Austern mit Terroir

Dort, wo einst die Befreiung Europas begann, am Utah Beach in der Normandie, werden heute die besten Austern Frankreichs gezüchtet.

Text von Georges Desrues/Foto von Georges Desrues

„Der Utah Beach ist nichts anderes als die Romanée-Conti der Austern.“
Jean Paul Guernier

Die Landstraße zum weltbekannten Schlachtfeld führt durch eine äußerst friedliche, stark ländlich geprägte Normandie, vorbei an grasenden Rindern und teilweise verlassenen Ortschaften mit massiven Kirchtürmen. Und hinein in ein Gebiet aus Wäldern und Sümpfen bis zu einem Parkplatz vor einem Wall aus Sanddünen. Die Dünen peitscht der Wind, Regen fällt in dicken Tropfen. Ein Schild weist den Weg Richtung Utah Beach. Ein paar Schritte durch Wind und Wetter und über den Sand, vorbei an einem lebensgroßen Denkmal eines Landungsschiffs mitsamt stürmender Besatzung – gleich dahinter sollte der Ärmelkanal liegen. Doch es ist Ebbe. Das Meer hat sich weit zurückgezogen und ist mit Strand und Himmel zu einem grauen Ganzen verschmolzen. Menschen sind auch keine zu sehen. Bis ein Trabrennpferd samt Sulky und Fahrer vorbeischießt. Kurz darauf lichtet sich der Nebel, und aus dem matschigen Meeresboden tauchen jene Bänke auf, an denen die angeblich besten Austern Frankreichs heranwachsen.

An diesem düsteren Tag wirken die Austernbänke selbst ein wenig wie Landungstruppen, die sich Richtung Utah Beach schieben. Seinen Namen erhielt der Strand von den amerikanischen Soldaten, die hier am D-Day im Juni 1944 landeten und mit der Befreiung Europas begannen. Einer, dessen Austernbänke an diesem geschichtsträchtigen Ort liegen, ist Jean Paul Guernier. Am Telefon erklärt der „ostréiculteur“, wie man die Austernzüchter in Frankreich nennt, dass er wegen des schlechten Wetters zurzeit nicht hier, sondern auf der anderen Seite der normannischen Halbinsel Cotentin seine Bänke bearbeitet. Das war zwar so nicht ausgemacht, trifft sich dennoch gut, denn bis auf den ambitionierten Trabrennfahrer will hier niemand im Freien rumhängen.

Die Fahrt über die Halbinsel dauert circa eine Stunde. Auf der ­anderen Seite des Cotentins liegt die spektakuläre Bucht des Mont-Saint-Michel, benannt nach der gleich­namigen weltberühmten Klosterinsel weiter südlich. Jean Paul Guernier wartet vor einem Traktor mit Anhänger und raucht. Mit gelbem Ölzeug, kantigem Gesicht und Dreitagebart sieht er aus wie der Archetyp des ­normannischen Seebären. Doch der Eindruck täuscht. „In Wahrheit bin ich Südfranzose und war zuvor in ­einer ganz anderen Branche tätig“, sagt er, wirft die Zigarette weg und den Traktor an, „doch meine Frau ist Normannin, also sind wir hierher­gezogen. Und hier gibt es nun einmal kaum andere Arbeit als jene mit den Austern.“ Und so heuerte er im Betrieb des Schwiegervaters an, den er inzwischen übernommen hat.

Den Traktor steuert Guernier über eine betonierte Rampe hinunter zum von der Ebbe freigegebenen Meeresboden. Dort fahren bereits einige weitere Traktoren herum, andere stehen geparkt zwischen den Austernbänken. Man begreift, wieso die Austernzüchter in Frankreich auch die „Bauern des Meeres“ genannt werden. Guerniers Traktor rumpelt über den teils matschigen, teils felsigen Meeresboden, bisweilen durch zurückgelassene Meerespfützen, sodass immer wieder Wasser bis auf den Anhänger spritzt. Das Meer selbst zeigt sich nicht, zu weit hat es sich zurückgezogen.

„In der Bucht des Mont-Saint-­Michel haben wir den zweitgrößten Höhenunterschied zwischen Flut und Ebbe weltweit, gleich nach der Bay of Fundy in ­Kanada“, sagt Guernier nicht ohne Stolz, während er den Traktor stoppt und vom Fahrersitz springt. Etliche weitere Austernzüchter sind bereits an der Arbeit. In Ölzeugen und Gummistiefeln drehen sie die metallgenetzten Austernsäcke um, befreien sie von Algen und schütteln sie ordentlich durch. „Man muss sie regelmäßig schütteln, damit die Schalen nicht mit den Säcken verwachsen“, erklärt Guernier, der sich inzwischen selbst auch daran macht, an seinen Bänken zu werken.

Das gesamte Setting in der endlos wirkenden Weite des wasserlosen Meeresbodens ist erstaunlich, nahezu surreal und so eindrucksvoll exotisch, dass man glauben möchte, nicht in Europa zu sein. Immer wieder bricht die Sonne durch den schweren Regen und sorgt für dramatische Lichtspiele. Dann, plötzlich, schieben die Wolken wieder zusammen, und es kommt der Regen. Im Unterscheid zur menschenleeren Bucht des Veys, wo der Utah Beach liegt, ist die Küste hier zwar dünn, aber doch besiedelt. Am Ufer sind die weißen Häuser des Ortes Blainville-sur-Mer zu sehen.

