Blas Glas

Text von Thomas Maurer Fotos von Ingo Pertramer

Brillant, formschön, wertbeständig. Aber bitte, sprechen wir nicht länger von mir und kommen wir zum Thema.

Es war ein bisschen so wie damals als Kind: Lange Zeit nimmt man die Existenz von Geschwistern und Kindergartenkollegen einfach als gegeben hin.

Irgendwann aber beginnt man sich doch zu fragen: „Wo kommen denn die alle her? Und wie zum Kuckuck werden die eigentlich gemacht?“
Exakt diese beiden Fragen kondensierten vor nicht allzu langer Zeit in meinem Gehirn, als ich mich plötzlich vor dem Küchenregal mit den Weingläsern wiederfand, die ich, eine allmählich warm werdende Flasche Weißwein in der Hand, offenbar bereits längere Zeit über anmeditiert hatte.

Was tun? Meine Eltern fragen? Das hatte schon bei der Sache mit den Kindern nicht so richtig hingehaut. „Nein“, sagte ich mir, „es muss einen anderen Weg geben.“

Spätestens seit vor gut dreißig Jahren der populäre Serienmörder Dr. Hannibal Lecter zu Protokoll gab, den passenden Begleitwein zu seinen kompetent zubereiteten Opfern grundsätzlich aus Riedel-Gläsern zu schlürfen, darf Österreich als Weinglas-Weltmacht gelten.

Und lange Jahre schwebte die Riedel-Doktrin „Für jeden Weintyp ein eigenes Glas“ wie ein unsichtbarer, aber unabweislicher Befehl über den Häuptern heimischer Sommeliers, Winzer und Anspruchs- tschecheranten. Die Gläsersammlungen begannen erhebliche Prozentsätze des Einkommens und der Wohnungskubatur zu beanspruchen. (Dass es trotz des Gemischten-Satz-Booms der letzten Jahre offenbar immer noch kein Gemischter-Satz-Glas von Riedel gibt, liegt vermutlich daran, dass die Tiroler mittlerweile überwiegend ins Ausland exportieren, wo nach dieser Spezialität kaum Nachfrage besteht, weil man dort immer noch damit beschäftigt ist, „Grooner Veyltleenar“ korrekt aussprechen zu lernen.)

Am österreichischen Heimatmarkt fassten unterdessen Gläser Fuß, die mit dieser Doktrin brachen und das Angebot radikal auf drei Gläser reduzierten. Purismus war das Ziel, die neue Doktrin lautete: „Junger Wein, reifer Wein, Süßwein, Punkt. Obwohl, na ja, vielleicht doch noch eins extra für Burgunder, das ist schon sinnvoll. Und, wenn wir schon reden, eventuell noch eins für Champagner. Also gut: fünf Typen. Aber: Das Wasser wollen Sie ja wohl nicht wirklich daneben aus dem Senfglasl saufen, oder? Eben. Also, sagen wir sechs. Vielleicht noch eins für Schnaps. Aber das ist’s dann wirklich. Einstweilen.“

Wein & Co brachte beispielsweise seine Glas-Eigenmarke in etwa diesem Geist auf den Markt, den Vogel schoss aber letztlich der Marktauftritt eines neuen Mitspielers ab. Zalto brachte es binnen einiger weniger Jahre – um es einmal absichtlich schiach auf Marketing-Denglish zu sagen – vom No-Name-Neuling zur Must-have-Marke.

Dafür ist, neben den exzellenten sensorischen Eigenschaften dieser Gläser und ihrer fantastisch filigranen Leichtigkeit, auch die ebenso werbewirksame wie wahre Geschichte ihrer Entstehung verantwortlich.

Die Geschichte nämlich, wie Hans Denk, der charismatische und zum Rang eines nationalen Weinkulturdenkmals aufgestiegene katholische Pfarrer, Hubert Fohringer, Enthusiasten-Vinothekar zu Spitz, und Kurt Zalto, querdenkerisch veranlagter Waldviertler Glasdesigner, sich gemeinsam über zwei, drei Jahre auf die Gralssuche nach dem ultimativen Weinglas begaben. Pfarrer Denk, einem holistisch denkenden Metaphysiker, ist es immer noch wichtig zu erwähnen, das die Neigungswinkel des Glases 24, 48 und 72 Grad betragen, also annähernd dem Neigungswinkel der Erdachse und dessen Vielfachem entsprechen, schon die alten Griechen hätten ihre Amphoren ähnlich gestaltet. Man erwirbt also mit dem Zalto-Glas auch gleich einen Gesprächsgegenstand, der obendrein noch spülmaschinenfest ist.

