Genuß ist ein Sakrament

Nitsch rührt um. In Farbsuppen und in Blutsuppen. Kochen kann er nicht. Dafür Sinneslust predigen, zelebrieren, genießen. Er schätzt das bodenständig Einfache. Es sollte nur genial gekocht und gekeltert sein.

Genuß ist ein Sakrament

Text von Ro Raftl Fotos: Peter M. Mayr
Fleischgeschmack. "Wir sind alle Raubtiere. Ich habe Eckzähne wie mein Hund auch", verkündete "der Nitsch" vergangenen April in seiner Wiener Foundation, als er zu einer Vernissage über die Bedeutung des Schmeckens in seinem Gesamtkunstwerk bat: "Geschmack ist eine verfeinerte Form des Tastens, ein tiefes Eindringen ins Sein, hat viel zu tun mit Eros und Sexualität." Zum Nachspüren der sinnlichen Empfindungen bitter, scharf, salzig, sauer, süß ließ er Kostproben reichen – von Würsten, Grammeln, Leberkäs, Geselchtem über Eprouvetten mit Essig, Solospargel, Gulaschsuppe bis zu Kuchen und Punschkrapfen. Umspült von Nitsch-Wein. Einfach, doch von erster Qualität – Speisen quasi als "Selbstporträt" eines dem Fleischlichen Geneigten. Als Konsument. Denn der ­Hohepriester seiner Kunst gesteht ohne erkennbare Scham: "Bin zu blöd zum Würstelsieden und ­Eierkochen. Irgendwas stimmt nicht. Sie springen mir auf und es kommt ein Schaum heraus."
Farbsuppenrühren. In Hermann Nitschs Aktionismusküche in Schloss Prinzendorf: Rot in sämtlichen Schattierungen, von blassem Himbeer über grelles Karmesin bis zu sattem Bordeaux und lilatönigem Brombeer. Kaltes Schwarz, leuchtendes Gelb, Blutbraun. Der Schüttmeister sitzt wie Buddha scheinbar bewegungslos auf einem Stuhl und beschaut das Werk, der Assistent aus Irland rührt in Acryl- und Ölkanistern, streut Farbpigmente und Bindemittel in Gefäße, gießt mit Wasser auf, verquirlt mit einem überdimensionierten Mixer. Tierblutsuppenrühren ist in der Spätsommerhitze tabu.
An den Wänden lehnen fertige und halbfertige Bilder, manche mit rot getränkten Hemden in Kreuzform aus Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, kurz OMT genannt. Der Boden der gesamten Front im zweiten Stock des Weinviertler Barockschlosses – "mein Bayreuth" – ist mit Papier ausgelegt. Es klebt von Farben, buntstreifig, da und dort stehen blutrote Fußabdrücke, zerronnene Lacken. Besser, in Mal-Patschen zu schlüpfen und die Hosen hochzukrempeln.
Nitsch erhebt sich, hellwach, und beginnt ein berserkerhaftes Schütten, Spritzen, Rinnen, Strukturenschmieren. Er hat hauchdünne weiße OP-Handschuhe übergestreift, die Assistenten reichen ihm Utensilien: Benützt er nicht einzelne Finger oder die ganze Hand, braucht er Bürsten, Schwämme, Pinsel. Zwischendurch schweift er ab, zum "Grieskoch aus der armen Zeit", das ihm seine Mutter gekocht hat. "Hermann leck die Teller aus" habe sie manchmal während des Krieges nach dem Essen gesagt. Aufgewachsen ist er in Floridsdorf, weiß daher genau: "Wenn Sie in Wien in ein Zinshaus gehen, können S‘ am Gang die Schnitzel prasseln hören. Auch übers Hören kann man viel übers Essen erfahren." Seine Großmutter hielt Hühner im Hietzinger Garten, "aufs Land" kam er zum Hamstern, nach Prinzendorf, weil sein Onkel dort einen Weingarten besaß.
Nitsch konzentriert sich wieder auf die Leinwand, bemerkt, dass "diese Art zu malen, ein elementar sinnlicher Vorgang ist, sehr verwandt dem Zubereiten von Speisen, Hendln und Hasen auszunehmen oder Püree feinzurühren." Dass er alte Wirtinnen gekannt und bewundert hat, die bis 80 gekocht und jede Funktion voll beherrscht haben: "Eine Form von Küchenweisheit. Sind ja schon als 14-jährige Mädeln in der Zucht gestanden."
Reiner Wein. Im ersten Stock brüht Ehefrau Rita Kaffee und schiebt ayurvedisches Kokos Laddu und Kichererbsenkonfekt über den mächtigen Küchentisch. Das sind ihre Passionen, doch der Nitsch steckt die indischen Bonbons auch in den Mund, wenn sie daliegen. Sie sagt "Nitsch" zu ihm und würde ihn gerne frugaler ernähren. Funktioniert aber nicht mit einem, der so ­geläufig über Dionysos spricht wie andere Männer über Autos. Über den griechischen Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit und der Ekstase, den der Philosoph Friedrich Nietzsche so verehrte. Nitsch meint, er habe viel von Nietzsche gelernt "über die totale Lebensekstase, die gleichzeitig Zerstörung und Aufbau ist. Der Tod ist auch das Leben." Jetzt müsste man auf den weit gefassten Religionsbegriff des mittlerweile gemütlich gewordenen Anarchisten eingehen, aber wir wollen von leiblichen Genüssen reden. "Doch", sagt er, "Vegetarier respektiere er sehr."
