Der Chef

Eckart Witzigmann ist 80. Grund zum Feiern und für einiges Grundsätzliches vom „Chef“ – so wird Eckart Witzigmann von seinen Freunden und früheren Mitarbeitern liebevoll und respektvoll genannt.

Foto von Helge Kirchberger/Pantauro

Eckart Witzigmann ist der Anführer einer kulinarischen Welt. Er hat Meilensteine gesetzt, ist eine Instanz, dessen Meinung und Urteil bei Generationen von Gastronomen und Küchenchefs Gewicht haben.

Der gebürtige Österreicher war der erste Koch im deutschsprachigen Raum, der den Zusatz „Star“ erhielt. Wolfram Siebeck, der Gourmetjournalist, der Deutschland das Kochen und Genießen beibrachte, meinte einmal, es gab eine Zeit vor Witzigmann und eine Zeit nach Witzigmann – womit eigentlich das Wichtigste gesagt ist.

Die nachfolgenden Textpassagen stammen aus dem neuen Buch von und über Eckart Witzigmann, das anlässlich des runden Geburtstags soeben erschienen ist.

Eine umfassende Lebens- und Werkschau in einer exklusiven Buchausgabe auf 680 Seiten. Damit will der große Pionier und Visionär noch einmal betonen, was ihm wichtig war. Wichtig ist. Und wichtig bleibt.

Herr Witzigmann, ist das Produkt wirklich der Star?

„Das Produkt ist der Star – ganz ehrlich, eigentlich kann ich diesen Satz gar nicht mehr hören. Zu oft gesagt, zu inflationär verwendet, zu sehr verwässert, mit anderen Worten: einfach abgedroschen.

Aber ist der Satz deswegen falsch? Zumindest war er es nicht, als ich die große Welt der Kulinarik für mich entdecken durfte.

Sicher, zur Zeit meiner Aus- und Weiterbildung durfte ich in einigen großen, sehr gut beleumundeten Häusern arbeiten und lernen. Und natürlich waren diese stets auf der Suche nach dem guten Gericht und dem dazugehörigen guten Grundprodukt – das war man dem eigenen Erfolg und Ruf schuldig.

Aber genauso richtig ist auch, dass Produktauswahl und Produktqualität in Ländern wie Frankreich, Belgien, Italien, Spanien einfach ganz andere waren.

Es ist schwer, jungen Menschen, die sich ja durchaus stark für gutes Essen interessieren und die die heutige, globalisierte Welt mit all ihren Einkaufsmöglichkeiten kennen, zu beschreiben, welch regelrechter Kulturschock mich traf, als ich erstmals die Küche meines großen Lehrmeisters Paul Haeberlin betreten durfte.

Warum waren die Haeberlins ein solcher Augenöffner für mich? Ich meine, ich kam ja nicht aus dem Nirgendwo, die meisten Produkte kannte ich und hatte bereits mit ihnen gearbeitet. Was ich nicht kannte, war die Vielfalt des Angebots und dessen Qualität. Konkret kann ich nennen: Steinbutt, Jakobsmuscheln noch in der Schale, tagesfrische, lebende bretonische Hummer im Übermaß, aus der Ill die fangfrischen Aale, Forellen, Schleien, einen Tisch weiter die Bresse-Tauben, Fasane, Wachteln, Schnepfen, Wildhasen, Rehrücken. Ganz zu schweigen von den Trüffeln. Von wegen Späne, die wurden im ­ Ganzen gegart und als ,Truffe sous la cendre‘ auf den Tisch gestellt. Und noch eins kam hinzu: Wenn Monsieur Paul, sagen wir mal, 60 Tauben von seinem Lieferanten bestellte, dann bekam er nicht nur 60 Tauben, die in der Qualität erstklassig waren, sondern er bekam 60 Bresse-Tauben, die alle gleich schwer waren. Genau wissend, dass man alle Tauben nur dann perfekt auf den einen Garpunkt aus dem Rohr ziehen kann, wenn sie alle gleich schwer sind.“

Warum sind die Errungenschaften der Nouvelle Cuisine auch heute, über ein halbes Jahrhundert später, immer noch von so elementarer Bedeutung?

