Back to the roots

Längst vergessene Gemüsesorten wie Kerbelknolle, Ochsenherzkarotte oder Erdmandel werden von einer Handvoll kompromissloser Produzenten mit Akribie kultiviert und erleben durch die heimische Spitzengastronomie ein Comeback.

Back to the roots

Text: Claudia Schemerl-Streben Fotos: Stephanie Golser
Zehn Männer Eine Mission. Gemeinsam stapfen sie zielstrebig auf das fünf Hektar große Feld. Es ist sieben Uhr morgens und Erntezeit. Maschinen oder andere Behelfe gibt es nicht. Einziges Werkzeug: die Hände. Der Anführer steuert auf die Karotten-Parzellen zu. Er krempelt die Ärmel hoch, greift nach einem Strunk und zieht routiniert das erste Exemplar aus der Erde: Zum Vorschein kommt keine konventionelle Karotte, sondern ein Wurzelwerk in knalligem Rot. Der Name des Unikums: Purple Dragon.
Peter Laßnig ist am Feld zu Hause. Das war nicht immer so. Erst im Laufe seines Studiums hat der gebürtige Klagenfurter sein Faible für Gemüsevielfalt und rissige, erdverdreckte Hände entdeckt. In Wien entschied er sich für den Studienzweig Biologie mit dem Schwerpunkt Morphologie. "Ich habe eine Dissertation über Kürbisgewächse geschrieben und mir Saatgut von überall schicken lassen und angepflanzt. 60 unterschiedliche Sorten sind zusammengekommen. Allerdings ist es mir nicht um die Früchte gegangen, sondern um den Sprossaufbau der Pflanze. Irgendwann war mir das aber alles zu theoretisch. Ich wollte nicht mehr im Labor sitzen, sondern selbst anbauen."
Vor rund zehn Jahren wagte er, etwas blauäugig, den Sprung in die Selbstständigkeit und pachtete fünf Hektar Fläche in Gänserndorf. "Es gibt hier zwei Ökosiedlungen, in denen rund 300 Leute wohnen. Ich dachte, dass ich von regionaler Vermarktung leben kann. Es hat sich aber herausgestellt, dass das unrealistisch ist. Ich habe angefangen, ohne viel zu rechnen, und im Burgenland ein gebrauchtes Folienhaus gekauft, abgeholt und hier aufgestellt." Angebaut wurden etliche Sorten Kürbisse, Paprika, Paradeiser, Salat und Wurzelgemüse, die Laßnig nicht mehr nur ab Hof, sondern auch am Wiener Naschmarkt und am Karmelitermarkt verkauft. "Mittlerweile habe ich überhaupt keine Standardparadeiser mehr", erzählt Laßnig. Bei ihm wachsen Sonderlinge wie Valencia (die in Farbe und Konsistenz an eine Mango erinnert und süßlich schmeckt), Indische Violette (eine dunkelrote, sehr aromatische, leicht säuerliche Sorte), die grün-gelb gestreifte Green Zebra (mit subtilem Melonengeschmack), Dattelweinparadeiser (eine gelbe, wie Trauben wachsende Sorte mit süßem Aroma) und bulgarische Fleisch- und Ochsenherzparadeiser.
Laßnigs Spezialgebiet ist aber Wurzelgemüse. In seinen Parzellen, die nur durch Wege voneinander getrennt sind, wächst es in allen erdenklichen Farben: Neben Rote-Rüben-Sorten wie Bull’s Blood (die rot gefärbten Blätter können ebenfalls gegessen werden), Burpees Golden (mit leuchtend gelb-orangem Fruchtfleisch) und dem Starlet Barbabietola di Chioggia (mit imposantem rot-weißen Ringmuster) wachsen auch Eigenheiten wie Küttiger Rübli – eine traditionelle Schweizer Karottensorte, die ein violett-weißes Innenleben hat – neben japanischen Kintoki-Karotten: "Dieser Typ hat in Kyoto eine lange Tradition und ist durch und durch rot gefärbt", schwärmt der Exzentriker. Selbst für seine wild wachsenden Karotten, bei Laßnig zwischen Walnussbäumen und Bambus gepflanzt, findet er seine Abnehmer: "Auch wenn sie roh nix hergeben und manchmal holzig sind, als Suppe sind sie spannend."
