Der Geschmack des Südens

Leben in einem Kosmos, der Superlative erwartet. Doch kein Getue. Weltreisen. Doch bei sich bleiben. „Das Schönste, das man kulinarisch erleben kann, sind die einfachen Dinge“, sagt Markus Hinterhäuser, Pianist und Intendant der Salzburger Festspiele.

Text von Ro Raftl Fotos von Regina Hügli

Pan e vin. Brot und Wein. Schlichter das Wunderbare einzukreisen geht nicht mehr. Dort, wo der Duft des Südens aus Salzburger Kochtöpfen steigt, möchte Markus Hinterhäuser zu Mittag essen. In der Hafenstadt La Spezia geboren, hat er Kinder- und Jugendjahre in der Versilia übersommert. Ja, Forte dei Marmi, Viareggio, Torre del Lago, Lucca. „Grün, grün, grün über Kalkstein“, malt er die Erinnerung: „Aus der hellen Sonne am Strand der toskanischen Küste der Blick auf die dunklen Wälder und nackten Felsen der Apuanischen ­Alpen. Tatsächlich eine Art Kindheitsparadies“, traut sich der Literaturliebhaber ein bisschen zögerlich über den strapazierten Begriff.

„Ein sehr schönes altes Haus einer sehr großen italienischen Familie, Großmutter, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Die Großmutter und ihre Schwester haben gekocht – für 15, 17, 20 Menschen am Tisch. Italienische Küche, einfach, sehr einfach und sehr, sehr gut. Da gibt’s kein kompliziertes Essen: Fisch bleibt Fisch, Fleisch Fleisch, Gemüse Gemüse und Öl bleibt Öl – und damit kann man Wunder tun. Die Wunder werden ­immer größer, je einfacher sie sind.“

Natürlich hat er seinen Proust gelesen, doch nicht die Krümel des Petite-Madeleine-Gebäcks in Lindenblütentee getaucht sind Hinterhäusers Schlüssel zur Vergangenheit auf der Suche nach der verlorenen Zeit: „Es ist der Geruch des Meeres, der aus dem Sud der Spaghetti vongole dampft.“ Aber. „Sehr oft gab’s auch eine Minestrone oder eine Parmigiana di melanzane im Sommerhaus. Die muss man nicht so heiß essen, fast lauwarm, wunderbar! Je tiefer man in den Süden kommt, desto weniger heiß wird gegessen.“

Seine Augen lachen, wenn er in Emphase gerät, Deutsch so schnell spricht, wie man’s vom Italienischen kennt und – immer pianissimo – darauf beharrt: „Das Schönste, das man kulinarisch erleben kann, sind die einfachen Dinge. Ach. Wenn du in die apuanischen Berge fährst, gibt’s Trattorien, da bekommst du das einfachste Essen – und es gibt kein besseres. Ein aufrichtiges Essen. Es tut auch nicht so, als wäre es etwas Besonderes, und das ist das Schöne daran. Ich koche so. Könnte niemals nach Rezept kochen. Auch etwas, das ich immer gesehen habe: Mit welcher Selbstverständlichkeit in Italien Essen zubereitet wird!

Und dann. Gab es damals noch etwas, das so wahnsinnig schön ist und ein bisschen verloren gegangen ist. Dazu eine Szene, die ich vor zwei Jahren in Athen mit Teodor Currentzis (dem Dirigenten) erlebt hab. Ein offizieller Termin, doch er wollte mich seiner Mutter vorstellen: ‚Komm!‘ Also gingen wir in das Haus, in dem er aufgewachsen ist – und das hat mich so an meine Kindheit erinnert: Sie kam und hat einfach Teller hingestellt. Fragte nicht, haben sie Allergien, sind sie Vegetarier, vegan – stellte Essen hin als Geste der Freundschaft. Das. Ist eine der schönsten Gesten für mich: Man bekommt etwas zu essen und zu trinken, wenn man ein Haus betritt. Heute ist es so wahnsinnig kompliziert geworden. Der eine isst das nicht und das nicht, verträgt kein Gluten, keine Histamine, ist auf Trennkost. Es wird so ein unglaubliches Getue gemacht.“ Schlägt den tiefsten Ton an, Subkontra-A wär’s am ­Klavier: „Ganz krank! Darum geht es doch nicht. Es geht um die Geste, jemanden willkommen zu heißen.“

Der Intendant zu Salzburg kann’s. Schlendert so lässig aus dem berühmten Portal in der Hofstallgasse, als hätte er alle Zeit der Welt und stünde nicht unter Nach-oder-noch-immer-pandemisch-downgelocktem-Pfingstfestpiel-Hochdruck. Obwohl es, April im Mai, abwechselnd nieselt, sonnt und schüttet, schafft Hinterhäuser Harmonie vom ersten Augenblick, mit vergnügtem Lächeln und kleinen freundlichen Bemerkungen – selbst wenn er nichts weniger mag, als fotografiert zu werden.

