Der Wert der schwarzen Rasse

Der mythische Jamón Ibérico gilt als eine der berühmtesten Delikatessen der Welt und als Stolz der spanischen Gastronomie. Doch wegen seiner großen Beliebtheit und wachsender neuer Absatzmärkte wie etwa in China steigt die Produktion und sinkt die Qualität. Gegenwirken soll eine neue Etikettierung.

Text von Georges Desrues/Fotos von Georges Desrues

In blauem Arbeitsoverall und mit festen Schuhen stapft Juan Carlos Dominguez über den tiefen Waldboden. Bis der Züchter unter einer Eiche stehen bleibt und völlig unerwartet einen lauten Schrei loslässt. „Wäh-hää, wäh-häää“, schallt es durch den Wald. Plötzlich taucht aus dem Nebel ein Dutzend galoppierender Schweine auf. In erstaunlich hohem Tempo, direkt auf Dominguez und den Besucher zu, sodass man es mit der Angst zu tun bekommt. Doch als der Züchter nur einen einzigen Schritt nach vorne macht, bremsen die Schwein brüsk ab, rutschen aus, rennen ineinander oder machen eine sprunghafte Kehrtwendung. Der Züchter lacht, der Besucher ist erleichtert.

„Sie sind nur wahnsinnig neugierig“, sagt Señor Dominguez, während sich die Tiere jetzt viel vorsichtiger annähern und mit ihren Rüsseln den Besuch beschnüffeln. Nun kommt es freilich nicht oft vor, dass man mitten in einer Schweineherde steht. Oder überhaupt ein Schwein in freier Natur zu Gesicht bekommt. Werden doch die meisten dieser smarten Tiere, von denen es heißt, dass sie intelligenter seien als Hunde, in Stallungen und vielfach unter absurd grausamen Bedingungen gehalten. Nicht so hier im südspanischen Andalu­sien, unweit der Ortschaft Jabugo. Region wie Ortschaft sind bekannt für den berühmten Schinken, den die Spanier Jamón Ibérico nennen.

Erzeugt wird er aus den Keulen einer alten, dem Wildschwein genetisch noch sehr nah verwandten Rasse, dem Cerdo ibérico oder Ibérico-Schwein. Im Wuchs sei es zwar viel kleiner als das gemeine Hausschwein, sagt Dominguez, wachse zudem langsamer, sei dafür aber auch robuster, krankheitsresistenter und dem Leben im Freien besser angepasst. Seit Jahrhunderten wird es in den südspanischen Regionen Extremadura und Andalusien gehalten. Die meiste Zeit in freier Natur, in den sogenannten Dehesas. Dabei handelt es sich um Eichenhaine, die in früheren Zeiten als Allmende bewirtschaftet wurden; als Gemeindeeigentum also, das von allen genutzt werden durfte.

In dieser in einigen Fällen jahrtausendealten Kulturlandschaft verbringen die Iberischen Schweine einen Großteil ihres Lebens, genießen den großzügigen Auslauf und suchen sich ihr Futter zum Teil selbst. Dabei spenden ihnen die Eichenbäume Schatten sowie Nahrung in Form von Eicheln. In einer ­Gegend, in der die Böden nährstoffarm und die Trockenzeiten häufig sind, galt die Weidewirtschaft in den Dehesas einst als Überlebensmethode. Heutzutage bilden die einzigartigen Eichenhaine mit ihrer pflanzlichen und tierischen Vielfalt ein Musterbeispiel für naturnahe Landwirtschaft.

Doch sorgen der viele Platz, das langsame Wachstum und die geringe Größe der Schweine freilich auch für einen vergleichsweise extrem hohen finanziellen Aufwand. „Weswegen mit der wachsenden Nachfrage nach Jamón Ibérico eine immer größere Zahl von Züchtern dazu übergeht, die Tiere mit Hausschweinen, etwa mit der um einiges ertragreicheren Rasse Duroc, zu kreuzen“, erklärt Dominguez. Das sei zwar völlig legal, berge aber zugleich die Gefahr, den Verbraucher zu verwirren, fügt er an. Denn viele wünschen sich eben, dass in einem Schinken, der als Jamón Ibérico verkauft wird, auch tatsächlich nur Ibérico-Schwein drin ist.

Darum führte der spanische Gesetzgeber vor einiger Zeit eine Klassifizierung durch Farb­etiketten ein, die dazu gedacht ist, die Transparenz zu erhöhen. Auskunft geben die Labels nicht nur über Rasse, sondern auch über Aufzuchtbedingungen und Futter. So erhält etwa ein schwarzes Etikett nur solcher Schinken, der als Bellota 100 % Ibérico qualifiziert wurde und somit von zu hundert Prozent reinrassigen Ibérico-Schweinen stammt. Zudem müssen sie in der freien Natur der Dehesas aufgezogen werden und sich während der Mast ausschließlich von Eicheln (Spanisch = bellota) und Wiesenkräutern ernähren.