Vielfältiger in der Verarbeitung ist hingegen das optisch einem Michelinmännchen ähnelnde Wurzelwerk Knollenziest, das auch unter dem Namen "Crosnes du Japon" bekannt ist, vor mehr als hundert Jahren von Japan nach Frankreich importiert wurde und dort seit dieser Zeit als Delikatesse gilt. Bis zu acht Zentimeter lang und zwei Zentimeter dick werden die zylinderförmigen, perlmuttfarbigen Knollen mit charakteristischen tiefen Einschnürungen, die im Geschmack an eine Mischung aus Artischocke, Erdapfel und Haferwurzel erinnern und nicht nur, wie in Japan üblich, im Wok gedünstet, sondern auch gebraten oder roh gegessen werden können.
Geerntet werden Laßnigs Gemüseraritäten und Kräuter jeden Dienstag und Freitag, einen Tag bevor die seltene Ware vom Demeter-Bauern persönlich auf die Wiener Märkte geführt wird. Insgesamt 80 Arbeitsstunden verbringen er und seine neun Mitarbeiter am Feld, 20 Stunden im Folientunnel, wo das geerntete Biogut sortiert, mit Wasserschläuchen von Erde befreit und Stück für Stück penibel in Kisten sortiert wird. Eine Besonderheit, die Laßnig selbst vermehrt und nur in Kleinstmengen erntet, hat er im Herbst immer in seiner Lieferung dabei, und sie wird bei der von Slow Food veranstalteten Messe Terra Madre in Wien von ihm präsentiert: die nach Maroni schmeckende Kerbelrübe. Das alte Wurzelgemüse, auch Kerbelknolle genannt, wurde früher auf den Wiener Märkten angeboten und ist hierzulande komplett in Vergessenheit geraten. "Vor sechs Jahren habe ich mir von der Samenbank Gatersleben in Deutschland elf Sorten schicken lassen und sie kultiviert. Mittlerweile vermehre ich nur noch zwei Sorten, weil die anderen nicht ertragreich sind." Gelagert werden die kleinen aromatischen Knollen nach der Ernte im Juli im stillgelegten Brunnenschacht. "Bis zum Herbst werden sie süßer und der Geschmack intensiver", verrät uns der Vielfalt-Rebell. Wenn Laßnig über seine Spezialitäten spricht, ist er kaum zu bremsen, sei es über Yaconwurzel, über Cardy – ein mit der Artischocke verwandtes Gewächs, dessen Blätter wie Spinat verwendet werden können und durch ihren intensiven Artischockengeschmack zum Luxusgemüse mutieren – oder über die ausgefallene rot-weiß changierende Zwiebelsorte Rossa Lunga di Firenze.
Von der Vielfalt begeistert, setzt Kochgröße Heinz Reitbauer vom "Steirereck" in Wien alte Gemüsesorten genauso für seine Kreationen ein wie Thorsten Probost von der "Griggeler Stuba" in Vorarlberg, Andreas Döllerer in Golling, der bevorzugt mit dem saftigen Knollenziest und der tiefschwarzen Urkarotte mit orangem Kern experimentiert, und Christian Winkler vom "Schindlhaus" in Tirol, der Raritäten aufgrund ihrer Aromenintensität regelmäßig auf die Karte setzt. Der niederösterreichische Paradewirt Josef Floh ist sich nicht zu schade, einmal im Monat zu Laßnigs Stand nach Wien zu pilgern, um sich mit einer ausreichenden Menge an den kleinen, getrockneten Erdmandeln einzudecken. Was in Spanien zur Mandelmilch Horchata de Chufa verarbeitet wird und dort als Nationalgetränk gilt, verwendet er in der fein gehackten Version für Süßspeisen oder um salzigen Knödeln einen Hauch Nussaroma einzuimpfen. "Leider kann ich bei Frischgemüse aus logistischen Gründen nicht auf die Produkte von Peter Laßnig zurückgreifen." Seit vier Jahren kocht Josef Floh mit alten Gemüsesorten. Angesteckt hat ihn Gemüsepapst und Geschmackspädagoge Johann Reisinger. "Ich war bei einem seiner Seminare, bei dem er mit seltenen Sorten ein mehrgängiges Menü gekocht hat, und war total begeistert." Wenige Wochen später begann sich Floh ein Netzwerk an Topproduzenten aufzubauen und wird seither wöchentlich von