Die ungeschriebenen Gesetze des Essens

Über das Benehmen bei Tisch

Die ungeschriebenen Gesetze des Essens

Text von Martin Hablesreiter & Sonja Stummerer Fotos: Getty Images
Im Laufe unseres Lebens nehmen wir knapp 79.000 Mahlzeiten zu uns und verbringen insgesamt immerhin sechs Jahre nur mit Essen! Sich in geselliger Runde den Bauch vollzuschlagen und dabei ein unterhaltsames Gespräch zu führen, bereitet Lust und berührt alle Sinne. Der Speiseakt ist also nichts als purer Genuss?

Sitz gerade! Nimm die Ellbogen vom Tisch! Nicht schmatzen!
Sobald wir uns zu Tisch begeben, gehorchen wir – bewusst oder unbewusst – unzähligen Regeln und Ritualen. Mehr oder weniger geschickt hantieren wir mit Messer und Gabel und halten uns dabei für zivilisierte Wesen, die nicht wie die Tiere fressen. Kein anderer Lebensbereich ist so von Idealen, Regeln und Konventionen bestimmt wie das Essen. Bei Tisch darf man nicht schlürfen, nicht lümmeln und nicht lesen. Man hat weder das Messer noch den Teller abzuschlecken und schon gar nicht die Finger in die Sauce zu tauchen. Es ist verpönt, direkt aus dem Topf oder der Schüssel zu essen oder gar vom Teller des Sitznachbarn zu naschen. Unzählige Verhaltensvorschriften verformen den sinnlichen Genuss des Essens zum kulturellen Ritus und helfen, uns von anderen sozialen Schichten und fremden Kulturen abzugrenzen.
Von Kindesbeinen an plagen wir uns im Umgang mit unhandlichen Metallwerkzeugen und trainieren mühsam, während des Kauens nicht zu sprechen oder auf dem Sessel nicht herumzuzappeln. Aber, ob wir wollen oder nicht, sobald wir diese kulinarischen Normen einmal inhaliert haben, halten wir uns ein Leben lang daran und weisen uns dadurch als Mitglieder einer bestimmten Gruppe aus. Gerade erst dem kindlichen Kleckern entsprungen, schon echauffieren wir uns über Amerikaner, die ihr Steak vom ersten bis zum letzten Bissen vorschneiden, um danach die Gabel in die rechte Hand zu nehmen und die linke auf dem Oberschenkel zu platzieren. Doch genauso wie wir auf andere Kulturen herabsehen, etwa weil sie mit den Fingern essen, reagieren andere irritiert auf unsere Sitten. Ibrahim Hakim-Ali, Restaurantbesitzer in Wien, zum Beispiel kann nicht verstehen, warum die Europäer beim Essen auf harten Sesseln an ebenso harten Tischen sitzen. "Im Sudan ist es ein Gebot der Höflichkeit, möglichst zwanglos in den Pölstern zu lümmeln. Wir sitzen nicht so steif herum wie Ihr Österreicher." Entspannung wird dort als unbedingte Voraussetzung für den Essgenuss gesehen, der dann besonders groß ist, wenn man rundum bedient wird: "In Äthiopien ist es sogar Brauch, dass wichtige Gäste von der Hausfrau mit der Hand gefüttert werden", erzählt er.
Die Ursprünge
Tischsitten sind eben keine Frage der Logik, sondern historisch gewachsen und von Traditionen und Weltanschauungen geprägt. Schon Jahrhunderte vor Christus existierten in Arabien und China Benimmbücher, die peinliche Situationen bei Tisch vermeiden sollten. Vorläufer der europäischen Tischsitten sind die mittelalterlichen Tischzuchten, die in Flugblättern oder Erziehungs­büchern veröffentlicht wurden. Die Tischzucht des Tannhäusers aus dem 13. Jahrhundert zum Beispiel rät davon ab, sich wie ein Schwein über die Schüssel zu hängen oder so gierig zu essen, dass man sich dabei selbst in die Finger beißt. Auch sollte man sich nicht ins Tischtuch oder in die Hand schnäuzen, ungewaschen zu Tisch gehen und es vermeiden, mit vollem, fettigem Mund zu trinken. Ratschläge, die noch zusätzlich an Bedeutung gewinnen, wenn man bedenkt, dass im Mittelalter mit den Fingern aus einer gemeinsamen Schüssel gegessen und aus einem gemeinsamen Becher getrunken wurde.
Erst ab der Renaissance wurde es Sitte, für jeden Esser einen eigenen Teller oder ein eigenes Brettchen bereitzu­stellen. Das individuelle Gedeck verbesserte nicht nur die Hygiene, sondern führte auch zu einer körperlichen Abgrenzung vom Tischnachbarn. Denn durch den eigenen Teller erhielt jeder Esser einen gewissen Abschnitt des Tisches zugewiesen, den zu überschreiten bis heute als äußerst unhöflich empfunden wird! Es gilt, die anderen Mitesser nicht zu berühren, sondern die Ellbogen möglichst eng an den Rumpf zu drücken und niemanden mit der eigenen Körperlichkeit – sei es optisch oder geruchsmäßig – zu belästigen. Mit dem Arm quer über den Tisch zu langen, um an irgendwelche Schüsseln oder Getränke zu kommen, oder im Gespräch mit ausladenden Gesten vor der Nase des Nachbarn herumzufuchteln, ist bis heute ein absolutes Tabu geblieben.
Ich benehme mich – also grenze ich mich ab!
Der Verhaltenskodex bei Tisch lässt auf Kultur und Denkweise einer Gruppe schließen. Und: Je fortgeschrittener eine Zivilisation ist, desto weniger haben Essrituale tatsächlich noch mit Sättigung zu tun. In vornehmen Kreisen etwa ist es bis heute verpönt, einander vor dem Essen "Guten Appetit" zu wünschen, wie Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in ihrem Benimmratgeber aus dem Jahr 2000 schreibt, weil man ja nicht esse, um satt zu werden. Schon immer versuchten elitäre Kreise, sich mit Hilfe von Verhaltensregeln beim Essen vom "niederen Stand" abzugrenzen.
