Flaxn im Gulasch

Scheint vor hundert Jahren gewesen zu sein: Menschen treffen, im Kaffeehaus sitzen, Billard spielen, schön essen gehen. Okay, mit MNS und Abstand halten, doch immerhin: reden, fragen, zuhören, die Aura eines anderen spüren.

Text von Ro Raftl Fotos von Stefan Fürtbauer

Keiner besingt derzeit die rauen Sitten der Straße, die Halbseidenen und die Toten so schön und klug wie der österreichische Liedermacher …“ stand Anfang 2017 in der Süddeutschen Zeitung. Sein Debütalbum Ansa Woar lag auf Platz 1 der Ösi-Verkaufs­charts, Heite grob ma Tote aus als Endlosschleife im Ohr. Ein Hit, selbst für Omis zum Singen. „Durchbruch“ heißt das in der Branche. Mit schwarz-skurril-poetischen Legenden aus einer verblichenen Unterwelt, in saftig ­verbleichendem Wiener Dialekt. Als „Bänkelsänger“ sieht er sich selbst. Im Mai bekam David Öllerer aka Voodoo Jürgens den Amadeus Award in der Kategorie „Alternative“. Live damals leicht zu erleben.

Ständig auf Tour mit seiner Band, der Ansa Panier: auf Wiener Plätzen, wo man ihn tadellos versteht – Festwocheneröffnung, Popfest, Stadthallen-Gala; quer durch Österreich und Oberbayern bis nach Berlin (oft und ausverkauft), Hamburg, Chemnitz, Winterthur und sogar London, wo die meisten vermutlich nur Bahnhof ­kapieren. Wurscht. An David/Voodoo interessiert viel mehr: die sanft bis schneidenden Klangfarben seiner Stimme, der eindringliche Sprechgesang, das comicartige Geschlenker, das abgesandelt Engelhafte, die blonden Lockerln (Wienerisch: Schneckaln) mit der Matte im Nacken.

Ein junger Mann aus Tulln auf der Suche nach der verlorenen Zeit. ­Möglicherweise. Der verwundeten Jetztzeit um einiges voraus. Glanz ohne Kratzer? „Happy-Pepi? War nie meins. Dramen!“

Kino im Kopf. Songs mit filmreifen Szenen (siehe YouTube), die Videos aus dem Lotterlabel seiner Management-Agentur Redelsteiner. „Die Sprache ist die wichtigste Zutat in diesem Elixier, zählt der Musik­express auf: „Eisensau“ = der Geldautomat, der die Karte schluckt, „A Sackl Chips, 2 Liter Eistee“ steht für prekäre Kindheit ohne Jausenbrot. „Angst haums“ erklärt in zwei Worten, warum so viele Menschen Rechtspopulisten wählen. Für seinen zweiten Wurf, S’ klane Glücksspiel, als Album des Jahres nominiert, kam der zweite Amadeus ins Haus.

Also. Kaffeehaus und schön essen gehen. Na, nicht ins Café Weidinger am Lerchenfelder Gürtel, zu oft als VJs Stammlokal detailliert beschrieben. Und das Café Fesch existiert ja nimmer mehr. Wir nehmen Jugendstil mit Piano und Billard im altneuen Café Ritter in Ottakring. Das Mayonnaise-Ei schmeckt ihm und Manager ­Redelsteiner, das Bier auch, und tschicken muss man sowieso draußen. Wann David begonnen hat? Mit zwölf. Aha. Na ja.

36 ist er jetzt. Dünn, durchscheinend fast in manchen Videos, und immer bissl zappelig. Coronas Lockdown hat ihn ein Äutzerl aufgepolstert.

Weniger Stress und regelmäßig kochen. Das kann er mit links, seit er als Bub mit Omas Gulasch experimentiert und sich als Meister im Palatschinkenschupfen profiliert hat. Über die Folgen später.

Erst drei Emojis! Das coole Achtzigerjahre-Outfit im Strizzi-Look sitzt nahezu slim fit. Noch genialer das Darüber: Die rotbraune Nerzmütze (Ohrenklappen ausklappbar) und der pelzgefütterte Ledermantel könnten aus Opas Kleiderkasten gefladert sein. Borat, pass auf!

