Würzzuschlag

Von Nelke, Lorbeer und Zimt zu Muskatblüte, Tahitivanille und Raz el Hanout: Die Veränderung der Gewürzpalette in Österreichs Küchen ist noch nicht zu Ende. Und Pfeffer ist nicht gleich Pfeffer.

Würzzuschlag

Text von Anna Burghardt fotos: Luzia Ellert
Als Erste-Hilfe-Set stehen sie noch immer auf den Tischen g’standener Wirtshäuser: die klassischen Salz- und Pfefferstreuer, das Industriesalz zum Schutz vor feuchtigkeitbedingten Klumpen mit Reis vermischt, der Pfeffer verstaubt und ohne jegliche Würzkraft. In Härtefällen verstärkt noch die charakteristische Maggi-Flasche das Duo. Immer wieder zu beobachten sind auch jene speisenden Zeitgenossen, die, ohne einen Löffel probiert zu haben, wie im Schlaf zum Streuer greifen, um Suppe, Schnitzel oder Gulasch geschmacklich auf die Sprünge zu helfen; meist mehr Ritual denn sinnvolle Würznachhilfe.
Pfeffer und Salz fehlen auch in ambitionierteren Restaurants nicht. Unter Peugeot läuft da freilich nichts, je höher und kippfreudiger, desto besser. Was sich aber in den Mühlen befindet, ist die Hülle oft nicht wert. Der beliebte "bunte Pfeffer", eine meist beliebige Mischung aus weißem und schwarzem Pfeffer sowie rotem – botanisch betrachtet – Nicht-Pfeffer, vermag ein Gericht weder aromatisch auszubalancieren noch durch Schärfe zu akzentuieren. Sicher, optisch ist der bunte Pfeffer eben ein "Knaller" und lifestyletechnisch schlau sowieso, und das Drehen macht halt auch so viel Spaß. Dass Pfeffer ein höchst differenziertes Gewürz ist, wird bei solchen Spielereien oft vergessen. Andreas Döllerer aus dem salzburgerischen Golling führt in seinem Neuen Heimat-Kochbuch allein sieben verschiedene Pfeffersorten an, zusätzlich fordert er von seinen Nachkochern unterschiedliche Mahlgrade ein, was die Anzahl der einzelnen Würzmittel im Grunde noch einmal erhöht.
Bergpfeffer mit seinem zitronigen Aroma setzt er bei Steinbutt, Seeteufel oder Kaninchen ein, den tasmanischen Pfeffer mit seiner süßen Würze hingegen bei süß-sauren Kombinationen wie Forelle mit Ananas. Für dunkles Fleisch wird hauptsächlich weißer Pfeffer verwendet, schwarzer kommt dafür bei kalten Fleischgerichten wie Beef Tatar oder Carpaccio zum Einsatz. "Schwarzer Pfeffer bekommt nämlich beim Anbraten leicht eine verbrannte Note", hat Döllerer die Erfahrung gemacht. Derzeit arbeite man auch viel mit Langem Pfeffer, "der passt ganz wunderbar zu Wild".
Der Salzburger Koch zeigt, wie viel man aus den Nuancen einer Gewürzart herausholen kann, wenn man sich mit den unterschiedlichen Aromen beschäftigt. Es scheint also, dass man sich noch immer zu den Besten der Kochkunst begeben muss, um zu begreifen, was mit Gewürzen tatsächlich machbar ist. Einen Fuhrpark an bunten Mischungen zu haben, bedeutet schließlich noch lange kein gutes Geschmacksergebnis. Für das präzise Ausloten der Aromastruktur eines Gerichts, für Würze, die über bloße Effekthascherei hinausgeht, sind Vertiefungswille, Beharrlichkeit und kulinarische Reflexion unverzichtbar. Auch bei Heinz Reitbauer vom Wiener "Steirereck" findet man diese Kombination. Er macht sich nicht nur ausführlich Gedanken über harmonische Würzakkorde nach dem Motto "Sternanis zu Ente und Kürbis", sondern hat auch den handwerklichen Umgang mit Gewürzen in seiner Küche verändert: "Vor etwa drei Jahren", erzählt er, "sind wir vom Mitkochen der Gewürze weggegangen." Reitbauer hat bemerkt, dass diese "eine ganz andere Frische" haben, wenn man sie nur kurz ziehen lässt. "Im Grunde behandeln wir unsere Gewürze wie Tee, 2–3 Minuten, das reicht." Auch solche, die klassischerweise mitgekocht werden, wie Wacholder oder Lorbeer, "der ja überhaupt in jedem österreichischen Rezept irgendwo herumkugelt", haben im "Steirereck" nur kurz Zeit, ihren Geschmack zu entfalten. Mit einem Lachen gesteht er: "Manchmal ertappe ich mich noch dabei, wie ich routinemäßig eine Hand voll in eine kochende Flüssigkeit schmeiße." Reitbauer vertritt die Praxis der zeitlich knapp gehaltenen Aromaabgabe sonst jedoch mit wohlformulierten Argumenten: "Die Primärtöne kommen viel besser heraus, man erhält eine ganz andere Vielschichtigkeit, wenn man Gewürze nur kurz mitgart." Die feinen Aromen gingen verloren, wenn alles ständig aufgekocht wird, es mache wirklich einen Unterschied, ob man etwas mitkocht oder nur ziehen lässt. "Man kann fast nichts falsch machen, wenn man alles erst kurz vor Schluss dazugibt." Freilich, eine größere Menge an Körnern, Rinden oder Wurzeln erfordere es schon. "Aber das ist es uns wert."
