Die Kugel im Topf
Triest ist sein Wohnzimmer, die Bar "Gran Malabar" sein Sofa. Vor der Kulisse seiner Lieblingsstadt an der nordöstlichen Adria schreibt der Autor Veit Heinichen seine Kriminalromane. Eine Begegnung und ein Gespräch über den Prototypus der europäischen Stadt, mafiöse Machenschaften und eine Küche der neunzig Ethnien.
Die Kugel im Topf
Text von Martin Christiansen Fotos: Stephan Latusek
Die Institution, "Gran Malabar" an der zentralen Piazza San Giovanni betritt man am besten stilvoll auf einen zweiten Espresso nach dem Aufstehen oder auf ein erstes Gläschen "Vitovska", den markanten Weißen vom Karst, um den weiteren Tagesverlauf vergnügt einzuläuten. Auf keinen Fall jedoch als Mann des Volkes und von Welt gleichermaßen ohne einen Stoß der aktuellen Tageszeitungen, insbesondere nicht ohne den Lokalanzeiger "Piccolo", unter dem Arm. So wie unser Gesprächspartner an einem goldenen Oktobervormittag. Veit Heinichen, Jahrgang 1957, gebürtig aus Baden, ehemals eher missvergnügt Betriebswirt beim großen schwäbischen Autobauer mit dem Stern, dann glücklich als kleiner Buchhändler in Stuttgart, später wagemutiger Mitbegründer des Berlin Verlags, hat seine Liebe zu Triest, seiner Küche und den Weinen aus dem kargen Hinterland bereits Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entdeckt und ist seit 2003 mit Ami Scabar, der bekanntesten Köchin der Stadt, liiert.
Salute! Der Wirt der "Malabar", Walter Cusmich, ist sichtlich stolz darauf, Weine ambitionierter Winzer vom steinigen und kalkhaltigen Hochplateau, das Triest fest umschließt, auszuschenken. Wie sich später herausstellen wird, ist das andernorts in der Stadt leider keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht noch einen Schluck vom erdigen, roten "Terrano"? Eigentlich gern – doch lieber ein andermal. Wir müssen los, Ami Scabar wartet sicher schon mit Meeresfrüchten und Fisch, für deren raffinierte Zubereitung sie weit über die Stadt-, wenn nicht gar Landesgrenzen der Region Friaul-Julisch Venetien hinaus berühmt ist.
Doch zuvor präsentiert uns der passionierte Triestiner Heinichen gleich nebenan stolz die altehrwürdige Drogerie "Toso", die dem Zeitgeist und den internationalen innerstädtischen Filialisten trotzt mit ihren hohen schmalen Holzschränken und Regalen, in deren Schubladen sich alle Utensilien finden, die sonst schon längst aus dem Sortiment verschwunden sind, von der handgefertigten Wurzelbürste und scharf riechenden Rasierseife bis zum Safran. Und dann muss natürlich, wenn wir schon entlang der Hafenpromenade unterwegs sind, ein Halt am Molo Audace sein, um von der äußersten Spitze des Kais aus das von der warmen Mittagssonne beschienene Panorama der Stadt mit ihren 200.000 Einwohnern zu bewundern. Bei diesem beeindruckenden Anblick glaubt man unserem kundigen Führer gern, dass Triest den wahren Kreuzungspunkt Europas für seine Völker, Sprachen und Speisen bildet. Dort, wo der Norden der mediterranen Welt begegnet und vor unseren Augen Meer und Berg aufeinander treffen. "Aus einem Fischerkaff zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde mit dem Privileg des Freihandels versehen wie über Nacht der Prototyp der europäischen Stadt, während Venedig im Dämmerschlaf versank!", begeistert er sich. "Über 90 Ethnien haben hier ihre Spuren hinterlassen, und Tellerwäscherkarrieren wie sonst nur in den Vereinigten Staaten wurden Wirklichkeit!"
Da wir schon einmal vor Ort sind, könnten wir eigentlich rasch noch zu Fuß die Piazza Unità queren, um in der Via Cassa di Risparmio einem herausragenden Vertreter der klassischen Triestiner Gastronomie unsere Aufwartung zu machen, dem berühmten "Buffet da Pepi", wo seit 1903 das Metzgerfrühstück mit allerlei Deftigem vom Schwein wie Zunge oder Backerl mit scharfem Kren und Sauerkraut garniert für hungrige Hafen- und Werftarbeitermägen aufgetischt wird. Inzwischen ist die Gästeschar dieses schweinernen Paradieses mit Büroangestellten und Touristen bunt gemischt. Auf engem Raum wuselt zur frühen Mittagszeit die emsige Küchenmannschaft im Dampf der Speisen hinter dem Tresen, während die wenigen kleinen Tische davor ebenso rasch besetzt wie den Nachrückenden freigemacht werden. Nun, auch uns drängt nach einer kräftigen Schlachtplatte die Zeit – obwohl wir es allein der Fairness halber nicht versäumen dürfen, in der Via San Lazzaro noch bei "Giovanni" vorbeizuschauen, der mit Innereien und wechselnden Tagesgerichten ein ähnliches Publikum beglückt. Prunkstück auf dem Tresen ist eine gewaltige Mortadella. Ob wir mal probieren möchten? Aber sicher doch.