Nicht alle kulinarische Vorschriften und Regeln sind jedoch als Abbild bestimmter Geisteshaltungen zu ver­stehen. Viele Sitten und Gebräuche verdanken wir auch einfach dem Zufall oder einer Not, die man ungeniert in eine Tugend verwandelte. So entstanden einige Vorschriften des spanischen Hofzeremoniells aus Personalmangel: Weil so mancher adelige Haushalt bei großen, privaten Festivitäten nicht über genügend Kellner verfügte, wurden auch Förster, Stallmeister oder Gärtner für den Service herangezogen. Um den Schwindel zu kaschieren, versteckte man ihre groben, abgearbeiteten Hände unter weißen Handschuhen. Ein Brauch, der sich bis heute gehalten hat. Außerdem konnte man von einem Stallburschen natürlich nicht verlangen, fünf Teller gleichzeitig zu tragen. Deshalb trägt der Kellner nach spanischem Zeremoniell immer nur einen frischen Teller zum Tisch und serviert einen schmutzigen ab.
Dabei bewiesen sich die Gastgeber auch gleich ihre Hausmacht, denn sobald sie das Besteck weglegten, durfte auch niemand anderer mehr essen. Die Gäste an den Tischenden verließen die Tafel deshalb oft hungrig, denn bis ihre Teller serviert wurden, hob der Fürst oder König die Tafel schon wieder auf. Dieser nette Brauch soll von manchem Wiener Generaldirektor noch bis spät ins 20. Jahrhundert praktiziert worden sein, um bei Festessen die Betriebsräte ihres gesellschaftlichen Platzes zu verweisen. Freuen konnte sich jedenfalls das Personal, welches sich in der Küche über die Reste hermachen durfte.
Essen ist eben nicht nur eine Frage des Genusses, sondern auch ein Instrument sozialer Organisation und Ordnung. Tischsitten dienen nicht zuletzt dazu, gesellschaftliche Gruppierungen gegeneinander abzugrenzen und klassenspezifische Positionen zu markieren. Anstandsregeln und gutes Benehmen sind Grundpfeiler der Gesellschaft, an deren Fundamenten jeder kratzt, der sich ihnen nicht unterwirft. (Unter anderem deswegen wird Fast Food von bürgerlichen Kreisen so vehement abgelehnt.) Und auch wenn etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts alle sozialen Schichten mehr oder weniger gleich mit Messer und Gabel von Porzellantellern essen, dienen die feinen Unterschiede beim Speiseakt dem Machterhalt der Eliten. Und ganz nebenbei zementiert das gute Benehmen die klassische Rollenverteilung zwischen Mann, Frau und Kindern.
Schon im zarten Kindesalter werden wir beispielsweise gezwungen, bei Tisch sitzen zu bleiben, obwohl wir schon satt sind, und den Vater als Zeremonienmeister zu akzeptieren: Ihm wird zuerst das Größte und Beste serviert, er dominiert das Tischgespräch und bestimmt, wie sich die anderen Familienmitglieder zu verhalten haben. Selbst in Zeiten beginnender Emanzipation stellt niemand mehrgängige Menüs in Frage, weil wenig bekannt ist, dass sie unter anderem deswegen entstanden sind, um die Hausfrau in die Küche zu verbannen und vom Tischgespräch aus­zuschließen. Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann meint, dass heute gerade deshalb so viele Frauen zu Fertiggerichten greifen, um genau dieser Rollenzuteilung zu entkommen.
Frage der Moral
Nicht nur was wir essen, sondern vor allem auch wie wir es tun, sagt eine Menge über unsere Persönlichkeit aus. Das Benehmen in all seinen Facetten zeigt, wer wir sind – oder sein wollen. Essen ist eben nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern vor allem auch eine der Moral. Vor dem Hintergrund von Gesundheit, Sauberkeit und Körperbeherrschung zielen die Tischmanieren nach wie vor darauf ab, die Sinne zu zügeln und das hemmungslose in sich Hineinfressen hintanzuhalten. Auch heute noch sollen instinktive Triebe wie Hunger und Gier unterdrückt und die fleischlichen Bedürfnisse weitest möglich unter Kontrolle gebracht werden. Der Genuss selbst ist nur innerhalb enger, strikt vorgegebener Grenzen erwünscht und sollte eher in einer geistigen Wertschätzung der unterschiedlichsten Geschmacksnuancen liegen und schon gar nicht in einer offen eingestandenen, körperlichen Lustbefriedigung.
Um sicher zu stellen, dass wir auch ja nicht vom einen Extrem ins andere abrutschen, erlegt uns die Schule des "Guten Benimms" eben beispielsweise jene bewusst unbequeme, unnatürliche Körperhaltung auf oder verlangt uns Triebaufschub ab, wenn das duftende Essen bereits vor uns steht, wir mit dem Reinschaufeln aber warten müssen, bis alle etwas auf dem Teller haben. Dennoch haben wir durch Erziehung und Erfahrung gelernt, die Einschränkungen, welche uns die Tischsitten auferlegen, im Laufe unseres Lebens zu akzeptieren, ja sogar zu lieben und zu genießen.
Eltern wissen jedoch ein Lied davon zu singen, wie aufwendig und schwierig dieser Prozess manchmal ist!