„Disziplin ist etwas Schönes!“, findet der Pianist. Grundsätzlich. Und natürlich aufs Klavierspiel bezogen, „bei dem ohne inneres Ordnungssystem niemals dieser eine – wenn auch meist flüchtige – Moment erlebbar wird, in dem alles stimmt“. Kommenden Festspiel-August wird er sich in der Kollegienkirche und im Haus für Mozart wieder hingebend solchen Momenten zu nähern suchen. Das bedeutet: üben, üben, üben. Morgens früh, wenn sonst alles noch ganz still ist im Großen Festspielhaus, sei es so inspirierend schön, Markus spielen zu hören, hat Präsidentin Helga Rabl-Stadler einmal erzählt.

Glück des Zufalls. Der Jüngste von drei Söhnen einer italienischen Germanistin und des renommierten österreichischen Romanisten und Übersetzers Hans Hinterhäuser, 1959 in eine Bücherwelt geboren, begann als Bub zum Spaß mit Geklimper, weil bei seiner Oma ein Flügel stand. Schließlich hat er in Wien und Salzburg Klavier studiert, war Schüler von Elisabeth Leonskaja und Oleg Maisenberg. Sagt, als Pianist hätten ihn Komponisten besonders interessiert, „die sich im Brüchigen be­wegen“ – wie Franz Schubert, Robert Schumann, Arnold Schönberg, dann die Musik von Morton Feldman, Giacinto Scelsi, John Cage, Galina Ustwolskaja und Luigi Nono. Glücklich, als Intendant diesen Sommer Nonos Oper oder vielmehr Azione scenica Intolleranza 1960 anbieten zu können, „zur Fragenstellung an eine Welt, die aus den Fugen gerät“. Im Pressetext steht: „Ein leidenschaftlicher Protest gegen Rassismus, Intoleranz, Unterdrückung und Verletzung der Menschenwürde, wobei die Umweltkatastrophe am Ende der Handlung das Werk mit heutigen Diskursen verknüpft.“ Ach. Nicht nur die Umweltkatastrophe.

Schirme abspannen in der Gstättengasse 1. Essen, trinken, reden im Pan e Vin, wo die Zitronen auf den Fensterbrettern blühen. Der Almfluss gurgelt und zischt vom Mönchsberg-felsen durch eine Turbine hinab wie ein Hinterglasbild mitten im Lokal, und Padrone Herbert Aglassinger hat schwarze Tinte für ein Risotto nero ergattert. Schiebt jedoch Weiße Nudeln in Trüffelcreme und Hummer- und Kalbfleischravioli dazwischen, „weil sich die so schön fotografieren lassen“. Die Deckblätter seiner Speisekarten malt er selbst – kein billiges Hobby, denn sie kommen unglaublich gut an bei den ­internationalen Gästen. Viele hängen vergrößert an der Wand. Bunter Zeitgeist im 600 Jahre alten Gemäuer.

Aglassingers Credo zur unternehmerischen Leidenschaft – „Der Gast muss spüren, dass man das gerne macht“ – trifft sich mit Hinterhäusers Überzeugung: „Man kann nur mit dem umgehen, das man liebt. Ein Intendant MUSS die Kunst lieben, ihr mit Offenheit und einer Umarmung begegnen.“ Mit dem Begriff „Kunstmanager“ konnte er sich nie identifizieren. Nun. Wurde sein Vertrag mit den Salzburger Festspielen bis 2026 verlängert. Bravissimo! Irgendwann wird da auch Zeit sein, Pan e Vins Küchenchef Jürgen Buchsteiner seine Kunst abzuschauen, Steaks so zu braten, wie sie MH am besten schmecken. Die Einladung steht schon länger.

Noch. Ist es postpandemisch still im Vergleich zum Tellerklappern, Gläserklirren, Lachen, Reden, Rufen, Girren in allen Sprachen zur Festpielzeit.

