalt groß.

Es herrscht auch, zollt Heinz Reitbauer Jägern und Wild-Übernahmestellen Tribut, ein anderes Bewusstsein bei den Produzenten: „Früher wurde wegen der Trophäe geschossen. Heute geht es beim Zielen eher ums Fleisch. Es wird sorgfältiger aufgebrochen. Und gute Übernahmestellen erziehen ihre Jäger, zahlen weniger, wenn das Fleisch weniger brauchbar ist.“ Im Vorjahr, erinnert sich der Steirereck-Chef, der mit drei Wildlieferanten zusammenarbeitet, war das erste Mal ein richtiger Qualitätsschub spürbar. Was für die Spitzenküche in Sachen Wild enorm wichtig ist: die Zartheit. Dafür ist das Alter entscheidend. „Bis zu drei Jahren kommen sensationelle Qualitäten, wenn der Schuss richtig sitzt, wenn der Jäger richtig aufbricht etc.“, sagt Reitbauer. Von Essig- oder Weinbeizen, wie sie früher üblich waren, um unerwünschte Geschmäcker zu übertünchen, die das Ergebnis von langen Stunden oder sogar Tagen zwischen Tod und Topf waren, ist man längst abgekommen. Die Kühlkette wurde perfektioniert.

Manche Köche haben es zu Wildfleisch näher als andere. Wenn nämlich jemand in der Familie Jäger ist. Dann hat man auch die Chance auf die Innereien, die traditionellerweise der Jagd vorbehalten sind. Johanna Maier etwa ist selbst Jägerin, ihr Mann Dietmar bringt ebenfalls immer wieder selbsterlegtes Wild nachhause. Auch Andreas Senn hat ein familiäres Naheverhältnis zu Wild. Der junge Küchenchef des Kitzbüheler Restaurants Heimatliebe stammt aus Ladis, wo auch die familieneigene Jagd liegt. Schon Senns Großvater war Jäger, sein Vater und sein Bruder liefern ihm heute selbstgeschossenes Wild: etwa Maibock, Hirschkalb oder Fasane, die der Bruder in Oberösterreich aufstöbert. „Ich bin der einzige in der Familie, der’s nicht erlegt, dafür bin ich der, der’s zerlegt.“ Senn bekommt im Falle eines erfolgreichen familieninternen Schusses einen Anruf und schneidet das Fleisch in seiner Heimat Ladis nach kurzem Abhängen selbst aus der Decke (Senn hat das Jägerlatein wohl schon als Kind gelernt – das Fell ist gemeint). Die Größe – oder besser: Kleinheit seines Lokals ist für ambitionierte Wildküche ein Luxus: „Ich kann kurzfristig reagieren, kann die Karte spontan umschreiben, wenn ich ein Stück bekomme, und es reicht trotzdem für alle.“ Rehherz etwa, nach dem zahlreiche Köche lechzen. „In meiner Familie isst das keiner, ich nehm’s gern.“ Wenn Andreas Senn dann selbst zu den Gästen geht, um ihnen das Rehherz zu empfehlen, kann er auch gleich von dessen Herkunft erzählen, „das kommt gut an, die Gäste mögen es, dass das von der Familie kommt“. Reh sei überhaupt Everybody’s Darling. Er selbst hat freilich schon die eine oder andere Schrecksekunde durchlebt – wenn der Rücken, was man ihm im Rohzustand überhaupt nicht ansieht, nach dem Garen beim Anschneiden zerfällt, „wie eine durchgebratene Leber, die man mit dem Finger zerdrücken kann. Dann muss man sich schnell etwas ausdenken“. Ausdenken müsse man sich auch neue Aromakombinationen, Reh mit Pilzen ist Andreas Senn zu klassisch. Es in Maiwipfelöl garen und mit Fichtenhonig glasieren geht aber schon, als Hinweis auf den Lebensraum der Tiere „und weil’s geschmacklich einfach passt“. Noch besser aber, so Senns Küchenlogik, man pfeife auf klassische Kombinationen. Und stelle einem Rehrücken doch einfach einmal Physalis, Sauerkleerübchen und Amaranth zur Seite.