der Lako Tulln (Landwirtschaftliche Fachschule Tulln), der Biobäuerin Erika Fritz, dem Qualitätsfanatiker Franz Haslinger und der Biolandwirtin Helga Hamader mit Raritäten wie F1-Bolero-Karotten, Malabarspinat, Yaconwurzeln und Urgetreide wie Emmer- und Einkornreis beliefert. Zu Erich Stekovics fährt der besessene Spitzenkoch von August bis Oktober einmal wöchentlich persönlich, um sich kistenweise Paprika und Paradeiser zu holen: "Der einzige Unterschied, den man bei Paprikasorten aus dem konventionellen Anbau kennt, spielt sich in den Farben Rot, Grün und Gelb ab. Dabei gibt es eine enorme Vielfalt an Sorten und das, was früher sehr eindimensional war, ergibt heute ein komplett neues Geschmacksbild", schwärmt Floh. Dass er deswegen auf die verschobenen Saisonen Rücksicht nehmen muss, macht ihm nichts aus: "Ich bin sehr flexibel und kann die Gerichte schnell austauschen. Bei Stekovics findet die Reifung der Früchte halt etwas verspätet statt, weil er sie weder im Folientunnel noch sonstwie unterstützt. Paradeiser haben bei ihm deshalb Ende August Saison, heuer sogar erst Anfang September. Danach kauf ich einfach keine Paradeiser mehr ein", gibt sich Floh konsequent.
Optisch effektvoll präsentieren sich Gerichte, in denen Floh Lainsitztaler Erdäpfel einsetzt. "Eine Gruppe von Bauern aus dem Waldviertel hat sich auf alte bunte Sorten spezialisiert, von denen ich violette und gemusterte Exemplare verwende." Die mehlig kochende englische Sorte Highland Burgundy Red besitzt ein leuchtend pink-gelb marmoriertes Fruchtfleisch und hat einen urtümlichen Geschmack. Die französische Sorte Trüffel ist dem Original verblüffend ähnlich, hat außen wie innen eine dunkelviolette Optik, ein erdiges Aroma und eignet sich für die Verarbeitung zu Chips, und die schottische, vorwiegend festkochende Sorte Shetland Black besitzt eine schwarz-violette Schale, ist gelbfleischig und hat einen lila Ring. 40bis 50 verschiedene Gemüsearten verarbeitet Floh wöchentlich. Insgesamt landen bei ihm 150 Kilogramm in der Pfanne, im Kochtopf oder im Rohr. Ein Verbrauch, den Johann Reisinger an einem Tag hat. Er veranstaltet in Kooperation mit der Gartenschule Schönbrunn zweimal jährlich ein Seminar, das sich einen Tag lang einer Gemüsefamilie widmet. Nach einem theoretischen Teil finden Verkostungen statt, bei denen 100 bis 150 Sorten einer Gemüseart vorgestellt werden, die auf dem rund 16 Hektar großen Schulareal und bei "Arche Noah"-Bauern geerntet werden. Jede Sorte ist mit einem Kärtchen versehen, das nicht nur Namen und Herkunft, sondern auch Wachstum und Ertrag dokumentiert. Die Verkostung bereitet der Geschmackspädagoge präzise vor: "Paradeiser etwa werden in mehlige, wässrige, fruchtige, süßliche und säuerliche Gruppen eingeteilt. Jeder Teilnehmer bekommt einen Teller mit Verkostungsproben und Unterlagen, um sich eigene Geschmacksnotizen zu machen. Und dann wird gekocht", erzählt Reisinger euphorisch. Zehn Gänge sind keine Seltenheit, bei denen jeder einzelne mit einer anderen Sorte zubereitet wird und meistens ohne Zugabe von Salz auskommt: "Ich will den Eigengeschmack nicht verfälschen, sondern in den Mittelpunkt stellen", versichert er. Bei seinen Predigten sitzen Einkaufschefs von Supermarktketten neben Einzelunternehmern wie Essigmacher Erwin Gegenbauer,Spitzenkoch Christian Petz, Demeter-Landwirt Peter Laßnig und dem kleinen Biobauern aus der Steiermark. Das klar formulierte Ziel: ein Revival der Gemüseraritäten. Dass es dabei nicht nur um prächtige Farbenvielfalt, sondern auch um die Erweiterung der Geschmackswelt geht, bringt Josef Floh auf den Punkt: "Wenn’s nach nix schmeckt, bringt’s nix."