Dann ist hier wie an Dutzenden ­Orten zu Dutzenden Anlässen Hinterhäusers Funktion gefragt. Als ­Intendant. Der Reden halten darf, ­zuprosten, glückwünschen und „sehr elaboriertes“ Essen genießen. Blödelt: „Ein Schaum hier, ein Schaum da.“ Er mag das schon auch. Und ja, er hat die Welt umflogen, ob für Sponsorengespräche mit dem Festivalteam, ob als Liedbegleiter auf Konzertreisen. Mit Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender begann seine internationale Karriere; zu Schuberts Winterreise später mit Bariton Matthias Goerne fügte der südafrikanische Weltstar William Kentridge 24 subtil-humorvolle Animationsfilme hinzu. MH lacht. „Ja, da haben wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Waren in ganz Europa, in Moskau, Singapur, Seoul, Tokio. Und das japanische Essen ­beispielsweise ist nicht nur von geschmacklich unwiderstehlicher Feinheit, sondern auch von der Ästhetik her unglaublich schön. Auch in Moskau kann man ausgezeichnet essen. Aber es ist nicht so, dass ich, wenn ich unterwegs bin, nach Restaurants ­suche. Ich besitze auch keinerlei Restaurantführer. Denn, wenn ich selbst entscheiden kann …“

… geht das so: „Vor gut zwanzig Jahren hab ich in Palermo ein paar Konzerte gespielt, war danach mit einer Freundin im Mietauto in Sizilien unterwegs – und wir haben gegessen, wo wir was gefunden haben, irgendwo im Freien bei einer Tankstelle, und es war wunderbar! Das kann man in Italien erleben. Es gibt eine Form von Einfachheit, die es auch in der Kunst gibt, wenn man auf Wesentliches zurückkommt, ohne diese ganzen Ausschmückungen. Will Essen nicht mit dem Looshaus vergleichen – doch es geht um Vertrauen in das, was da ist.

Der Markt in Palermo – da fehlen einem die Worte. Dieser ganze Markt spricht von dem Vertrauen in das, was es in dieser Welt geben kann. Und das ist sehr viel. Dort spricht die Zuneigung zu den Dingen, die man hat, ob es das Gemüse ist oder der Fisch. Das lebt, und die Menschen ­leben damit und davon. Und das ist so schön. Ein Lebensgefühl – wenn man sich ehrlich befragt –, nach dem wir alle suchen. Hier haben wir es verloren.“ Fortissimo jetzt mit Pedal: „Tun immer so, als ob wir mehr brauchen und noch mehr. Das ganze Jahr über die vermeintlich idealen Tomaten, die nix anderes sind als kleine dumme rote Bälle mit viel Wasser drin, die nach überhaupt nichts schmecken.

Wir müssen nicht das ganze Jahr über die gleichen Dinge haben wie andere Regionen und sie aus Chile, Peru oder Asien einfliegen lassen. Wir haben doch hier sehr Gutes und ­Schönes, das wir in Anspruch nehmen ­können.“ Fast feierlich rezitiert er ein Rezept, „das die Einfachheit unterstreicht; ein sehr altes Essen aus einem Vorort von Florenz, L’Impruneta, wo Tonerde abgebaut wurde; ein Essen von Menschen, die dort gearbeitet und das Gericht wohl abends in einem ­Terrakottagefäß in den Ofen gesteckt haben: Peposo (Rezept S. 22).

Die (Gretchen-) Frage „Wie hast du’s mit dem Olivenöl?“ ist natürlich gänzlich falsch. Verhaltenes Donnern. „Olivenöl muss gut sein, ABER: Absolut lächerlich, wenn ein halber Liter 35 Euro kostet, genauso bei der Pasta, wenn sie von Cipriano sein muss. Absolut lächerlich, diesen Fetischismus zu betreiben und Unsummen Geld dafür auszugeben. Auch das hab ich von meinen Verwandten gelernt … Ich komm aus der Toskana, also bekomm ich mein Olivenöl von dort. Doch das ligurische ist ebenso gut. Sie schmecken nicht so wahnsinnig intensiv, je weiter südlich du fährst, desto intensiver werden die Öle, manchmal auch ein bisschen bitter. Aber. Wenn du eine Caponata machst, diesen sizilianischen Auberginensalat, stimmt auch das sizilianische Öl.“ Schnell und sehr leise: „Es gibt einfach gutes Öl! Doch ich bin planetenweit davon entfernt, einen Bella-Italia-Snobismus zu betreiben. Italien-Snobs kann ich nicht ausstehen.“

