Der Bauch des Architekten

Der Architekt Paolo Piva, der das Restaurant "Korso" umgestaltete, konzentriert sich beim Essen wie beim Arbeiten auf das Wesentliche: auf das Wahrhafte des Materials.

Der Bauch des Architekten

Text von Michaela Ernst Fotos: Manfred Klimek
Nichts davon kann ihn aus der Ruhe bringen. Dass die gläsernen Luster zu knapp an der neu aufgestellten Onyxwand baumeln. Dass die alten, löcherigen Deckenkassetten noch nicht gegen neue ausgetauscht worden sind. Dass die Besteckladen zwar schon eingebaut, aber nicht verkleidet sind. Dass es immer noch derart aussieht im Speisesaal des Restaurant "Korso" – alles voller Abdeckfolien, Schutzpappe und Klebebändern –, obwohl in zwei Tagen neu eröffnet werden soll.
Aber Paolo Piva ist ja nicht nur Designer, sondern auch Architekt. So bleibt er in diesem Endspurt gelassen, wie es nur Architekten sein können. Während all jene, die nichts mit dem Gewerbe zu tun haben, mit großen Fragezeichen in den Augen über die Baustelle gehen. Piva pafft Zigarre, schaut zufrieden, wechselt sich mit seinen Handwerkern aus, die ihn, wo immer er beschäftigt ist, stets begleiten.
Erst einmal das Wichtigste: Traditionsverfechter müssen jetzt nicht auf die Barrikaden steigen. Gewisser historischer Elemente wird das "Korso" nicht beraubt. Die Holz verdeckten Wände, die dem Saal seine spezielle luxuriöse Behaglichkeit verleihen, bleiben erhalten. Die Sessel, fast schon ein Markenzeichen des Hauses, ebenfalls. Lediglich die Schwere wird dem Raum genommen. Vor allem bei einem jüngeren Publikum konnte sie den Eindruck von Verstaubtheit erzeugen. Die alten Deckenluster werden demnächst durch Onyxplatten ersetzt, durch die warmes Licht schimmert. In einem zweiten Renovierungsschritt sollen die Holz-Paravents zwischen den Tischen Trennungselementen aus dem marmorisierten Stein Platz machen.
Der tragende Verjüngungsschub wird jedoch durch eine gigantische Onyxwand, einen 20 Meter langen Lichtkörper, eingeleitet, der sich im Entrée aufbaut und als warmherziger Vermittler zwischen Küche und Gästen firmiert. In eigens eingebauten Vitrinen werden Käse, Weine, Schnäpse und Zigarren präsentiert. "Irgendwann", träumt Paolo Piva, "soll die Transparenz so weit gehen, dass die Besucher über eine Glasöffnung Meister Gerer beim Arbeiten zusehen können." Alles langsam und in kleinen Schritten natürlich, keiner der Gäste soll sich durch die Veränderung vor den Kopf gestoßen fühlen.
Entstanden ist die Idee zur freundlichen Mutation während eines Urlaubs auf der Karibik-Insel Mystique. "Mich verbindet schon seit vielen Jahren eine Freundschaft zu Reinhard, deshalb ist es nicht außergewöhnlich, dass wir miteinander die Ferien verbringen. Wir haben sehr intensiv über das Konzept von Luxus, Klassizität und Veränderungsprozessen gesprochen. Reinhard hat sich zu dieser Zeit viele Gedanken über das Thema gemacht, weil er wahrscheinlich gespürt hat, dass er selbst vor einer Überarbeitung seiner Küche steht. Ich fand jedenfalls, dass er bereit war für eine Kritik, und deshalb schlug ich ihm eine Veränderung des Lokals vor", fasst Piva rasch die Vorgeschichte zusammen.
In einem wesentlichen Punkt waren die beiden Männer sich sofort einig: "Das pompöse Übertriebene ist vorbei, das reifere Konzept von Luxus heißt Bescheidenheit, und diese äußert sich in einer Rückkehr zum Echten und zu den eigenen Wurzeln." Deshalb hat Paolo Piva als dominierendes Material Onyx vorgeschlagen: "Dieser Stein hat in Wien sehr viel Tradition. Adolf Loos hat ihn gern verwendet. Am Beispiel seiner ,American Bar‘ in der Wiener Innenstadt lässt sich bis heute bewundern, welche Effekte man selbst auf kleinstem Raum mit Onyx erzielen kann." Und dann im Nachsatz: "Es gibt eine Ebene, die die Arbeit von Reinhard mit meiner verbindet. Und das ist die Wahrheit der Materialien."
Wie vielen Italienern wurde auch Paolo Piva dieser Anspruch an die Wahrhaftigkeit mit der Muttermilch eingeflößt. In seinem Fall müsste man allerdings von Tantenmilch sprechen. Den Eltern – beide Professoren, der Vater für Mathematik, die Mutter für Sprachen und Literatur – blieb nämlich nicht übermäßig viel Zeit für überbordende Kocherei. Dafür gab es zwei Tanten, die sich um Paolo kümmerten, wenn er von der Schule nach Hause kam.
