Der Geschmack der Kindheit

Der Geschmack der Kindheit ist unwiederbringlich, weiß Agnes Husslein-Arco. Diese

Der Geschmack der Kindheit

Dillsaucen, Schinkenfleckerln, Buchteln und Streuselkuchen! Mit Hilfe von Köchin Aurelia versucht ihn die Direktorin der Österreichischen Galerie im Belvedere zumindest zu rekonstruieren. Bei Hussleins duftet’s nach Alt-Österreich.
Text von Ro Raftl Fotos: Helene Waldner
Mit den Jahren stärkt Agnes Husslein ihr Rückgrat zusehends an der Familientradition. Hinter dem Direktionsschreibtisch im Belvedere hängt eine leuchtend blaue Dorflandschaft ihres berühmten Maler-Großvaters Herbert Boeckl. Sein Atelier lag ganz in der Nähe des Museums. Weshalb die Enkelin an Wochentagen bisweilen das bedeutende barocke Sommerpalais des Prinz Eugen samt seinem prachtvollen Park hinter sich lässt und in die Karolinengasse pilgert. Zu den böhmisch-österreichischen Schmankerln ins Gasthaus "Sperl". In diesem Alt-Wiener Beisel mit grün beranktem Innenhof war schon der Opa Stammgast. Dort schmeckt sie bei Hollersaft und Palatschinken den Genüssen ihrer Kindheit nach.
Agnes Husslein kann auch kochen, aber sie tut’s ohne große Leidenschaft, und wenn ihr hundert Freunde einreden wollen, dass Kochen entspannend sei, kann sie das nicht nachvollziehen. Das kommt daher, dass "Madame Belvedere" perfektionistisch veranlagt ist. "Meine Tage haben viele Stunden Arbeit und wenig Zeit für Amüsement und Schlaf", heißt Hussleins gängiges Statement, seit sie am 1. Jänner 2007 ihr Amt als Direktorin der Österreichischen Galerie im Belvedere samt den diversen Dependancen übernahm – ein Satz, der aber lange Zeiten ihres Lebens aktuell war: In den 1970er Jahren, als Agnes Arco den Spagat als Eiskunstläuferin und Kunststudentin hinlegte, später als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern auf Karrieretrip.
Wobei sie als Gastgeberin immer von sich reden machte. Sei es als Leiterin des Auktionshauses Sotheby’s, als Charity-Lady oder als Chefin des Museums der Moderne Salzburg. Wenn die gastronomischen Strukturen des Belvedere ihren Visionen gemäß aufgerüstet sind – was noch ein wenig dauern kann – wird’s auch dort feine Feste geben. Doch das hat mehr mit perfekter Organisation als mit Selbstkochen zu tun. Also löst sie die privaten Verköstigungsprobleme ebenso profimäßig wie elegant: Sie hat eine Köchin. Aurelia. Mit deren Hilfe versucht sie, die Familientraditionen der Hussleins und ihrer eigenen Vorfahren, der Arcos, aufrechtzuerhalten und an die Kinder Heinrich und Katharina weiterzugeben: "Ein intaktes Familienleben ist mir wahnsinnig wichtig", sagt Frau Direktor Agnes, und dass sie großen Wert auf gutes Essen und einen schön gedeckten Tisch lege. Was sie öffentlich bei etlichen Dekorations-Aktionen im Möbelhaus ihrer weitschichtig Verwandten Evamaria Schmertzing-Thonet unter Beweis stellte, aber auch im trauten Heim umsetzt: "Ich gebe mir viel Mühe mit wechselndem Tischschmuck, mit den richtigen Gläsern, dem richtigen Besteck. Sie sollen zum Essen und zur Jahreszeit passen. Ich bin ein optischer Mensch. Es muss schön sein! Für mich gibt es nichts Schlimmeres als einen verwahrlosten Tisch."
Dazu muss man sich zwei verschiedene Locations denken: den Wiener Haushalt und die Sommerfrische am Wörthersee, wo die 53-jährige Karrierefrau den Kindheitsgeschmack von Marthas Dillsaucen, Schinkenfleckerln, Buchteln und Streuselkuchen noch stärker auf der Zunge spürt als in Wien. Ein Geschmack, der "unwiederbringlich" ist. Vielleicht, weil’s heutzutage keine so aromatische Dille mehr gibt, weil Eier und Mehl längst ganz anders schmecken, weil früher alles direkt vom Bauern kam, weil das Wasser, die Luft, der Regen weniger verseucht waren. Vielleicht aber auch, weil man als Erwachsener nie mehr solchen Heißhunger hat wie mit zwölf – als man den ganzen Tag wie ein Pfitschipfeil durch den Wörthersee gekrault ist, und als bibbernde Wasserratte schnell ein ordentliches Kleidchen über die kälteprickelnde Haut geworfen hat, um sich bei Mittagessen und Jause warm und geborgen an Speisen und großfamiliärer Liebe zu nähren.