Welche Gewürze in der Küche des "Steirerecks" eingesetzt werden, scheint nicht nur eine geschmacklich begründete Frage zu sein, sondern auch eine stilistische: "Mit Pfeffer hab ich so meine Probleme. Der ist zwar sehr interessant, aber halt auch ein Trend, und ich versuche immer, mich davon eher fernzuhalten." Trotzdem kann man auf Pfeffer schlecht verzichten, und so finden sich in seiner Küche Langer Pfeffer genauso wie Szechuan- oder Pondicherypfeffer, eine seltene rote Sorte aus Indien. Für die Psychohygiene von Heinz Reitbauer scheint der Verzicht auf Moden aber tatsächlich von großer Bedeutung zu sein; auch den Kardamom mag er weniger, nicht nur wegen dessen Dominanz – "das ist so ein intensiver Ton, dem muss sich alles andere unterordnen" –, sondern auch weil er "modisch und abgedroschen" sei. Eines seiner Lieblingsgewürze ist hingegen die Muskatblüte, auch Macis genannt, die netzartige Hülle der Muskatnuss – "ein wunderbares Geflügelgewürz". Außerdem gehört für ihn in einen Reis immer Macis. "Die ist viel wichtiger als Nelken, vielleicht übertreibe ich da, aber wir haben zuhause immer Macis im Reis gehabt." Zimt hält er für ein Thema, dem man sich wieder nähern sollte, auch Kümmel und Muskatnuss gehören seiner Meinung nach mehr beachtet: "Wenn man ein Gericht mit einem Chor vergleicht, sind Kümmel und Muskatnuss der Tenor, beide schwingen so schön." Die Gewürznelke findet er spannend, weil sie sowohl als Solitärgewürz als auch wunderbar zum Kombinieren geeignet ist. Der "Steirereck"-Chef hat überhaupt gern Aromen, die nicht unbedingt gefällig sind, die zwar eine große Spielwiese bieten, an denen man als Esser aber dennoch arbeiten muss. "Manche Gewürze polarisieren, und das ist auch gut so", sagt Reitbauer.
In der Entstehung eines Gerichts sei zuerst immer das Geschmacksbild da, erst dann käme die Optik, und man überlege, was noch hinzukommen könne. Wenn er etwa an einer Dose Panch Phoron riecht, hat er sofort Erdäpfel im Kopf. Die Gewürzmischung aus der bengalischen Küche, die zu gleichen Teilen aus brauner Senfsaat, Nigella (Schwarzkümmel), Fenchelsamen, Kreuzkümmel und Bockshornkleesamen besteht, hat eine deutlich erdige Note, die von Reitbauer eben mit der Erdknolle assoziiert wird und in einen "Heurige"-Fond zum gegrillten Milchferkel mündet. "Andere Köche denken da vielleicht an was ganz anderes, bei mir sind es eben Erdäpfel. Man baut sich ja seine eigene Gewürzbibliothek im Kopf auf." === Wenn er in dieser stöbert, kann es schon einmal vorkommen, dass sich in einer Creme mit weißer Schokolade am Ende das marokkanische Raz el Hanout ("Chef des Ladens") wiederfindet, eine vielschichtige Gewürzmelange, die aus bis zu 40 Zutaten bestehen kann, darunter so ungewöhnliche wie Veilchenwurzel, weißer Kardamom oder Mönchspfeffer.
Raz el Hanout und andere Gewürze bezieht Reitbauer wie viele Kollegen aus Deutschland, von Ingo Hollands Altem Gewürzamt. Der ehemalige Spitzenkoch vertreibt Gewürze hoher Qualität, also von ausgesuchten Lagen und Sorten, sowie eigene Mischungen und diverses Zubehör nicht nur in seinem Geschäft, sondern auch über das Internet und den Feinkostversand Bos Food.