„Die Antwort liegt in einem Dreisprung. Erstens: Die leichtere, bekömmliche, produktbezogene Nouvelle Cuisine war und ist nur möglich mit einem hervorragenden Grundprodukt. Zweitens: Dieses hervorragende Grundprodukt ist nur möglich, wenn es nicht nur mit Respekt verarbeitet wird, sondern es muss auch mit Respekt gezüchtet und geerntet werden. Wer nicht bereit ist, für Fleisch, Fisch und Gemüse allerbeste Zucht-, Schlacht- und Erntebedingungen zu garantieren, wird nie ein Produkt gewinnen können, das den Anforderungen der modernen Spitzengastronomie gerecht wird. Wichtiger noch: Nicht das Produkt ist der Star, sondern sein Produzent. Sein Wissen um Qualität, seine Leidenschaft und Hingabe, sein Bestehen auf Tiefe und Ernsthaftigkeit sind das unerlässliche Trampolin, auf dem die Köche der ­Nouvelle Cuisine ihre Sprünge machen konnten. Womit, drittens, ganz unmissverständlich klar wird: Die Nouvelle Cuisine im Speziellen wie das heutige Fine Dining im Allgemeinen haben ­beizeiten bereits etwas verstanden, was sich heute ganz langsam, aber sicher zum Allgemeinempfinden verfestigt: Wirklicher, ernst zu nehmender Ess­genuss ist nur im Einklang mit der ­Natur und der Kreatur möglich.

Ich habe bereits vor vierzig Jahren versucht, regionale Produkte und deren Produzenten zu aktivieren. Für mich ist es bis heute ein unglaubliches Privileg für einen Koch, wenn er seine Lieferanten persönlich kennt – und die ihn, ­genau wissend, was er haben will, was ihm wichtig ist, worum es bei einem überdurchschnittlichen Produkt geht. Was dann in der Folge aber auch bedeutet, dass man sich diesem Produkt in seiner Gesamtheit stellt und nicht nur immer im wahrsten Sinne des Wortes die Filetstücke rausschneidet. Die Reaktionen darauf waren zu meinen Tantris– und Aubergine-Zeiten nur zu oft haarsträubend. ,Was hat ein Kalbskopfsalat auf lauwarmem Wurzelgemüse in einem Drei-Sterne-Restaurant zu suchen?‘, fragten viele Gäste und Kritiker, ernsthaft um meinen Geistes­zustand besorgt. Nose to tail, ein Gebot der aktuellen Stunde? Eher nicht, wir haben zu meinen Zeiten, von der Lehrzeit an bis hin zum Tantris und noch ausgeprägter in der Aubergine, nichts anderes gemacht.

Was heißt denn Nose to tail? Auf diese Weise Fleisch zu verzehren, ist viel kreativer, komplexer und authentischer. Zudem schränkt man so ganz automatisch seinen eigenen Fleischkonsum ein. Denn wer so kocht, erhält ein viel klareres Bild davon, dass ein Tier nun mal nicht ausschließlich aus Filet besteht. Zum Glück möchte man sagen. Einerlei, ob Rind, Schwein oder Wild, oft unterschätzte Stücke wie Brust, Schwanz, Fuß, Zunge, Innereien wie Leber, Hirn, Herz oder Nieren sind doch mit dem Filet auf Augenhöhe. Man muss sie nur richtig behandeln.

Solange wir Menschen nicht in der Breite bereit sind, für Lebensmittel so viel vom durchaus vorhandenen Geld auszugeben, dass das Wort auf ,Leben‘ und nicht auf ,Mittel‘ (zum Zweck) betont wird, so lange dürfen wir uns nicht wundern, dass in einem Industriebetrieb täglich 50.000 Schweine von Lohnsklaven ausgenommen werden.