Guernier kehrt mit einem Sack Austern auf den Armen zum Traktor zurück. Utah-Beach-Austern seien das freilich noch keine, betont er, während er den Sack öffnet. „Diese hier sind über drei Jahre alt. In den nächsten Wochen bringen wir sie rüber an die Ostküste, wo sie noch einmal sechs Monate im Meer verbringen“, erklärt er und greift sich eine imposante Muschel. Mit Austernmesser und einer einzigen geschickten Bewegung öffnet er sie und reicht sie dem Besucher. Man schmeckt ihre Frische, sie ist aber auch schön fleischig, geradezu knackig und mit nussigem Aroma. Als würde man das Meer auf den Mund küssen, wie es ein französischer Dichter einst ausdrückte. Ohne Zweifel ein perfekter Austerngenuss. Aber wieso bringt er die Schalentiere dann überhaupt rüber an die Ostküste zum Utah Beach? Wozu tut er sich den Aufwand an?

„Drüben herrschen andere Bedingungen als hier im Westen“, sagt der Züchter, „dort gibt es mehr Süßwassereinfluss und der Anteil des Planktons ist höher. So finden die Tiere auch mehr zu fressen.“ Das erlaube ihnen, in den sechs Monaten am Landungsstrand nochmal ordentlich zuzulegen, voller zu werden, noch fleischiger. Und an zusätzlichen Geschmack gewönnen sie obendrein.

Alles ziemlich schwer vorstellbar, wenn man gerade eine frisch aus dem Ärmelkanal geklaubte Auster ­gegessen hat. Und überhaupt: Warum werden die Tiere dann nicht gleich auf der anderen Seite gezüchtet? „Weil dort einfach zu viel Seegang herrscht“, sagt Guernier. Dem seien die jungen Austern nicht gewachsen, dafür brauche es schon etwas Minimalgewicht. „Ein paar Utah-Beach-Austern habe ich ­gestern geholt und hier im Becken auf Lager, die können wir später gerne ­verkosten“, schlägt er vor. Dann geht es zurück mit dem Traktor über die Rampe in die Industriezone von Blainville (ganz offiziell „zone conchylicole“, also „Muschelzuchtzone“, genannt), wo die Hallen und Büros der Züchter liegen.

Über dem Eingang von Guerniers ­Betriebsgebäude prangt ein Schild mit einer Zeichnung, die wohl eine Profilansicht von ihm selbst sein soll. Und ­darunter die Aufschrift: Monsieur Jean-Paul Huîtres (= Austern) /Utah Beach. „Mein Schwiegervater, Georges Quetier, gilt als wahrer Pionier der normannischen Austernzucht“, betont „Monsieur Jean-Paul“, „und als einer der Ersten, die die herausragenden Eigenschaften der Utah Beach erkannten und ihre Austern dorthin brachten.“

Der Schwiegervater zählt auch zu den Ersten, die ihre Muscheln unter dem einprägsamen Namen des Landungsstrands aus dem Zweiten Weltkrieg vermarkteten. Kolportiert wird, dass der ehemalige Präsident François Mitterrand – zeit seines Lebens frankreichweit als geschulter Feinspitz bekannt – damals, irgendwann in den 1980ern, in Paris die Austern von Georges Quetier aß und dermaßen lobte, dass ein regelrechter Run entstand. Bis schließlich ganz Paris nach den Austern vom Utah Beach gierte. Inzwischen ist deren Stellenwert in der Hauptstadt durchaus vergleichbar mit jenem von Hühnern aus der Bresse, Hummern aus der Bretagne, Wein aus dem Burgund oder Sauerkraut aus dem Elsass.

Einige Muscheln hat Guernier zum Verkosten vorbereitet. Und siehe da: Jene, die am Utah Beach heranreiften, sind tatsächlich noch eine Spur fleischiger, immer noch knackig, aber irgendwie auch cremiger. IGeschmack etwas milder und süßlicher, mit erstaunlich langem Abgang. „Ja, Abgang ist das richtige Wort. Mit Austern ist es eben wie mit Wein und mit vielen anderen Lebensmitteln: Über die Qualität entscheidet das Terroir“, sagt Guernier.

Das ist auch insofern stimmig, als so gut wie alle Austern, die in Frankreich gezüchtet werden, ein und derselben Sorte angehören. Und Rotwein im Burgund ja auch nahezu ausschließlich aus der Sorte Pinot noir gemacht wird. Guernier ­triumphiert: „Stimmt genau!“, sagt er. „Und dennoch erzielen unterschiedliche Lagen unterschiedliche Qualitäten und Preise. Sonst wären Weine aus der Lage Romanée-Conti nicht um so vieles besser und teurer als jene aus den um­liegenden Weinbergen.“ So gesehen, schließt er, sei der Utah Beach eben nichts anderes als die Romanée-Conti der Austern. —