Mit fast wissenschaftlicher Akribie erstellten sie einen wöchentlichen Speiseplan, den Paolo Piva bis heute wie aus dem Effeff zitieren kann. "Am Sonntag kochten sie Suppe mit Tafelspitz oder Pollo und machten Tortellini dazu. Am Montag mengten sie den Resten des Fleisches zwei Scheiben Salami bei und verarbeiteten das Ganze zu Laibchen. Am Dienstag stand Gemüse auf dem Programm, das je nach Saison variierte und meist als Minestra serviert wurde. Am Mittwoch gab es zum ersten Mal frischen Fisch auf dem Markt, also gab es daheim frischen Fisch. Am Donnerstag wurden die Fischreste in einem Risotto verarbeitet. Freitag war wieder Fischtag und am Samstag formte Tante Maria frische Gnocchi."
Diese Strenge gegenüber der Frische pflegte Paolo Piva auch, nachdem er seinen Heimatort Adria verlassen hatte, um in Venedig zu studieren und später, als er, junger Familienvater, sein erstes Architektur-Atelier in Padua eröffnete. "Das war Anfang der 70er-Jahre und eine wirtschaftlich schwierige Epoche. Dennoch gab es unter den Arkaden, auf der Piazza delle Erbe, wunderbare Lebensmittelgeschäfte. In dem einen bekam man nur Fleisch, in dem anderen nur Gemüse, im nächsten wiederum nur Käse, Oliven und Trüffel." Dort kaufte er am liebsten ein und wandte bei seinen Überlegungen stets das Konzept der Tanten an: Was kann man besorgen, was am nächsten Tag, in anderer Zubereitungsform, noch genauso gut schmeckt?
In dieser Zeit entwickelte Paolo Piva seinen Risotto-Perfektionismus. Erstens lässt sich das hoch komplexe Reisgericht in mannigfacher Verarbeitung zubereiten. Zweitens kann man Reste verwerten, die bei fachkundiger Zugabe nicht als solche identifizierbar sind.
Ein Auszug aus Pivas (bislang unveröffentlichter) Reisfibel: Gemüse-Risotti gehören sehr weich und sehr flüssig. Bei Olivenrisotto muss eine bestimmte Olivensorte verwendet werden, sonst schmeckt es nach nichts – "und zwar die kleinen, runden italienischen Oliven, die bei uns auf den Bäumen wachsen. Kauft man die ovalen, schmeckt es sofort ganz anders". Auch die Zwiebelnutzung sollte sehr sorgfältig sein. Und natürlich gehört in Steinpilzrisotto niemals Käse!
Dieses Wissen, über das er stundenlang reflektieren könnte, hat sich Paolo Piva durch jahrelange Übung erarbeitet. "Ich war natürlich viel zu stolz, um mir bei Köchen Rat einzuholen", grinst er. Dementsprechend emotionsgeladen spielten sich dann die Essen ab, bei denen der Architekt Hand angelegt hatte: "Ich war immer sehr enttäuscht, wenn meine Kinder das Risotto nicht mit ausreichender Ehrfurcht angenommen haben. Ihnen wäre natürlich eine Pasta lieber gewesen." Heute lacht Paolo Piva im Spiegel dieser Erinnerungen.
"Jetzt haben wir so wenig über Architektur geredet", meint Piva eine Spur betrübt. Wo doch die Architektur in den vergangenen Jahren eines der Lieblingsthemen der Gastronomie geworden ist. "Das ist ein bisschen das Traurige: Man glaubt, mit einer schlichten Architektur einen gewissen Qualitätsbegriff vermitteln zu können. Es gibt sicher nicht wenige Küchen, die sich auf diese Art und Weise versuchen emporzuschummeln."
Dabei sei, so Piva, gerade in der Gastronomie die Rolle der Architektur leicht zu definieren: "Sie festigt den Unterschied zwischen den Wertigkeiten und den Maßstäben. Deshalb ist es logisch, dass man bei einer Überarbeitung des "Korso" ein bisschen den Ort zelebriert. Und es ist, etwas überspitzt ausgedrückt, auch klar, dass in den Wiener Südbahnhof genauso wenig ein Barock-Lokal passt wie japanischer Minimalismus in ein Wiener Wirtshaus."
Diesen übertriebenen Kulturverschnitt bemerkt Piva auf seinen Weltreisen vor allem bei italienischen Restaurants außerhalb seiner Heimat. "Da herrscht eine falsche Interpretation der Italianità. Das ist genauso, wie wenn man in Jesolo in eine Birreria geht und mit einem Jodler begrüßt wird. So etwas will doch kein Österreicher hören! Eine gewisse Diskretion ist eben auch ein Symbol von Qualität."