Ich weiß, was es heißt, jeden Euro zweimal umdrehen zu müssen. Ich selbst komme aus dem, was man so nett mit ,einfachen Verhältnissen‘ umschreibt. Und gleichzeitig bin ich meiner Mutter bis heute dankbar, wenn ich zurückdenke, wie sie für uns gekocht hat. Da gab es so viele Köstlichkeiten jenseits von Fleisch und Fisch. Ich habe damals gelernt, was ich heute noch betone und selbst lebe: Für mich beginnt der Genuss bei besagtem frischen Stück knusprig gebackenem Brot, frisch erzeugter Bauernbutter, feinst geschnittenem frischen Schnittlauch. Ein artgerecht gehaltenes Huhn, frisch und eben nicht tiefgefroren, kostet nicht die Welt und kann der Beginn eines großen Genusses sein.

Hilft mir bei dieser Erkenntnis die Politik? Von wohlfeilen Lippenbekenntnissen mal abgesehen? Na, sicherlich nicht. Stattdessen stellen sie die Rahmenbedingungen für so manchen Missbrauch. Für die Politik scheinen billige Lebensmittel wichtiger zu sein als Essgenuss.

Das Produkt ist der Star? Glauben Sie mir, nie war dieser Satz so wichtig wie heute.“

Typisch Witzigmann: Gerichte, die bleiben

„Wenn man mich heute bitten würde, ein paar exemplarische Gerichte zu nennen, an denen man meinen Kochstil, sagen wir mal, programmatisch erkennen kann, dann würde ich sehr schnell Hummer mit Artischocke, Fèves, Tomate und Basilikum, mit Olivenöl aufgemixt, nennen. Naturbelassen. Alles frisch, volle Konzentration auf den perfekten Garpunkt. Hier sieht man, dass ich bei Vergé lernen durfte, alles ist mediterran, leicht bekömmlich, säurebetont.

Sicher ist ebenfalls, dass ich lieber koche, als über meinen Stil zu reden. Sollen doch die ­einzelnen Gerichte Zeugnis ablegen. Mein ­Gericht Hechtschwanz mit Senfbutter und ­Kapern könnte man als Pars pro toto nehmen, ein typischer Witzigmann halt: puristisch, produktbezogen, beste Güte. Eine kleine Senfbutter und Kapern, die Kartoffelscheiben nicht zu vergessen, die ich unter den Hechtschwanz gelegt habe, damit dort ein ähnlicher Garpunkt wie beim Hauptteil vorherrscht.

Ich würde heute nicht mehr Bries und Hummer mit zwei verschiedenen Saucen und Chicorée kombinieren, obwohl Kalbsbries und Hummer immer noch eine spannende Kombination sind. Aber ich würde heute beides, je nach Saison, vielleicht mit Spargel oder frischen Morcheln oder mit Schwarzer Trüffel und Schwarzwurzeln moderner arrangieren.

Ein weiteres typisches Witzigmann-Gericht ist dann aber auch die Linsensuppe mit Wachteln, ein richtiges Hammergericht. Linsen ­haben mich immer interessiert, allein schon deswegen, weil es ein Armeleuteessen war. Mich hat es immer gereizt, gerade die vermeintlich einfachen Lebensmittel auf eine neue Bühne zu stellen. Und wie war die Linse nach dem Krieg doch verpönt. Fast ebenso extrem wie die Rote Bete. Hat sich aber mittlerweile Gott sei Dank erledigt.

Stünde ich heute in meiner Aubergine-Küche und wollte unbedingt einen Klassiker erschaffen, einen typischen Witzigmann, ich würde versuchen, den Begriff Nachhaltigkeit stark in den Vordergrund zu stellen. Ich würde beim Kalb bleiben, also ein Milchkalbskarree. Das würde ich mit einer Steinpilzmischung füllen, also dem Karree einen Kern verpassen, aber ,drumherum‘ würde ich etwas mit Niere, Bries, Hirn und Leber machen. Die Nieren im Fett gegart, das Bries mit Trüffeln gespickt. In diese Richtung würde ich was Schönes anrichten.“