Dazu schaut der Spitzbub so gfeanzt unschuldig unter seinen langen Federn, wie es das Magazin Esquire bei Justin Bieber als „engelsgleich“ bejubelt. Seine Peckerln (übersetzt: Tattoos) zeigt Voodoo erst später: „Meist ereignisbezogen stechen lassen. Den Anker in Barcelona.“ Jetzt. Lässt er sich brav in Dutzenden Posen fotografieren, blüht beim Billardspielen und Weinverkosten auf, lächelt lieb bis zum Schluss. Trotzdem. Immer bei sich. Keiner, der sich Zeitungsschreibern krakengleich um den Hals wickelt, g’schmalzen private Details enthüllt. Nicht so gern überall erkannt werden will – was schwer ist, seit er in einem Tatort aufgetreten ist und im Stefanie-Sargnagel-Stück Ja eh! im Wiener Rabenhof. Doch: „Das finde ich angenehm.“ Selbst wenn etliche Mädeln im Café ­Ritter bei seinem Anblick selig erstrahlen – den Kraken lässt Voodoo am Grill und in der Suppe.

Dieser dampfenden korianderduftenden Nudelsuppe Ramen, die Nudeln und Suppe in ein Wort packt und zwischen Tokio, Bangkok und Seoul als Hausmannskost in zahllosen Geschmacks­varianten serviert wird. Abgesehen von Misopaste und Seetang. Die sind immer dabei. Hm. Wobei sich ein ausgewachsener Oktopus in der Suppe fast besser zu den dicken schlutzigen Udon-Nudeln fügt. Voodoo macht grad den Kurs. Seine Freundin, über die wir nicht reden, ist Expertin. Und. Jedes Weekend im Lockdown hat einer den anderen „mit einem nicht so alltäglichen Gericht überrascht. Einem ganzen Oktopus. Oder Froschschenkeln. Oder Rindsrouladen à la française. An die hab ich mich gewagt, und sie sind gelungen, in Butter und Öl herausgeprasselt.“ Na, in Kochbüchern schmökert er nicht. Internet­generation. „Doch wenn ich die Idee von einem Gericht hab, schau ich schon nach, wie es funktioniert.“

Lacht. Denkt an sein erstes Gulasch – aus dem Kopf, ohne Rezept –, aus dem „eher ein dünnes Süppchen geworden ist. Hab geglaubt, zu wissen, was alles reingehört, aber leider …“ Er war zehn. Oder elf. Oder zwölf. Hat früh begonnen, selbst zu kochen. Die Eltern waren getrennt, die Mutter hat gearbeitet und keinerlei Hang zum Herd gespürt. „Da hab ich über die Packerlpartie hinaus gewisse Gerichte in Bezug zur Oma herzustellen versucht. Ihre Küche hab ich geliebt. Einfaches Essen, klassisch der ,Kelch‘ (Hochdeutsch: Kohlsuppe). Auch bewundert, was sie aus ganz wenig zaubern kann.“ In Tulln.

„Zwischen Zuckerbude und Kadaverfabrik / Wos siaßld oda noch hinige Viecha riacht“ wird der „fast ge­scheiterte Hallodri“ (O-Ton Manager Redelsteiner) in einer dunkelbunten Ballade über seine Kindheit singen. Auch das: „Im Summa woa ma Strohfian und im Herbst woa ma lesn.“ Kommt ja aus einer Weinbauernfamilie, mütterlicherseits, mit allen gebotenen Arbeiten und Ritualen: Strohführen und Trauben lesen im Spätsommer, deftige Speisen während der Pausen im Bus, Grammeln, Speck, dunkles Brot, ein Glas Wein zwischendurch und eine Zigarette. War die Ernte eingebracht, gab’s den Lesehahn. „Ob Hahn oder Hendl, jedenfalls mit Semmelfülle im Bauch und süffigem Saft. Die Tullner Oma gab den Background. Fürs Essen, Kochen – und als Fundus von Dialekt­raritäten. An sämtlichen Sonn-Fest-Geburtstagen hat sie „ordentlich“ auf­gekocht. „Erst in Wien hab ich mitgekriegt, dass meine Generation sehr heikel ist mit allem Fettigen. Fleisch soll immer mager sein. Das kann ich von mir nicht behaupten.

Die Flaxn im Gulasch g’hört dazu. Da is das Fett drinnen, das den Geschmack ausmacht.“ Im voodoo-typisch zwiespältigen Liebeslied Heast do hob i scho gnua hat er sie verdichtet: „Du bist die Flaxn im Gulasch / I heb’s ma bis zum Schluss auf …“

Trotzdem. „Sehr früh sehr gern mochte ich Fisch. Zum Geburtstag hab ich mir von der Mutter ‚die Forelle‘ gewünscht. Etwas Besonderes. Mit Petersilie und Knoblauch im Bauch. Zur Feier des Tages hat sie sich ,derbarmt‘. Aber. Man merkt am Würzen, ob jemand etwas wirklich leidenschaftlich tut.