"Martha kam mit 15 als Kammerzofe zu meiner Urgroßmutter Zierotin, ältestem böhmischen Uradel, sie ist mit der Familie nach Österreich emigriert und blieb bei meinen Großeltern, bis sie 95 war", sagt Husslein. "Sie konnte auch noch die berühmte Zierotin-Torte backen, wahnsinnig aufwendig, lauter Mandeln und Kaffeecreme. Martha hat die handgeschriebenen urgroßmütterlichen Kochbücher mitgeschleppt – Heiligtümer, die übersetzt und abgetippt werden müssten. Kari Schwarzenberg wollte sie mir schon einmal entreißen. In der Familie wurden wir Mädeln immer ermahnt: ,Geht’s zur Martha und lernt’s was von ihr!‘ Leider ist bei mir nicht sehr viel hängen geblieben."
Obwohl die Mittagessen, Samstag, Sonntag, ein zentrales familiäres Thema bei Hussleins sind: "Die Kinder kommen, ihre Freunde, unsere Freunde. Da sind wir oft zehn, zwölf, vierzehn Leute. Wenn’s nur acht sind, stellt sich schon die Frage: Was ist los? Heut‘ ist ja überhaupt niemand da. Und es wird genau geplant, was gekocht wird. Österreichisch vor allem."
Die ungeschminkt attraktive Blondine weiß, was den Magen und die Seele wärmt "Wir sind ein Suppenhaushalt. Es gibt täglich Suppe, Rindsuppe mit Eingetropftem, Schöberln und Fritatten, Wiener Suppentopf mit frischem Gemüse,gutem Hendl und Nudeln. Auch diese völlig aus der Mode gekommenen Grieß- und Rahmsuppen!"
Fleisch wird relativ oft serviert, weil das die Herren klarerweise mögen. Aber es muss vom Herrn Schober in der Währinger Straße sein. Er liefert beste Qualität. Dort haben schon die Schwiegereltern eingekauft. Deshalb kostet eine Schinkensemmel ihres Ehemannes Peter Husslein bisweilen bis zu 500 Euro: Betritt der Vorstand der Universitätsklinik für Frauenheilkunde am AKH die Fleischerei, bekommt er zeremoniell die gesamtfamiliäre Rechnung der letzten zwei Monate präsentiert. "Aber er liebt Schobers frischen Beinschinken. Und ein gutes Frühstück", merkt die Gattin an. Wobei ausgedehnte Frühstücke vor allem in Kärnten richtig zelebriert werden. Dort gibt’s wiederum den Bäcker Wienerroither in Pörtschach. "Alles handgemacht!", schwärmt die Belvedere-Chefin und leckt sich beim Gedanken an Wienerroithers "Zuckerreinkerln" die Lippen. "Germteig, groß, rund, mit Zimt und Zuckerkruste, aber ohne Nüsse", erklärt Husslein für Nicht-Kärntner, und dass Zwergschnauzer Harry ihre Vorliebe und folglich auch jedes Reinkerl mit ihr teilt! Sie mag Mehlspeisen, worüber schon ihr Vater immer den Kopf geschüttelt hat: "Du bist wie deine Großmutter! Himbeersaft und Süßigkeiten!" Was sie daran erinnert, dass die einzigen alkoholischen Leidenschaften der alten Dame aus einem feierlich genossenen Stamperl Eierlikör und einem Glas Waldbeerbowle bestanden: "Die großen durchsichtigen Gefäße mit den eingelegten Früchten standen immer am sonnigen Küchenfenster."
Agnes war selbst so brav oder als Eistanzmeisterin im Paarlauf mit Adrian Perco so sportlich, dass sie bis zu ihrem 27. Lebensjahr keinen Tropfen Alkohol trank. Erst später kam sie auf Rotwein. Guten natürlich. Sie mochte ihn für ihr Leben gern. Besondere Köstlichkeiten hat sie auch gesammelt. Bis zur letzten Fastenzeit, die sie alljährlich 40 Tage lang strikt einhält – ohne Alkohol, ohne Brot, ohne Süßigkeiten. "Diesmal", sagt sie, "ist etwas Seltsames passiert: Ich hab mich schon so auf den ersten Schluck Wein gefreut, aber er hat mir nicht geschmeckt. Aus und vorbei! Jetzt trink ich halt ab und zu einen G’spritzten. Schlimmstenfalls ein Glas Prosecco. Puren Weißwein mochte ich überhaupt nie." Soll Schlimmeres geben. Umso mehr, da ihr Mann sich so gut wie nie an Alkohol stärkt.
Wenn er gelegentlich aufschreit "Wir werden zu dick", lässt sie Köchin Aurelia einfach enorme Gemüseplatten auftragen. Dass es frisches Gemüse bäuerlicher Herkunft ist, muss man nicht extra dazu sagen. Die beste Qualität der Grundnahrungsmittel ist ein Credo für die Hausfrau Husslein, die einfachen Oblaten nachjagen kann – denen ohne Zuckerfülle, die es nur noch in wenigen Geschäften gibt –, um eine altmodische Oblatentorte mit Schokobuttercreme herzustellen. Das tut sie gerne, wie sie sich auch bei den Nachspeisen Apfelstrudel, Zwetschken- und Marillenknödel (natürlich nach alten Rezepten) mit Aurelia messen kann. Bei der Weihnachtsbäckerei sowieso: "Das hat mir die Mami mitgegeben. Acht Sorten und seit Jahrzehnten die gleichen." Dass alles so ebenmäßig geformt und verziert sein muss wie vom Heiner oder vom Demel, versteht sich bei ihrem Schönheitssinn von selbst.
Aber ja, natürlich gehen die Hussleins auch gemeinsam essen. Oft ins Do & Co. Dort kommen dann die Woks und Sushis auf den Tisch: "Die Kinder sind 25 und 23. Sie gehören klarerweise längst der Sushi-Generation an."