Ein bisschen Klassik darf es hingegen im Freiwild bei Sepp Sajovitz schon sein. Auch wenn man das weder dem Lokal, noch dem Chef, noch dem Küchenchef ansieht. Wenn der kehlkopfabwärts tätowierte Koch, der von sich selbst sagt, „Ich bin kein Wilder, ich koch nur Wild“, seiner Linie einen Namen geben müsste – es wäre dieser: „moderne österreichische Wildküche mit französischem Einschlag“. Am meisten geprägt habe ihn seine Zeit im Altwienerhof. Mordsschräge oder exotische Kombinationen sollte man sich im Freiwild also nicht erwarten, und dennoch ist Sajovitz’ Wildküche eine der spannendsten hierzulande. In der aberwitzig winzigen Küche entstehen Gerichte wie der schon erwähnte Fasanenleberkäse, eine sündig-köstliche Angelegenheit, durchsetzt mit Gruyère und Stückchen von schwarzen Nüssen; viel mehr aus dem Rezept verrät er nicht. „Der war eine endlose Tüftelei, bis ich das richtige Verhältnis für die Masse gehabt hab, hab ich sicher ein Kilo Fasanenbrust zum Teufel gejagt.“

Das Freiwild hatten Andrea und Peter Jöbstl, die sommers auch den Wiener Eislaufverein mit Sand in the City bespielen, von Anfang an auf Wildfleisch ausgelegt. „Das ist ein gerade beginnender Trend“, sagt Peter Jöbstl. „Die Leute haben die Schnauze voll von gepimptem Fleisch, das künstlich auf Größe gebracht wird. Was mit Mangalitza angefangen hat, findet seine logische Konsequenz im Wild.“ Zunächst hätten Freunde Vorbehalte gegenüber dem Konzept geäußert: Ob nicht Wild in Österreich traditionell zu sehr mit dem Herbst verbunden sei? „Das stimmt aber gar nicht. Und die Reaktionen der Gäste zeigen, dass wir einen Nerv getroffen haben.“ Der von den Chefs erdachte Wildschwerpunkt des Freiwild ist Küchenchef Sajovitz ebenfalls ein großes Anliegen, obwohl es auch für Vegetarier stets etwas gibt sowie „Wiens beste Bouillabaisse“. „Aber wir heißen ja nicht Freitofu.“

Sajovitz schreibt jeden Monat eine neue Karte. Und sucht sich dafür nicht nur die üblichen Stücke aus, sondern auch Maibockwangerl oder Hirschkalbsvögerl. „Rehrücken kann jeder.“ Zum Würzen nimmt er sehr gern Kreuzkümmel, Reh mit Tannenwipfeln hingegen machen ihm schon zu viele. „Das ist nicht mein Weg. Auch nicht Gerichte wie Reh mit seinem Futter.“ Dafür aber solche wie „Das Beste von der Gams mit Kumquats, Topinambur und Shiitakepilzen“. „Gams hat ja kaum wer im Angebot.“

Als Fleischhauersohn kann Sajovitz ganze Tiere schnell zerlegen – „für ein Reh brauch ich zwanzig Minuten, dann liegt alles feinsäuberlich da“. Nachdem die Küchenkapazitäten aber im Freiwild ordentlich beschränkt sind und neben Sajovitz auch noch der ebenso schlanke Souschef Ale-xander Lintner Platz finden muss, greift man auch auf fertig zerteilte Ware zurück. „Die Logistik wäre ein bisschen schwierig, wenn auch noch Rehe im Ganzen die Küche bevölkern würden.“

Apropos ganze Rehe: Küchenchefs bemängeln, dass in der heutigen Kochausbildung niemand mehr lernt, Tiere zu zerteilen. Es sei denn, man hat als Auszubildender das Glück, bei einem Koch oder einer Köchin zu lernen – siehe Johanna Maier, siehe Andreas Senn oder Heinz Reitbauer –, die enge Kontakte zur Jagd haben. Von Jägern nämlich bekommt man unzerlegte Tiere.

