Der Supertramp
Ihm ist kein Weg zu weit, keine Hürde zu hoch, kein Schlafplatz zu hart und keine Bezahlung zu schlecht. Seit sechs Jahren jettet der notorische Nomade Lukas Mraz quer durch Europa und jobbt bei Spitzenköchen wie Juan Amador, Jonnie Boer und Joachim Wissler. Er erzählt bei einem Stopover in Wien, wie der Küchenalltag in einem 3-Sterne-Restaurant aussieht, berichtet von den Strapazen, die damit verbunden sind und verrät, wann er seinen kreativen Input in der Mraz-Küche umsetzen will.
Der Supertramp
Text von Claudia Schemerl-Streben Fotos: Philipp Horak
Bergisch Gladbach, Restaurant "Vêndome" – Markus, Manuel und Lukas Mraz bestellen das 24-gängige Degustations-Menü. Die Abfolge beeindruckt den 20-jährigen Lukas: kein Produkt, das zweimal vorkommt und keine Geschmackskombination, die er kennt oder der die Spannung fehlt. Der Höhepunkt: ein großer, durchgefräster, lackierter Stein, der als Teller fungiert und auf dem "Vêndome"-Küchenchef Joachim Wissler mit einer Haselnussexplosion, Pilzen, Pilzpuder und zu Blättern geformten Karamellchips einen Wald inszeniert. Lukas Mraz kostet, grinst und platzt heraus: "Das ist der Hammer. Da will ich hin."
Ausschlaggebend für die Wahl eines Arbeitsplatzes ist für Lukas Mraz eine Menüabfolge, die in ihm die Neugierde weckt und ihn in Euphorie versetzt. "Wenn es mich umhaut und ich sagen kann, ich pack‘ es gar nicht, will ich auch wissen, was in der Küche abgeht." Seit seinem 14. Geburtstag ist der Kreativkopf nicht weniger als zehn Mal im Jahr in der Welt unterwegs und kostet sich selektiv durch die Speisekarten internationaler Kochgrößen. Geführt hat die Wissbegierde und die Entschlossenheit den charismatischen Rotschopf, der in der Küche seines Vaters aufgewachsen ist, zu Molekularkoch Juan Amador nach Langen, zu Jean-Georges Klein ins Bärental im Elsass, ins niederländische Zwolle, wo Jonnie Boer in seinem mit drei Michelinsternen ausgezeichneten "De Librije" mit einer 20-köpfigen Küchencrew regionale Produkte visionär inszeniert, sowie in Joachim Wisslers Gourmettempel "Vêndome" im Barockschloss Bensberg in Bergisch Gladbach. Einen Job in einem von Lukas Mraz präferierten Restaurant zu bekommen, war für ihn nicht immer leicht. "Um den Posten bei Jean-Georges Klein hat er sich ein Jahr lang bemüht", erinnert sich Vater Markus Mraz. "Plötzlich kommt ein Anruf von Klein und er meint, wir sollen doch vorbeischauen. Ich habe mir noch gedacht, bei 1.000 Kilometer Distanz wird er schon wissen, warum er uns einlädt. Wir sind also am nächsten Wochenende mit dem Auto hingefahren, haben gegessen und Lukas hat im Anschluss ein zwei Stunden langes Gespräch mit Klein absolviert. Ich bin draußen auf und ab gegangen und in dem Moment, wo Luki wieder vor mir steht, habe ich erleichtert gesagt: ‚Na bumm, jetzt warst du so lange bei ihm. Ihr habt jetzt sicher alles fixiert?‘ Darauf sagt er resigniert: ‚nein‘. Ich konnte es nicht glauben und hab‘ gesagt, dann pfeif‘ drauf." Zwei Tage später kam der erlösende Anruf aus dem Bärental und das Okay von Jean-Georges Klein.