Allerdings erwies sich die Serienfertigung als deutlich schwieriger als angenommen, Qualitätsschwankungen begannen den Ruf der Gläser, kaum dass sie einen solchen hatten, zu ramponieren, und kurz vor der finalen wirtschaftlichen Bauchlandung traten ­Josef Karner und Martin Hinterleitner auf den Plan. Beide lange Jahre im Management von Schlumberger, beide auf der Suche nach neuen Aufgaben, beide prinzipiell überzeugt vom Potenzial der Gläser.

Kurt Zalto verkaufte zähneknirschend seinen Nachnamen nebst Design, und das zweite Kapitel der Zalto-Story begann sich energisch Richtung Happyend zu entwickeln.

Und so ist es denn Josef Karner, an den ich mich mit den Fragen „Wo kommen die Gläser her und wie werden die eigentlich gemacht?“ wende.
Die erste Frage beantwortet sich quasi von selbst, als der zertifizierte Meisterfotograf Ingo Pertramer und ich an Bord von Karners Auto auf dem Weg zur Glashütte die ungarische Grenze überqueren.

Im Waldviertel, einem Glaszentrum über Jahrhunderte, so erklärt er, gebe es die nötige Infrastruktur leider einfach nicht mehr, die Schließung der Stölzle-Werke um die Jahrtausendwende habe da einen endgültigen Schlusspunkt gesetzt. Moderne Öfen mit einem für die Homogenität der flüssigen Glasmasse unerlässlichen Rührwerk gebe es dort gar nicht, gerade eine Handvoll Schau-Glas­bläsereien gäbe es noch, mit denen allerdings extra dünnwandige Produkte wie die seinen einfach nicht herstellbar seien, zumindest nicht in Serie. Allerdings befinde sich die Firmenzentrale nach wie vor im Waldviertel, und die habe sich, eher zufällig allerdings, zu einer Art feministischem Vorzeigebetrieb entwickelt, in dem fünfzehn Frauen und null Männer tätig sind.

„Ein Ruhestandshobby war die Firma für uns nicht gerade“, erzählt Josef Karner, während wir die wirklich sehr flache ungarische Ebene durchfahren. „Der Hinterleitner und ich waren zweiundfünfzig beziehungsweise fünfundfünfzig, und die ersten drei Jahre sind wir regelmäßig von der Bank vorgeladen worden wie Schulbuben vom Direktor. Daneben waren wir halt permanent als Vertreter mit unseren Gläsern unterwegs.“

Karner hält wenig vom Begriff „Marketing“, sieht sich selbst im Wesentlichen als Verkäufer und glaubt als solcher fest an die Ochsentour als Königsweg: „Die ersten Jahre haben der Hinterleitner und ich kein Büro gehabt, weil sich das nicht ausgegangen wäre. Und jetzt sind wir dabei geblieben und treffen uns einfach, wenn’s was zu bereden gibt.“

Angestellte Vertreter gibt es bis heute keine, dafür sind Martin Hinterleitners zwei Söhne mittlerweile für Zalto tätig. Die ungarische Glashütte, auf die wir zusteuern, gehört nicht zur Firma, die Gläser werden in Lohnfertigung erzeugt, allerdings sei man größter Kunde und vor allem in Entwicklungsprozesse und Qualitätsmanagement stark involviert.

Und dann kommen wir auch schon in der Glashütte an, dort, wo die Gläser herkommen. Gleich werden wir erfahren, wie sie gemacht werden.

Ich interessiere mich weder für Sportübertragungen noch für Tanztheater sonderlich, schaue aber ansonsten außerordentlich gerne Leuten dabei zu, wie sie etwas machen, was sie besonders gut beherrschen. Das kann Joachim Meyerhoff sein, der im Akademiethater ein Dreistundensolo stemmt, aber auch ein italienischer Gemüsehändler, der in atemberaubendem Tempo Unmengen an Artischocken zuputzt und daneben noch den Corriere dello Sport liest.

Für die souverän zelebrierte Handwerkskompetenz, die beim Her­stellen mundgeblasener Weingläser zum Tragen kommt, bin ich also hundertpro Zielgruppe.

Unser Rundgang beginnt, so wie auch die Entstehung des Glases, in einem Raum, der weniger nach Glashütte denn nach Tischlerei, genauer gesagt nach Drechslerei aussieht und riecht.

Die Gläser werden nämlich in eine Art Negativ geblasen, das, wie mir auf die Frage nach dem Fachausdruck dafür beschieden wird, auch tatsächlich „Nega­tiv“ heißt und aus zwei massiven Buchenblöcken gedrechselt wird, die für die Dauer der Bearbeitung passgenau miteinander verbunden werden.