Ums Zerteilen muss sich der Burgenländer Max Stiegl bei den Vögeln, die er im Frühling auf der Karte hat, nicht kümmern: Seine Waldschnepfen serviert er im Ganzen, samt dem langschnabeligen Kopf. Die Zugvögel, die bei uns nur bedingt bejagt werden dürfen, anders als etwa in Nordspanien, wo Schnepfen häufig zubereitet werden, bekommt Stiegl von verschiedenen Jagdgesellschaften aus der Umgebung. Ungerupft. Die Vögel werden – dann natürlich ihres Federkleids beraubt – im Rohr ganz kurz bei sehr großer Hitze gebraten. „Dann nehmen wir den Schnepfendreck, also die Eingeweide, heraus. Der Magen wird weggeschmissen, der Rest wird gehackt und mit Schalotten, Gänseleber und Dotter wie eine Eierspeise geröstet. Viele geben noch Cognac dazu, wir nicht.“ Die ausgenommene Schnepfe wird fertig gebraten, der Schnepfendreck kommt auf geröstetes Brot, und den Gästen wird jeweils eine ganze Schnepfe samt dem Brötchen serviert. „Heuer haben wir 82 Schnepfen bekommen, zwei habe ich noch übrig, eingefroren.“ Interessanterweise wissen seine Gäste alle, wie man Schnepfen isst, erzählt Stiegl: Wie aus dem Lehrbuch sitzen sie da und zuzeln zuletzt den gespaltenen Kopf aus – das Hirn gilt wie der Schnepfendreck als Delikatesse.

Diese Praxis ist auch in den vielen historischen Kochbüchern nachzulesen, die Tulbingerkogel-Chef Frank Bläuel und sein Vater Friedrich Bläuel zusammengetragen haben. Wenn Frank Bläuel vorliest, wird ersichtlich, welchen Stellenwert Wild noch vor einem Jahrhundert gehabt hat, welche Vielfalt an wilden Tieren in den Küchen der höheren Stände zubereitet wurde und wo zahlreiche Rezeptideen für die Zukunft der Wildküche lauern: Lerchensalat wurde innerhalb einer Tracht, also quasi als ein großer Gang, mit Mandelkrapfen und Schokoladesulz serviert oder mit Rapunzel (Vogerlsalat) und Sardellen. Hirschlöser (die Ohren) wurden mit Muskatblüte und Zitronenschale gedünstet, oder man kochte daraus mit Grasern (der Zunge) und Läufen ein Ragout und servierte dazu Morcheln und Spargel. Auch Hasenohrensalat gab es irgendwann irgendwo zu essen – „den haben wir ausprobiert, gar nicht schlecht, aber wozu?“, erzählt Bläuel, der im Hotel Tulbingerkogel regelmäßig zu Diners Historiques lädt, bei denen Gerichte aus dem Spätbarock auf einer großen Tafel angerichtet werden – auch Wild. Über den Auerhahn weiß der autodidaktische Kulinarhistoriker zu berichten, dass man für den als ungenießbar geltenden, aber gern gejagten Vogel Fantasierezepte erfunden hat: „Auerhahn in Portwein, der mit einem Fasan gefüllt ist, der mit einem Rebhuhn gefüllt ist, das mit einer Wachtel gefüllt ist. Und da steht dabei: Dann machen Sie das Fenster weit auf und schmeißen Sie den Auerhahn hinaus, er bleibt ungenießbar.“ Was Frank Bläuel immer wieder aufs Neue amüsiert.