Ein Jahr lang werkte Lukas Mraz in der Küche des Restaurants "L’Arnsbourg", das sowohl für molekulare Menüs als auch für seine klassisches A-la-Carte-Angebot bekannt ist, und besetzte am Rôti-Posten auch die Stelle als Commis (=Jungkoch). "Ich habe wahnsinnig viel über Fleisch gelernt. Interessant fand ich, wie die Taube zubereitet wird: Man hackt die Brust so vom Rücken ab, dass nur noch die Brüste mit einer Karkasse darauf übrig bleiben. Das Fleisch wird gesalzen, angebraten, vakuumiert und kommt für vier Stunden bei 60 °C in einen Holdomaten (ein Niedertemperatur-Gargerät). Dann schiebt man es für drei Minuten in den auf 220 °C vorgeheizten Ofen und schneidet es auf. Das Fleisch ist dadurch innen noch blutig – richtig französisch halt. Darauf steh‘ ich", schwärmt Lukas. Die Küche des "L’Arnsbourg" zählt zu den größten, in denen Lukas Mraz bisher gearbeitet hat, – und zu den heißesten: "Bei Juan Amador haben wir mit Induktionsherden gearbeitet, da entstehen keine extremen Temperaturen, aber in Frankreich war es sauheiß. Ich hatte vor mir einen Herdblock mit vier Grillplatten, einen Ofen, einen Holdomaten und über mir einen Salamander (ein Küchengerät zum Bräunen und Überbacken von Gerichten). Wenn ich da in die Nähe gekommen bin, habe ich gedacht, ich beginne zu garen. Ich habe täglich sicher vier bis fünf Liter Wasser getrunken." Eine derartige Flüssigkeitszufuhr war in Jonnie Boers Restaurant "De Librije" in Zwolle nicht nötig. Die Küche befindet sich im Keller des Restaurants und ist mit großen Fenstern ausgestattet, durch die man zwar nicht sehen kann, die den Raum aber mit Tageslicht erfüllen, ohne ihn aufzuheizen. Perfekte Arbeitsbedingungen, abgesehen davon, dass die Mannschaft oft mehr als 15 Stunden in der Küche verbringt und zum Alltag auch ungeliebte Aufgaben gehören – in der Regel sind sie für Neuankömmlinge reserviert. "Ich habe am Fischposten begonnen. Am ersten Arbeitstag bin ich mit dem Souschef ins Kühlhaus gegangen, in dem blaue Kisten übereinander geschlichtet gestanden sind, die doppelt so groß waren wie ich. Ein Stapel war voll mit Fisch und der andere mit Jakobsmuscheln. Mein Job war es, alle Jakobsmuscheln zu öffnen. Etwas, das ich vorher noch nie gemacht hatte. Nachdem ich eingewiesen wurde, habe ich versucht, so schnell wie zu möglich zu arbeiten und an die 300 Jakobsmuscheln in vier Stunden ausgelöst. Ich war dementsprechend erledigt, habe aber weitergearbeitet, Fische filetiert und entgrätet und den Souschef irgendwann gefragt, wie oft diese Mengen an Muscheln ausgelöst werden müssen. Er hat gelacht, mir auf die Schulter geklopft und angekündigt: ‚morgen kommt die nächste Ladung rein‘." Mengen dieser Dimension musste Lukas Mraz nach dem zweiten Tag und insgesamt 600 Jakobsmuscheln nie wieder bewältigen. Ein halbes Jahr später fragte er nach, warum so viele Jakobsmuscheln benötigt wurden. Die Antwort: "Für dich. Man macht zweimal richtig viel davon und dann kann man es." "Er hatte recht", gibt der Rotschopf zu, "heute kann ich es im Schlaf".
Aus den von Lukas Mraz veranschlagten zwölf Monaten im "De Librije" wurden aufgrund der Überredungskünste von Jonnie Boer zweieinhalb Jahre. Die Bezahlung war miserabel, aber das war ihm egal: "Ich hätte sogar für weniger Geld dort gearbeitet, so viel Spaß hat es mir gemacht. Nach Frankreich würde ich hingegen nicht noch einmal gehen (im "L’Arnsbourg" wurde Lukas Mraz‘ Engagement als Commis großzügig abgegolten)." Die Zeit bei Jean-Georges Klein bezeichnet Mraz heute noch als die für ihn härteste: "Ich hatte keinen Kontakt zur Außenwelt und konnte mit niemandem reden, wenn ich ein Problem hatte. Das Bärental ist ein Kaff, du musstest fünf Kilometer in die eine Richtung oder sechs in die andere gehen, um überhaupt einen Telefonempfang zu haben. Nach dieser Zeit war viel aufgestaute Wut in mir." Anders in Zwolle – dort wurden Schwierigkeiten vor Ort gelöst. Einen verärgerten Jonnie Boer hat Mraz nur einmal erlebt. "In anderen Küchen zählt man die Tage, an denen der Chef nicht schlecht drauf ist." Missgeschicke passieren regelmäßig, wie man damit umgeht, hängt von der Einstellung des jeweiligen Küchenchefs ab. "Im ‚De Librije‘ hatten wir ein Gericht mit Kabeljau auf der Karte, für das auch Kinn, Zunge und Wangen des Fisches angerichtet wurden. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, ob sich der Fischlieferant verzählt hat oder ich falsch bestellt habe, aber plötzlich war nur die Hälfte der Zungen da. Mir ist das Blut in den Kopf geschossen, ich hab‘ alle Laden abgesucht und die Kühlhäuser – ohne Erfolg. Mir ist nichts anderes übrig geblieben, als es Boer zu beichten, und anstatt zehn Minuten zu schreien, hat er sofort eine Lösung gesucht. Er hat einfach nur gesagt: ‚Shit happens‘, und eine anderes Gericht auf die Karte geschrieben. So will ich es auch hier machen", sagt Mraz bei einem zweiwöchigen Stopover Anfang Jänner in seiner Homebase, der Mraz-Küche in Wien-Brigittenau: "Wir waren mitten im Abendgeschäft und der Koch, der sich um die Petit fours kümmert, war gerade nicht am Posten. Ich habe deshalb den Patissier gebeten, zu reagieren, wenn ich nach den Petit fours frage, und er meinte nur, dass das nicht sein Job sei. So geht’s aber nicht – der Küchenablauf funktioniert nur als Team."