Rot indessen steht für Bellota Ibérico und also für Schinken von Schweinen, die zwar auf dieselbe Art aufgezogen wurden wie die vorher genannten, jedoch nur zu fünfzig Prozent von der iberischen Rasse abstammen müssen. Andere Rassen dürfen in diesem Falls also eingekreuzt werden. Das grüne Etikett erhalten sogenannte Cebo-de-Campo-Ibérico-Schinken, nämlich von Schweinen, die zum Teil im Stall gehalten werden und sich in der Regel nicht von Eicheln ernähren. Auch sie können bis zu fünfzig Prozent gekreuzt sein. Und Weiß steht schließlich für Cebo Ibérico – Schinken von Tieren, die ausschließlich im Stall leben und gleichfalls mindestens zur Hälfte von der iberischen Rasse abstammen. Eicheln fressen auch sie nicht.

Was nicht am Etikett steht und berufsmäßige Nörgler beschäftigt, sind Pökelsalze, die in den meisten Schinken­betrieben Jabugos und der gesamten Region nach wie vor zusätzlich zu Meersalz verwendet werden. Und zwar ungeachtet der gesundheitlichen Bedenken, die gegen diese Konservierungsstoffe und ihren Gehalt an Nitriten (E 249, E 250) beziehungsweise ­Nitraten (E 251, E 252) immer wieder geäußert werden. Genau diese Bedenken hatten zur Folge, dass etwa weit größere und viel industrieller arbeitende Erzeuger in Parma oder San Daniele sie aus ihrer Rohschinkenproduktion längst verbannt haben. Letztlich ist es wohl eine Imagemaßnahme, denn es bräuchte schon enorme Mengen Pökelsalz im Schinken, um tatsächlich gesundheitsschädigend zu wirken. Und das kommt im Fall des extrem hochpreisigen Jamón Ibérico sowieso nicht allzu häufig vor.

Mit dem Auto geht es über den Forstweg – begleitet von einem Trupp neugieriger Schweine – zurück nach Jabugo. Der Zweieinhalbtausend-Einwohner-Ort scheint gut zu leben vom Schinken-Business. Alles ist adrett und sauber, die hübschen Häuser blütenweiß gestrichen, verkosten kann man so gut wie überall. „Seit 2012 gibt es die geschützte Herkunftsbezeichnung Jabugo für unsere Schinken, weil sie fast ausschließlich hier, auf knapp 700 Metern Seehöhe, noch an der Luft und nicht künstlich ­getrocknet werden“, erklärt Dominguez und betritt eines der Lokale, wo der mythische Schinken auch endlich gekostet wird. „Das Schneiden des Jamón ist mehr als ein Beruf, nämlich eine wahre Kunst“, flüstert Dominguez, während sein Bekannter Alejandro Figueiras noch einmal schnell sein langes Messer schleift und sich am Schinkenspanner betätigt. Figueiras ist ein Cortador, wie man die Experten im Aufschneiden von Schinkenbeinen hierzulande nennt.

Mit ernster Miene und leicht überzogenen Bewegungen beginnt er, an der beinahe drei Jahre lang gereiften Keule zu säbeln und die kleinen Scheiben geometrisch und kreisförmig auf verschiedenen Tellern anzurichten, sodass sie wirken wie geöffnete Rosen. Die unterschiedlichen Schnitte hätten alle ihre eigenen Namen, sagt der Cortador. Da wäre zuerst die Maza, sie besteht aus breiten Streifen, die sich nahezu zur Hälfte aus Fett und Fleisch zusammensetzen. Dann kommt die Contramaza oder Babilla, bei der es sich um entscheidend magerere Teile von der Seite des Schinkens handelt. Beide schmecken hervorragend, intensiv nach Nüssen und Wald und Pilzen. Ein wahres Erlebnis in Geschmack wie Konsistenz, bei dem das zarte, ­elfenbeinfarbene Fett bei richtiger Serviertemperatur zuerst zwischen den Fingern und dann am Gaumen schmilzt.

Doch das beste Stück ist eindeutig die Punta, sie liegt ganz am Ende des Schinkens unter dem Hüftknochen. Sichtbares Fett enthält sie kaum, sie hat dafür eine schöne dunkelrote Farbe. Und einen umwerfenden Schmelz. „Da wir die Schinkenbeine am Huf, also am anderen Ende aufhängen“, erklärt der Cortador, „fließt ganz unten in der Punta alles zusammen – Fett, Geschmack, Aromen.“ Und so entsteht eine imposante Delikatesse von schmeichelnder, buttriger Konsistenz mit angenehm salzigem Mundgefühl und süßlichen Noten von Waldbeeren. Genau wie bei gutem Wein hält der Geschmack lange an. Und genau wie bei gutem Wein denkt man unweigerlich an Terroir. In diesem Fall an die Dehesa, den einzigartigen Eichenhain, aus dem die Schweine stammen. Und wo sie ein Leben führen, dass den Jamón Ibérico so außergewöhnlich und unnachahmlich macht. —­