Kochen ist ein Kontinuum

„Ich weiß genau, wenn sich die jungen Leute heute meine Gerichte anschauen, würden viele sagen, das ist ein alter Hut, vieles sieht überholt aus. Aber damit kann ich gut leben, weil so ist die Geschichte nun mal. Alles ist im Fluss, alles entwickelt sich, das Leben ist Transformation, noch mal: Kochen ist ein Kontinuum. Natürlich haben sie recht, wie es ebenso richtig ist, dass meine Küche damals reine Avantgarde war. Man kann da selbstverständlich stundenlang drüber diskutieren, nur eines ist bei allem unumstößlich: Die Konzentration auf das Produkt – die ist heute aktueller und angesagter denn je. Diese Erkenntnis ist jahrzehntealt, und heute wird sie von jedem ambitionierten Koch betont – bis zum Abwinken. Dieser Satz ist das absolute Credo. Es ist und bleibt die Grundvoraussetzung für das genussvolle Kochen. Und noch einmal, ich werde nicht müde, es zu betonen, zur Wichtigkeit des Produkts kommt mittlerweile auch die Wichtigkeit des Produzenten hinzu. Wer mir hier vorhält, ich würde mich wiederholen, dem sage ich nur: und ob – weil man es gar nicht oft genug sagen kann. Mir ist völlig einerlei, ob man mich und mein Werk entweder als überholt oder als aktuell einstuft, solange meine Vision vom exzellenten Ausgangsprodukt als unumstößliches, zeitloses Vermächtnis begriffen wird.“

Die Karriere

Eckart Witzigmann wurde am 4. Juli 1941 in Hohenems geboren. Schule und Lehre im Hotel Straubinger, Bad Gastein, danach verschiedene Stationen in europäischen Grand Hotels. Entscheidend dann die Jahre in Frankreich. Die Auberge de l’Ill der Gebrüder Haeberlin in Illhaeusern war eine der Schlüsseladressen für die Nouvelle Cuisine, weiteres Studium erfolgte bei den Päpsten namens Paul Bocuse, Paul Simon, Roger Vergé und Brüdern Troisgros. Dazwischen Engagements in Stockholm (Operakällaren), London (Café Royal), Brüssel (Villa Lorraine), Washington, D.C. (Jockey Club). Von 1971 bis 1978 kochte er im Tantris in München ganz Deutschland in ungeahnte Höhen, danach eröffnete Witzigmann sein eigenes Lokal, das ­legendäre Aubergine. Die Folge waren unzählige Auszeichnungen, Höchstwertungen, Orden sowie die Ernennung zum „Koch des Jahrhunderts“, ein Titel, den außer ihm nur noch Joël Robuchon, Frédy Girardet und Paul Bocuse zuerkannt erhielten.

In den späten 1990ern entwickelte Witzigmann Restaurants und Hotels auf Mallorca und mit dem Palazzo die Schablone für Kochshows in großen Spiegelzelten.

Es folgte die Etablierung des kühnen wie erfolgreichen Gastköche-Konzepts für das Ikarus im Salzburger Hangar-7. Mit dem 2004 ins Leben ­gerufenen Eckart-Preis vergibt Eckart Witzigmann auch selbst Ehrenpreise an Küchenchefs, Produzenten und kulinarisch verdiente Persönlichkeiten in aller Welt.

Das Buch zum Lebenswerk

Anlässlich des 80. Geburtstags von Eckart Witzigmann erscheint seine umfassende Lebens- und Werkschau als exklusive Buchausgabe, ein Magnum Opus auf 680 Seiten, aufgeteilt in zwei Bände. Darin lässt der Chef das wirklich Wesentliche Revue passieren und präsentiert seine berühmtesten Klassiker. ­Allesamt Gerichte und Rezepte, mit denen Kulinarik-Geschichte ­geschrieben wurde. Und allesamt Gerichte, die von seinen mittlerweile selbst bekannten Schülern wie Johann Lafer, Norbert Niederkofler, Alfons Schuhbeck oder Joachim Gradwohl in diesem Buch erstmals neu interpretiert werden. – Ein exklusiver Bogen, der fünfzig Jahre Kochhistorie umspannt. Weggefährten und Schüler berichten von ihren ­Begegnungen und Erlebnissen, und der „Chef of Kings and Gods“, wie ihn die New York Times genannt hat, öffnet für das Bildmaterial sein ­privates Fotoarchiv. Die Texte ­stammen von Christoph Schulte, die Bilder von Helge Kirchberger.

ISBN 978-3-7105-0058-9
Verlag Pantauro
155 €