„Kochen ist für mich: probieren. Wie sich Zutaten zueinander verhalten, wie und was man noch verfeinern kann. Welches Gericht mir als erstes tadellos gelungen ist, weiß ich nimmer. Palatschinken jedenfalls immer.“

Zehn war er, als ihm jemand den Teig gezeigt hat. „Is ja nicht schwer. Also bin ich Samstag, Sonntag früh – denn früher bin ich gern früh aufgestanden – zum Palatschinkenschupfen in die Küche. Zuerst süß gefüllt, später pikant: mit Faschiertem, einem Gurkerl, mit Käse überbacken.“ Was die Mutter zur irrigen Meinung verführte, dem Sohn sei eine Karriere beim Hofzuckerbäcker vorbestimmt. Im (über-)nächsten Bild fand er sich als Demel-Lehrling wieder. „Na ja, a Lehr’ war von vornherein klar. In der Schule hab ich keine großartigen Leistungen vollbracht. Erst hab ich mich bei an Tischler beworben, mit an Dreier in Werken. Die ham g’fragt, ob i deppert bin.“

Also Demel. Ab 1999. Damals im Besitz von Raiffeisen, renoviert und umgebaut, Produktion großteils ausgelagert („es roch nicht mehr nach Backstube“, monierte Attila Dogudan, der den Traditionsbetrieb bald darauf übernahm).

David Öllerer „produzierte“ in Kagran: „Zehn Lehrlinge durchliefen in drei Jahren diverse Posten, von der Chocolaterie über Blätterteig-, Tee- und Jourgebäck-Erzeugung bis zum Strudelposten. „Den ganzen Tag nur Topfenstrudel, Apfelstrudel, Milchrahmstrudel …“

Ein Gewinn fürs Leben? Voodoo grinst. „Ich hab’s gelernt. Doch zu Haus ist das schwer umzusetzen. In der Großküche arbeitest mit Riesenmengen und Profimaschinen. Wenn ich das in meinem alten Gasofen probier, geht es garantiert schief. Aber ja, kann schon noch Torten machen, zu Geburtstagen wird es erwartet – is aber net so, dass ich mich in die erste Reihe stell –, und dann kommt’s darauf an, was gefragt ist. Einmal hab ich ein riesengroßes Erdbeerschüsserl für eine Freundin gemacht. Mürbteig, ein Kilo Vanillecreme, ganz viele Erdbeeren. Ja, mit dem gerillten Rand. Gibt so riesige Formen. War eh die größte Challenge, so was aufzutreiben.“

Zurück. Lehrling David hat „ziemlich früh gemerkt, dass mir der Beruf net taugt. Hab mich geändert, auch meine Freunde, begonnen, mich für Kunst zu interessieren, Hochdeutsch zu sprechen. Den Dialekt abgewöhnt. Ganz gut, wenn man zweisprachig ist.“ (Smiley) Aber dann die Mutter: Jetzt spinn net rum, geh einmal ein Jahr hin. Und nach zwei Jahren: Nur noch ein Jahr. Mach das fertig!“

Doch. „Gegen Schluss, als der Entschluss feststand, dass ich da nicht alt werd’, bin ich immer weniger hingegangen. Es ist irgendwie ins Aggressive umgeschlagen. Wenn du frustriert bist, wirst aggressiv, und da hab i g’merkt, ich muss aufhören.“

Und dann? Weite wegwerfende Handbewegung, samtweiches Lachen. Der Hallodri kann’s. „Dann is a lange Zeit von Chaos kommen.“ Maturaschule. Abgebrochen. Zivildienst. Aber. „Musiziert, mit der Gitarre begonnen. Hab ich mir selber beigebracht. Wär wahrscheinlich schneller g’angen, hätt i an Kurs g’macht, nur war i immer schon sehr eigen in Sachen Lernen. Kann sehr schwer etwas annehmen von jemand anderem, muss immer selbst probieren.“

Also. Noch weiter zurück. Wieder nach Tulln. David ist Legastheniker. Mit einer Montessorischule spielte es nur damals nix. Andererseits: „Hat mir Aufsatzschreiben immer getaugt, auch wenn die Hefteln rot eingefärbt waren wegen der Rechtschreib­fehler. Hab auch kleine Lieder geschrieben mit Freunden. Dass man sie instrumentiert, kannte ich nicht.“ (In der Zehnerpause rennt er in die Knochenbar, um für die ganze Klasse Proviant einzukaufen: „Weil i der Anzige war, der sie nix vorm Hausmasta g’schissen hat“, erklärt er später irgendwo.) Als er sieben ist, muss der Vater, ein Mechaniker, in den Häfen: „In der Zeitung is gstonden, woa groß ­inseriert / Für die ondan Kinder war’s a gfundenes Fressen …“ hört man in seinem Lied über Tulln. Der Kontakt reißt für lange ab. „Aber ich war nie verbittert ihm gegenüber.“

Sagt der Sohn und schwimmt gegen den Strom. Macht Musik, versucht sich an Hip-Hop-Texten: „Reimen ist mir immer leicht gefallen. Mit dem Gitarrespielen ist das Singen dazugekommen.“ Erklärt: „Ich hab nicht Gitarre spielen gelernt, um Gitarre zu spielen, sondern um mein Singen zu begleiten.“ Bob Dylan und Tom Waits im Ohr. Das ist endlich „seins“. Da arbeitet er auch nebenher als Friedhofsgärtner, in einer Druckerei, stellt sich um die „Arbeitslose“ an.