Gewürzmischungen à la Ingo Holland boomen. Im Bos-Food-Katalog etwa finden sich auf 16 eng bedruckten Seiten die verschiedensten Körner, Wurzeln oder Blätter, eingelegt oder trocken, in zahlreichen Mahlgraden, Fertigungsstufen – etwa auch als Spray – und Zusammenstellungen. Und Curryvariationen verschiedener Hersteller oder "Rubs", also Mischungen, mit denen man Fleisch oder Ofengemüse einreiben kann, gibt es mittlerweile sogar in den Geschenkabteilungen von Einrichtungshäusern zu kaufen. Meist sind diese in schicke Dosen oder transparente Mühlen gefüllt und tragen mehr oder weniger originelle Namen wie "African Melange" oder "Scharfmacher".
Auf den Zug der schicken Gewürze zum Herschenken oder Selbstverkochen ist man nun auch im Kochbuchgeschäft Babette’s im Wiener Freihausviertel aufgesprungen. Seit einigen Wochen mischt Chefin Nathalie Pernstich mit ihrem Team eigene Kreationen und Klassiker und füllt sie in schlichte Aludosen. Der "Seven Secrets Mix" etwa soll sich besonders für Kürbis eignen, enthalten sind unter anderem Anis, Vanille, Szechuanpfeffer und Kardamom, "Creole Rub" ist eine Mischung aus braunem Zucker, Senfpulver, Selleriesamen, Cayennepfeffer und anderen Gewürzen. Im Babette’s wird auch täglich gekocht, und Mitarbeiterin Bernadette Wörndl erzählt, man habe selbst schon länger mit eigenen Mischungen gearbeitet, bis die Leute vermehrt danach gefragt hätten. Sie entwirft selbst Zusammenstellungen, mit Grammwaage und Notizen nähert sie sich dem Endergebnis.
"Man bekommt allmählich ein Gefühl, was noch fehlt, oder man weiß, von welchem Bestandteil man weniger nehmen muss, weil er sehr intensiv ist." Damit die Gewürze möglichst frisch sind, produziert man jeweils nur etwa zehn Dosen auf einmal. Zimt, Macis und Sternanis werden im Mörser grob zerkleinert, bevor sie mit den restlichen Zutaten in die Gewürzmühle wandern. "Das geht ruckzuck", sagt Wörndl, "viel mehr Arbeit ist es, die perfekte Mischung zu finden." Immer wieder werden die Zusammenstellungen in Gerichten getestet, bis das Ergebnis stimmt. In jeder Dose steckt auch ein Rezept, denn viele Leute wüssten nicht, was wofür geeignet sei. "Manche glauben zum Beispiel, beim Kardamom ist die Schale das Aromatische, dabei muss man ja für den Geschmack die Körner rausfitzeln." === Dass man in Österreich generell sehr vorsichtig und nicht unbedingt sattelfest im Umgang mit exotischen Gewürzen ist, weiß auch Markus Mraz. Er selbst schult seinen Geschmackssinn, indem er etwa Tahiti-Vanille neben Bourbon-Vanille in Milch aufkocht und abwechselnd kostet, um die verschiedenen Aromen zu speichern. Ob die teurere Tahiti-Vanille von den Gästen auch als solche wahrgenommen wird, ist er zwar nicht sicher, er verwendet dennoch meistens diese Sorte. Auch Mraz bezieht seine Gewürze aus dem Feinkostversand. Dem Stöberparadies Naschmarkt misstraut er hingegen: Wo Gewürze monatelang offen angeboten werden und die niedrigen Preise die Gerüchte um die Praxis, Ziegelmehl unter Paprika und Co. zu mischen, nur anheizen, kauft er keine Zutaten.
Gewürze werden im "Mraz und Sohn" nicht nur in Saucen, Suppen oder Cremes gemischt, sie treten auch als Solisten mit eigenem Programm auf. Über die Erbsensuppe mit weißer Schokolade und Maracuja wird bei Tisch mit einem Puderpinsel aus der Kosmetikabteilung andächtig ein Hauch der Ingo-Holland-Currymischung "Mumbai" gestäubt. Was zunächst wie ein vordergründiger Aha-Effekt wirken mag, bekommt mehr Tiefe, wenn man sich vergegenwärtigt, dass mit dem Gewürz eine noch fehlende Geschmackskomponente hinzukommt: die Schärfe. Und durch die Performance mit dem Pinsel soll dem Esser die wohlüberlegte Komposition aus salzig, sauer, süß und scharf, auf die Lukas Mraz so stolz ist, bewusst gemacht werden. Von Vater Markus Mraz hingegen stammt das Tintenfisch-Szegediner, bei dem das Kraut mit Pimentón, dem spanischen Rauchpaprikapulver, gewürzt wird. Zusätzlich schichtet er einen schmalen Streifen des reinen Pulvers daneben – nicht nur eine optische Sache, sondern "der Gast soll entscheiden, wie viel Räuchereinheiten er will." Auf die Spitze gebracht wird die Idee des Solitärgewürzes im "Mraz und Sohn" beim Currygelee, das zum Hummer serviert wird: reiner Gewürzgeschmack, der durch Gelatine eine haptisch bedeutende Form erhält. Vom bloßen Aromazusatz zur eigenständigen Substanz.