Was Mraz bei seinen Stationen im Ausland an Ideen aufnimmt, notiert er sich in einem kleinen Buch, von dem es mittlerweile etliche gibt. Bei Juan Amador lernte er molekulare Techniken kennen und eignete sich den Umgang mit Alginat, Maltosec und Xanthan an. Mitschreiben war nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. "Wenn ich gefragt habe, wie etwas geht, haben sie mir gleich das Rezept in die Hand gedrückt. Jede Speisekarte habe ich kopiert, selbst wenn nur ein Gericht darauf verändert wurde und alles ist nach dem Alphabet sortiert." Bei Jonnie Boer blieb bei einem Tag, der um 9.30 Uhr beginnt und nicht selten um 1 Uhr nachts endet, kaum Zeit für Mitschriften. "Ich hab‘ mir vieles nur grob notiert und schreibe mir jetzt erst Sachen auf, die ich noch im Kopf habe." Vom Kopieren eines Gerichts hält der Jungspross von Markus Mraz allerdings nichts. "Das Original kann man nicht übertrumpfen. Außerdem hat es absolut keinen Reiz", gibt er sich konsequent. Ständig auf der Suche ist der rastlose 20-Jährige auch nach neuen Produkten, die auch in der Speisekarte des "Mraz & Sohn" Sinn machen würden. Ein Grund, warum ihn auch eine Reise in den asiatischen Raum reizt. Vorher will er aber noch einen Abstecher ins Chicagoer Restaurant "Alinea" des Avantgarde-Kochs Grant Achatz machen, dessen 20-gängiges Menü Lukas Mraz bei einem Lokalaugenschein letzten Winter derart fasziniert hat, dass er es nicht lassen konnte, nach einer freien Stelle in der Küche zu fragen: "Ich kann gar nicht sagen, welcher Gang mich am meisten beeindruckt hat. Das ganze Menü war komplett verrückt, voller Überraschungen und geschmacklich perfekt." Ein Highlight greift er dennoch heraus: "Nach dem letzten Gang räumt der Kellner die Gläser vom Tisch ab und rollt eine Silikonmatte darüber. Im nächsten Moment steht Grant Achatz am Tisch und zieht mit Fruchtsaucen Fäden, setzt Punkte und Spiegel direkt auf die Matte, legt einen rauchenden, dunklen Ziegel in die Mitte des Tisches, schlägt mit einem Löffel darauf und plötzlich entsteht daraus ein eisiges Schokomousse, zu dem Achatz eine Crème brûlée im Glasröhrchen serviert. Es war keine komplexe Geschmackskombination, aber es war abgefahren, vom Tisch zu essen, eine geniale Inszenierung und so lecker, dass man gar nicht mehr aufhören wollte."
Aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation in Amerika ist ein Engagement für Lukas Mraz bei Grant Achatz derzeit undenkbar. Ein Praktikum im "Alinea" hat er aber schon in der Tasche und will die Chance auch nützen, sobald er seine Zeit bei dem besten Koch Deutschlands, Joachim Wissler, absolviert hat – seit dem Frühjahr beweist sich Lukas Mraz dort als Chef de Partie (Posten-Chef). Er gibt aber zu: "Am liebsten würde ich sofort einen Flug nach Chicago buchen." Dass Lukas Mraz in die Küche des "Mraz & Sohn" zurückkehren wird, ist für ihn fix. Wann, weiß er aber noch nicht. Inputs aus dem Ausland werden bis dahin in regelmäßigen Abständen per Telefon durchgegeben. "Obwohl es in letzter Zeit eher ruhig geworden ist", verrät Vater Markus Mraz. "Während seiner Zwischenstopps in Wien schreibt er jeden Tag in sein Notizbuch. Was drinnen steht, bleibt geheim." Lukas Mraz nabelt sich ab, wird langsam erwachsen und erklärt seine Verschwiegenheit prompt: "Wenn ich eine richtig gute Idee habe, will ich sie ihm eigentlich nicht geben, weil er sein eigenes Ding daraus macht. Dabei sehen die Gerichte in meinem Kopf anders aus", gibt sich Lukas Mraz konsequent und legt selbstbewusst nach, "deshalb kommen sie erst dann auf die Karte, wenn ich wieder da bin".