Allein, der Fisch ruft! Ami Scabar empfängt uns herzlich auf der Terrasse des Restaurants "Scabar" in der Erta di Sant’Anna am Hang über der Stadt mit dem Blick nach unten auf das blau blitzende Meer und nach oben hinauf zu den felsig ausgefransten Rändern des Karsts. Die ehemalige Trattoria ihrer Eltern ist heute das erste Haus am Platz und wird von ihr, obwohl sie eigentlich nie beruflich am Herd stehen wollte, gemeinsam mit ihrem Bruder Giorgio, dem Sommelier, betrieben. An diesem Samstagmittag sind die rund hundert Plätze nur spärlich besetzt. "Keine Saison! Die Krise!", zuckt sie mit den Schultern. Aber schon abends wird eine große Geburtstagsgesellschaft erwartet. "Geburtstag geht immer!", lacht sie und eilt in die Küche, um sich ihren Vorbereitungen zu widmen.
Zeit für uns, uns dem eigentlichen Zweck unseres Besuchs zuzuwenden: der Kulinarik und der Kriminalistik. Schließlich verkehrt Heinichens kulinarisch versierter Commissario Proteo Laurenti, benannt nach seinem tierischen Namensgeber, einem Grottenolm aus den Karsthöhlen, mit Vorliebe im "Scabar", und sein ebenso fiktionaler Sohn Marco macht hier eine Lehre zum Koch. Was zur Frage führt, warum immer mehr hedonistische Helden mit einer Vorliebe für gute Küche und edle Weine heutzutage die Kriminalliteratur bevölkern. "Essen ist Kultur. Essen gehört zum Leben. Genauso wie Sex. Und deswegen kommt das auch in meinen Romanen vor. Nicht nur das Verbrechen", antwortet Veit Heinichen ebenso routiniert wie er eine Flasche Spumante Brut vom "wilden" Karst-Winzer und guten Freund Edi Kante öffnet. Jetzt kommen die ersten Variationen vom rohen Fisch auf den Tisch. Ami Scabar als Kind ihrer Stadt nutzt spielerisch mit täglich wechselnder Karte, was der Golf an typischem Fang hergibt. Heute sind es marinierte Sardellen, Carpaccio vom Wolfsbarsch mit einer Sauce aus Ingwer und Zitrone, Thunfisch mit einem Chutney aus Auberginen und Scampi in Salzkruste. Dazu selbst gebackenes Brot und frisch nach Gräsern duftendes, grünliches Olivenöl der Gebrüder Starec aus dem nördlichsten Olivenanbaugebiet überhaupt unweit Triest, dessen starke Klimaschwankungen sein besonderes Aroma ausmachen. Danach als Klassiker des Hauses angemachter Stockfisch mit Curry-Kaffee-Creme. Dem Verbrechen widmet sich der Autor mit ähnlicher Hingabe wie den Gaumenfreuden. Weil ihn schon als kleiner Junge Märchen eher langweilten und er lieber in Lexika stöberte, erstrecken sich die Recherchen in Gerichts- und Polizeiakten für seine Bücher über Vetternwirtschaft und Korruption, Mord und Totschlag oft über Jahre und führen weit in die Vergangenheit zurück. Manchmal zu weit und so tief schürfend, dass er Anfang 2008 Opfer einer hochprofessionell inszenierten Kampagne aus Diffamierungen als vermeintlicher Kinderschänder wurde, die ihn über ein Jahr nicht aus ihrem Würgegriff lassen sollte. Eines Komplotts aus rechtem nationalistischen Rand und organisiertem Verbrechen, dessen er sich schließlich nur mit Hilfe der Medien in Italien und ganz Europa erwehren konnte. "Der Schreiber von Kriminalromanen als Opfer. Das beutelt einen nicht schlecht."
Bei einem Schluck vom 2008er Vitovska von Sandi ŜSˇkerk und dem Anblick der gerade aufgetragenen Linsen aus dem Friaul mit Tintenfisch, eines seiner liebsten Gerichte aus Amis Küche, hellt sich seine Miene wieder auf, und er wendet sich einem erfreulicheren Thema zu: "Der Vitovska ist eine autochtone Rebsorte, die nur auf diesen 30 Kilometer Karstböden wächst. Ausgebaut wie ein Rotwein mit nachhaltigen mineralischen und leicht salzigen Tönen. Wenn man einmal diese Weine schätzen gelernt hat, kommt man garantiert immer wieder auf sie zurück." Das lässt sich überprüfen. Vielleicht gleich im Juni dieses Jahres, wenn im Garten des an der Adria gelegenen Schlosses Duino – genau, Rilkes Duineser Elegien! – vor den Toren der Stadt die Winzer vom Karst ihre neuen Weine vorstellen. Wir kommen gern.
Der Tag klingt aus auf der Terrasse mit einem letzten Glas Roten, dem tiefgründig nach Waldbeeren duftenden Terrano von Benjamin Zidarich. Über der Bucht beginnen sich dunkle Wolken zu ballen und von weiter oben am Hang fällt kalter Wind auf die Dächer der Stadt herab. Triest wird eben nicht nur wegen seiner vielen Dichter "Stadt des Papiers" genannt, sondern auch "Stadt der Winde". Die charmante Definition der freundlichen Dame vom städtischen Fremdenverkehrsbüro lautet: "Borino – eine leichte Brise. Bora – keine Möglichkeit, einen Hut auf dem Kopf zu tragen. Bora Nera – starker Wind mit Regen. Eine sehr unglückliche Kombination."
Am nächsten Morgen peitscht die Bora Nera den Regen waagrecht durch die Straßen.