Dass ein solches Holznegativ, obwohl sein Arbeits­leben lang permanent mit Wasser getränkt, den Kontakt mit flüssigem Glas nur rund 150 Durchgänge lang ohne Schaden übersteht, ist die Arbeitsgrundlage für den hier tätigen Meisterdrechsler, der frohgemut, in eine Gloriole aus ihn dynamisch umtanzenden Holzspänen gehüllt, ein Negativ ums andere produziert.

Und zwar weitgehend mit freier Hand und freiem Auge. Als Korrekturhilfe dient ihm lediglich eine papierene Schablone, die den Querschnitt des Glases 1:1 wiedergibt. Allerdings benutzt der Mann diese erst ganz gegen Ende, beim Feinschliff, und man hat das lebhafte Gefühl, dass er auch das eher pro forma tut, weil ihm halt Leute zuschauen.

Zunächst spannt er den Block in eine ehrfurchtgebietende historische Drehbank aus den Kindertagen der Voest ein und fräst freihändig das Basisloch, exakt tief genug, versteht sich. Dann greift er zum Drechselmesser (für jede Glasform gibt es hier ein spezifisches, das die jeweils erwünschte Krümmung aufweist; ein einschlägiger Schmiedfachbetrieb befindet sich im Umland) und zaubert mit traumwandlerischer Lässigkeit ein exaktes Negativ, das er be­i­läufig mit der Schablone überprüft, um eventuell noch den einen oder anderen libellenflügeldünnen Span abzuschaben, den Block auszuspannen und sich dem nächsten zuzuwenden.

Faszinierend.

„Sowas“, denke ich mir, „sowas hätte der Zie­r­hofer-Kin in seiner performanceüberfrachteten ersten Festwochensaison zeigen sollen, dann wär ich auch gekommen.“

Und prompt eröffnet sich im nächsten Raum, in den wir geführt werden, ein Szenario, das an nichts so stark erinnert wie an eine avancierte Festwochen-Theaterproduktion.

Auf einer erhöhten Plattform – die, wie ich später erfahre, in der Glasbläser-Sprache tatsächlich „Bühne“ heißt – bewegen sich Gruppen von Männern nach dem Muster einer präzis konzipierten, aber bewusst leger ausgeführten Choreografie. Die Szenerie wirkt, als wären auch Bühnen-, und Kostümbildner beschäftigt worden: Ein paar nackte Rümpfe und aus kurzen Hosen ragende Beine sorgen für eine gewisse Körperlichkeit; gerade genug Protagonisten tragen die einheitlich blauen Firmen-T-Shirts und sorgen so für eine gewisse farbliche und stilistische Geschlossenheit, ohne gleich den Eindruck einer amorphen uniformierten Masse zu erwecken. Dass exakt dieses Blau sich auch auf einigen Streben, Werkzeugen und Maschinen wiederfindet, sorgt quasi für den ästhetischen Rahmen, in dem die weitgehend wortlose Inszenierung in einem zügigen, aber ruhigen Tempo abläuft, also in etwa doppelt so schnell, wie sie das unter der Regie von Christoph Marthaler täte.
Auf der Bühne agieren mehrere Teams, die, alle in Tempo und Rhythmus leicht voneinander abweichend, die Arbeitsschritte zelebrieren, an deren Ende ein mundgeblasenes Glas steht.

Der erste Mann, der „Einbläser“, entnimmt dem Glasofen – der übrigens rund um die Uhr befeuert wird und niemals abkühlt – einen Batzen glühendes Flüssigglas, und zwar, natürlich, exakt so viel, wie man für das fertige Glas brauchen wird. Dann bläst er diesen Batzen zu einem kleinen Ball auf, der in der Größe irgendwo zwischen einem Marillenknödel und einer ehrgeizigen Mozartkugel liegt, und gibt diesen an den zweiten Mann weiter, der den Miniballon zu einer veritablen Glaskugel aufbläst und mit Hilfe eines nassen Holzstücks vorformt. Nun übernimmt der dritte Mann und bläst das Glas zum Formen in das bereits beschriebene wassergetränkte Holzmodel, das dabei von einer mechanischen Vorrichtung gehalten wird, die sich auf den Druck eines Fußschalters hin öffnet, das geformte Glas freigibt und die beiden hölzernen Modelhälften wieder in ein Wasserbecken absenkt. (Ungefähr zu diesem Zeitpunkt übergibt der erste dem zweiten Mann den nächsten eingebla­senen Glasball.)