Frische gute Zutaten sind wesentlich. Gibt es in Salzburg. Auf Märkten mitten in der Stadt. Täglich vor der Kollegienkirche, wo – Einschub – Hinterhäuser mit Tomas Zierhofer-Kin die legendären Zeitfluss-Programme etabliert hat. Nach der Ära von Generalissimo Karajan, 1993, als sich Gérard Mortier und Hans Landesmann auf die „verrückten“ Ideen der jungen Künstler einließen, die sämtliche Konventionen und scheinbar in Gold gefasste Marketingstrategien auf den Kopf stellten: mit Nono, Rihm, Stockhausen in der Barockkirche Neugier weckten und Jubel bei einem drastisch verjüngten Publikum ernteten. Jetzt indes. Stehen wir auf dem Markt. „Donnerstags“, empfiehlt MH, „gibt es die Schranne (vor der Kirche St. Andrä). Wirklich gut und viel günstiger als hier. Und. Für besondere Dinge natürlich Sapori del Sud in der Nonntaler Hauptstraße.“ Schmunzelt. „Man muss ein bisschen Geduld haben, Salvatore geht ­seinem eigenen Rhythmus nach, doch was man ­bekommt, ist ganz wunderbar, Ricotta etwa, und hat auch nichts mit diesem forcierten italophilen Gehabe zu tun.“

Manchmal. Wünscht er sich den Zauber des ­Wiener Kaffehausessens herbei, hat’s ja nicht nur als Student, auch als Festwochenintendant zele­briert. „Naturschnitzel mit Reis im Café Korb zum Beispiel. Das kann man zu Hause gar nicht herstellen … wird aber auch in Pfannen gemacht, in denen Tausende Naturschnitzel gemacht worden sind. In Salzburg ist das schwieriger. Im Tomaselli gibt es nur Omeletts, und das Café Bazar hat sich ein bisschen vom typischen Kaffeehausessen entfernt, ist urbaner geworden. Keine Kritik, nur: Knacker, Röstkartoffel und Spinat bekommst dort nimmer – aus ebendiesen Pfannen, in denen schon tausend Mal geröstet wurde und was bisweilen fantastisch schmeckt.“

Im Lockdown wurde meist zu Hause gekocht. Von ihm oder seiner Frau? „Na, ist nicht so, dass wir eine Art von Arbeitsaufteilung hätten. Es geht, wie es geht. Ich hab ein nicht ganz so großes Repertoire an Dingen, die ich mache. Aber die sind, glaube ich, ganz gut. Haben so viel damit zu tun, was ich kennengelernt hab bei meiner Mutter und meiner Großmutter, Menschen, die Genüsse herzustellen in ihrer DNA haben.“

Pasta e lenticchie ist so ein Favorit. „Dunkle braune Linsen, eine Zwiebel, Knoblauch, zwei Stangen Sellerie, klein geschnitten, eine Dose Tomaten, Salz, Pfeffer, bisschen Chili“, sagt der Magier der Einfachheit. „Das lässt man köcheln, bis die Linsen halbwegs weich sind, dann bricht man die Pasta mit den Händen auseinander, wirft sie in den Topf und kocht, bis sich alles angenehm zusammenfügt. Tut Olivenöl drauf, und Pecorino oder Parmesan.

Hat was Winterliches. Hab ich oft ­gemacht. Sehr zur Freude der Präsidentin, die oft bei uns essen war im Lockdown. Ich hab keine Ambitionen als Koch, keine ­Ambitionen, ultrakomplizierte Dinge überhaupt zu machen. Helga Rabl-Stadler hat erklärt: ,Die beste Trattoria der Stadt!‘ Dann gefragt, ob das ein Fehler war und sie ,das beste Restaurant‘ hätte sagen sollen. Ich finde: Wenn sie es wirklich so meint, ist das für mich ein Kompliment.“

PEPOSO
Toskanischer Rinder-Rotwein-Eintopf

2 Kilo Rindfleisch (Wadschunken, nicht zu mager, nicht zu fett)
12 Knoblauchzehen im Ganzen
2 Esslöffel schwarze Pfefferkörner
im Ganzen
2 Rosmarinzweige
2 Lorbeerblätter
Salz
und: etwa 2 Liter Rotwein (idealerweise Chianti Classico)

Das Fleisch großzügig schneiden, 7 bis 10 cm groß, Fett dranlassen, es gibt den Geschmack. Mit den Gewürzen in einen Topf legen und mit dem Rotwein bedecken.

Dann vier, viereinhalb Stunden auf ganz kleiner Flamme zugedeckt köcheln lassen. Ab und zu ­nachschauen und wenden. Sehr geduldig bleiben.

Wenn das Fleisch so weich ist, das es zerfällt, kommt das ­Entscheidende: die Beilage.
Peposo ist gut mit Polenta, doch mit geröstetem Weißbrot, womöglich italienischem, schmeckt es am besten. Das saftgetränkte Fleisch auf das geröstete Brot legen und – ganz wichtig – darauf frisches Olivenöl. Sonst gar nichts. Was herauskommt, ist ein mittleres Wunder. Unfassbar gut!“