Aus seinen Büchern weiß er auch, dass die ewige Orangenscheibe zum Wild wohl ein Überbleibsel aus vorigen Jahrhunderten ist, als man Rehrücken mit Pomeranzensalat servierte. Je höher übrigens ein Tier vom Boden weg war, desto edler war sein Image. „Vom Boden kam das Böse – die wussten damals, wenn der Fuchs einmal auf die Himbeeren macht, hat man den Bandlwurm.“ Flugwild galt daher als das edelste Wild und war dem Plebs untersagt. Hirsch war auch noch gut, je niedriger aber der Wuchs der Tiere, desto uninteressanter waren sie. „Hase wurde als unedel angesehen.“

Hase ist, während sich etwa auf Fasan alle einigen können, auch heute noch ein Thema für sich. „Ein Wildhase wird immer ein Wildhase bleiben, der hat den intensivsten Wildgeschmack“, sagt etwa Andreas Senn. Früher legte man das Fleisch in Buttermilch ein, um das starke Aroma zu mildern. „Hasenfleisch ist fast schwarz, dünkler noch als eine Taube.“ Auch Heinz Reitbauer sagt, dass Wildhase das markanteste Wild überhaupt ist – „der Unterschied zwischen Hase und Kaninchen ist wie zwischen Tag und Nacht, das sind zwei komplett konträre Welten“. Dennoch oder gerade deswegen zählt vor allem die Schulter von Wildhasen zu seinen absoluten Lieblingsgeschmäckern. Das Interessante am Hasen ist für Reitbauer nicht zuletzt, dass man Schmorgerichte mit Eigenblut bindet. „Dieser Geschmack ist eine eigene Dimension.“ Das Hasenblut wird vom Wildhändler mitgeliefert. „Wir frieren es in kleinen Einheiten ein. Das Blut wird ziemlich in letzter Sekunde in den Hasenpfeffer eingerührt, dann bindet es, es darf nicht mehr erhitzt werden.“ Ob das Hasenblut auch auf den steirerecktypischen Informationskärtchen, die es zu jedem Gericht gibt, angeführt sei? „Sicher.“

Das Thema „Reh hüpft zwischen Tannen herum und nascht zwischendurch Steinpilze und Heidelbeeren“ auf den Teller umzulegen ist für Reitbauer mittlerweile ebenso wenig interessant wie für Andreas Senn oder Josef Sajovitz. „Das ist zwar total logisch, aber irgendwie haben wir das vor zehn Jahren abgehakt.“ Lieber überlege er sich Aromakombinationen, die dem jeweiligen Wildgeschmack gerecht werden. Zitrus findet er zu Wild sehr spannend, und Scharfes generell. Oder ätherische Zutaten wie Orangenblüten oder Lavendel, die die manchmal dumpfen, waldigen Noten von Wild ausgleichen. Beim Fasan, der für Reitbauer „das weiblichste aller Wildgeflügel ist – seidig-fein, mit zartem Wildgeschmack“, müsse man bei der Aromafindung freilich etwas mehr aufpassen. Und unbedingt am Knochen garen.

In den letzten Jahren hat Heinz Reitbauer für Wild eine neue Zubereitungsart gefunden: das Dämpfen, zum Beispiel über den schon erwähnten Orangenblüten. „Wir machen das, weil’s mit jungen, zarten Tieren sehr gut geht, und auch, weil man’s sonst nie macht.“ Meist wickelt er das Wild beim Dämpfen in Blätter ein, etwa solche vom Senfkohl, die eine leichte Schärfe mitbringen. Oder in die weinrote Gartenmelde. „Warum packen wir das Wild in Blätter? Noja, nach dem Dämpfen schaut das Fleisch natürlich nicht so schön aus, also braucht’s eine andere Hülle.“
Der Steirereck-Chef ist aber in Sachen Wild nicht nur zum Dämpfer, sondern auch zum Dichter geworden: um einen Lieferanten zu becircen, auf dass dieser die begehrtesten Stücke für ihn reserviere. Das liest sich dann, wenn Reitbauer in den Tiefen des SMS-Verkehrs endlich fündig geworden ist, so: „Advent, Advent, ein Rehherz rennt – hoffentlich bald zu uns.“