Das Glas, das zu diesem Zeitpunkt in etwa einem glühenden Luftballon ähnelt, dessen untere zwei Drittel die vertrauten Zalto-Glas-Umrisse zeigen, dann aber in eine – „Kappe“ genannte – barock anmutende Kuppel übergehen, wird einem unterhalb der Bühne sitzenden vierten Mann übergeben, der den „Zapfen“ wieder anglüht, also den Stummelschwanz am Glas-Südpol, aus dem im Weiteren der Stiel gezogen wird. Glas, so wird mir erklärt, „friert“ schnell, das heißt, man kann es nach dem In-Form-Blasen nicht so schnell weitergeben, als dass der Zapfen ohne nochmaliges Erhitzen noch formbar bliebe.

Jetzt (auf der Bühne übergibt gerade der zweite Mann an den, der ins Model bläst) übernimmt der „Meister“. Der zieht nun mit einer Spezialzange den Stiel aus, natürlich auf den Millimeterbruchteil genau so lang, wie er werden muss, und stützt ihn dann mit einer hölzernen Hohlform, damit er aushärtet und, natürlich, exakt senkrecht aus dem Glas ragt. Das Glas geht zurück auf die Bühne, der Stil wird noch einmal angeglüht, ein weiterer Mann fügt ein, selbstverständlich exaktest dosiertes, Glühglasbatzerl an diesen an und dreht, als wär es nichts, einen Fuß daraus, der genauso groß und genauso waagrecht ist, wie er sein soll.

Anschließend kommen die Gläser in den Abkühlofen, wo sie über zweieinhalb Stunden von 700 Grad Celsius auf ungefähr Geschirrspüler-warm abkühlen. Das langsame Abkühlen ist wesentlich, schnell abgekühltes Glas ist spröde und bricht beim geringsten Anlass; gute mundgeblasene Gläser lassen sich sogar sacht zusammendrücken und sind auch nicht gleich hin, wenn sie umfallen.

Freundlicherweise darf ich auch einmal erwartungsgemäß am Versuch scheitern, ein Glas zu blasen. Das Rohr gleichmäßig zu drehen, während man zügig, aber ohne zu pressen Luft einbläst, ist so ähnlich, wie als Fahrschüler erstmals gleichzeitig Kupplung, Ganghebel und Lenkrad zu bedienen: Es geht einfach nicht, obwohl einem eine Stimme im Hinterkopf sagt, dass das doch bitte nicht so schwer sein kann. Auch den Versuch, einen Stiel zu ziehen, versemmle ich nicht minder souverän, erwerbe aber immerhin in einem Moment der Geistesabwesenheit ein kleines Souvenir in Gestalt einer Brandblase auf der Handfläche, was mich aber weniger stört als die Tatsache, dass ich die Andenken, die ich ­eigentlich mitnehmen wollte, die von mir zu grotesk ­verformten Beulen geblasenen Artefakte nämlich, nicht mitnehmen kann, weil sie infolge unsachgemäßer Herstellung samt und sonders beim Abkühlen zersprungen sind.

Schad, schad, ewig schad.

Die sachgemäß hergestellten, inzwischen abgekühlten Gläser werden jetzt noch auf Höhe des späteren Glasrandes rundum angeritzt und längs dieser Ritze mit einer Art Feuerklinge bearbeitet, die aus einigen nebeneinander angebrachten Gasdüsen besteht. Die „Kappe“ lässt sich daraufhin einfach abheben wie eine, na ja, Kappe eben, der Rand des Glases wird dann nochmals verflämmt, also kurz angeschmolzen, um eine angenehme, lippenfreundliche Rundung zu erhalten.

Abschließend gibt es noch eine weitere Qualitätskontrolle (die meisten offensichtlich fehlerhaften Gläser sortiert bereits der „Meister“ aus), bei der Exemplare mit leichten Einschlüssen oder nicht perfektem Stand gnadenlos – Zalto hat keinen Sub-Markt für Ware zweiter oder dritter Wahl – in einen der über die Halle verteilten, mit hauchzarten Luxusscherben ­gefüllten Kübel geschmettert werden. Die Überlebenden bekommen jetzt noch das Markenlogo in den Fuß sandgestrahlt und sind damit versandfertig.

So ist das also.

Jetzt weiß ich, wo die guten Gläser herkommen.

Und wie sie gemacht werden.

Aber anders als damals, als ich erfahren habe, wie sich das bei den Kindern verhält, weiß ich diesmal eines sicher: Selber werde ich in diesem Leben wohl keine mehr machen.