Mit 25 wird er Vater einer Tochter. Adele Salome. „Wär’s ein Bub geworden, hätten wir ihn Salomon genannt. Mit der Ex, sie ist Künstlerin, wir teilen uns alles auf.“

Stimmt. Voodoo ist auch beim „schönen Essen“ online tochterverbunden. Bei den Pichlmaiers zum Herkner, Martin und Christiane, einem Steirer und einer Tirolerin, alten Bekannten aus dem Fabio’s, wo sie sich in zwölf Jahren vom Liebes- zum Ehepaar „getendert“ haben, das „niee selbstständig werden wollte. Hm, aber wenn doch, dann. Nur mit einem traditionellen Wirtshaus. Hm.“ Der Herkner in Dornbach bot sich an, vom Hausbesitzer so behutsam wie aufwendig restauriert und umgebaut – diese Pawlatschen, diese Atmosphäre, ja und natürlich diese Küche! Also. Auf in die Vorstadt! Vor fünf Jahren haben sich Pichlmaiers den stammgastlichen Herausforderungen gestellt. Herkner war eine Legende. Gut gegangen. Noch besser, seit der junge Roman Artner kocht, ein Wiener mit breitem Spektrum, geschult in der Spitzengastronomie. Na, weder verwandt noch verschwägert mit den großen Artners, hat allerdings eine Zeit lang dort gearbeitet. Ein Anhänger traditioneller Gerichte mit saisonalen Zutaten, der gern mit modernen Einflüssen experimentiert.

Wir kosten die Speisekarte durch. Von mariniertem Brokkoli, hausgemachten Krautfleckerln, der Karfiol-Variation bis zu den Klassikern Kalbshirn, Kalbskopf und Gebackenes Bries, Rieslingbeuschel und Tafelspitz mit den Unumgänglichen: Markscheibe, Apfelkren, Schnittlauchsauce. Dazu Salomons Hochterrassen-Grüner-Veltliner. Mmmmmh! Voodoo hält sich ans Fleischliche. Kommentiert die Bemerkung, wie doch jeder Koch dieselbe Speise anders interpretiert, bodennah: „A ganz normale Past’ Asciutta schmeckt bei JE-DEM anders.“

Er hat sie oft gekocht, wenn er grad wenig Kohle hatte. Und. „Von Faschiertem Braten, Gulasch, Champignonschnitzeln in großen Portionen kann man ein paar Tage zehren.“

Als seine Band, Die Eternias, zerbricht, mit der sich ihr Leader zehn Jahre lang auf Schulenglisch in Brit-Pop geübt hat, und das Krachmandelorchester nur mäßig reüssiert, steht er ohne Wohnung da. Der „verlorene“ Vater bietet ihm an, bei ihm einzuziehen. „Ja, und es war gut, um Dinge aufzuarbeiten, die früher im Oasch waren.“ Zeit. Um sich selber zu finden, sich zuzutrauen, ureigene Wienerlieder zu singen, Voodoo Jürgens zu werden. „Weil’s schad gewesen wär, das Projekt zu gefährden“, hat er auch mit allem, was verboten gut ist, aufgeräumt. „Vüle san ogstiazt, owa uns hod’s net troffn.“

Der Vater hat nicht nur „an guatn Spruch, auch a Pfandl nimmt er gerne in die Hand. Am Lachen sieht man, dass ihr verwandt seid, sagt meine Mutter“, sagt David. Am Cover der Anser Woar-CD kann man’s vergleichen: Da steht der Voda in einer Ansa-Panier.

Das Gschichtl, Davids Eltern hätten sich auf einem Voodoo-Markt in Togo kennengelernt, worauf er in derselben Nacht gezeugt wurde, lassen wir als Legende stehen. Die simple Wahrheit: „Spieltrieb! Bei den Eternias haben wir Prominentennamen verdreht. Voodoo Jürgens hat mir taugt.“

Es fröstelt in Pichlmaiers Innenhof. Noch ein Tschick, noch ein Schluck „Salomon“. Tochter Salome hat angerufen. Vaterdienst. Sie wünscht sich Spaghetti zum Abendessen.