Rita Nitsch, indischen Kuren, Kosmetik und Mode nicht ab­geneigt, teilt 22 Jahre Leben mit einem Mann, dem die Mutter immer sagte: "Nimm dir ka Ang’malte, die können nicht kochen." Rita ist, salopp ausgedrückt, das "vierte Modell" an der Seite des Künstlers, hat die barocke Ruine von Schloss Prinzendorf zu gepflegter Prachtfülle gebracht. Tierisch belebt von drei ­Hunden, drei Katzen, einer Ziege, einem Maultier, 20 Pfauen, Gänsen, Hendln, Falken, Fledermäusen. Im Schlosshof fliegen die Schwalben hoch und tief, während Rita einen Apparat schupft, der Orgien, Mysterien, Sinfonien, Bücher, Artikel, zwei Nitsch-Museen, eines in Mistelbach und eines in Neapel, sowie unzählige Ausstellungsreisen beinhaltet – diesen Herbst zwischen Asolo, Neapel, St. Etienne und St. Petersburg.
Das alles und mehr über schöpferische Tabubrüche, frühe Skandale (die Nitsch nicht machen wollte), Polizeigewahrsam, Besäufnisse, das Reinwühlen in Tiergedärme und die gemischten Gefühle bei Aktionen kann man in Freya Martins g’scheit unterhaltsamen Geburtstagsbuch Der Nitsch und seine Freunde nachlesen. Da hält ihn der Sammler und weltberühmte Kunstarchivar Francesco Conz "für einen geborenen Junggesellen, für den die Kreativität seiner Arbeit und das Überleben seiner Arbeit zählen: Dennoch sind die Frauen ein wichtiger Teil seines Lebens und ich glaube, er kann sich sein Leben ohne sie nicht vorstellen." Aktionistenkollege Günter Brus vermutet, dass Nitschs Mutter Helene zuoberst in der Hierarchie stand. Nicht nur ihm und ­seiner Frau Annie sind ihre "herrlichen Grammelknödel, die ­wunderbaren Fleischlaberln, Palatschinken, Gulaschsuppen …" unvergesslich.
Die mag der Sohn bis heute, wie Suppen jeglicher Art, Schinken- und Krautfleckerln, Kaiserschmarren und in Italien natürlich Pasta. Immer das Unverfälschte. Auch beim Wein.
Ursprünglich hat ihm der Onkel naturreinen Wein abgefüllt, später hat Nitsch den Weingarten des Onkels in Bullendorf ­ersteigert. Rita und der tschechische Hausmeister, der ursprünglich Weinbauer war, begannen, den Boden zu jäten, mit dem Mist der eigenen Schafe und Ziegen zu düngen, ohne gegen Unkraut zu spritzen. Kelterten selbst, ohne zu filtern, zogen dreimal ab, schwefelten nur die Fässer über die Sommermonate. Mühsam, denn natürlich hatten die alten Rebstöcke Krankheiten, natürlich fand sich Eiweiß im Wein, nach der ersten Ernte konnten sie gerade ein 360-Liter-Fass füllen. Es dauerte sechs Jahre, bis der Wein so fein und leicht und süffig war wie jetzt – "weil wir den Weingarten so gut behandelt haben, sauber waren wie in der Apotheke." Irgendwann entschieden sie, mit Biomitteln zu spritzen, keltern jetzt bis zu 2.000 Liter Gemischten Satz – aus Grünem Veltliner, Welschriesling und Grauburgunder.
Lebensmittel. Der Nitsch-Wein steht im Doppler auf dem Heurigentisch im Gewölbegang hinter dem prächtig barock­hölzernen Schlosstor. Das Wort "Feierabend" perlt Nitsch von den Lippen: "Wenn man gearbeitet hat, setzt man sich nieder und genießt das Essen und den Wein." Assistentin Judith verrät lachend, dass er am liebsten von fremden Tellern kostet, der 72-Jährige schaut friedvoll auf den gepflegten grünen Rasen, der so groß ist wie ein Fußballfeld und vom Rund der Wirtschaftsgebäude umschlossen, auf die fünf erzenen Glocken, die er beim Sechstages- und beim Dreitagesspiel lärmend einsetzt, und singt das Lob des positiven Daseinszugangs: "Genuss ist Teil der Freude, Essen sehr wichtig, gleichzusetzen mit Kunstgenuss und Erfahrungen mit der Natur." Erzählt von Reisen und Speisen der jeweiligen Landesküche, "der echten, nicht der aufgemascherlten, der Küche des Kulturbrauchs". Ja, in jungen Jahren hat ihn die Nouvelle Cuisine fasziniert, jetzt ist ihm das Einfache, Bodenständige lieber. "In New York, wenn man um fünf Uhr ­ankommt, geh ich gleich nach Chinatown in den fabelhaften Dim-Sum-Laden." Es freut ihn, dass es in Wien auch ein paar Dim-Sum-Restaurants gibt, wobei er das hinterm Westbahnhof für das beste hält. "In Moskau konnte ich zur Zeit des Kommunismus außer Hotelküche nichts erleben, ich hoffe, dass es jetzt anders ist." In Paris erinnert er sich an das Schweinshaxerl in den Hallen, "eine herrliche Wonne", und an die Austern in "La Coupole". Die mag er "sehr klassisch, mit Zitrone, Weißbrot, gesalzener Butter und trockenem Weißwein". Sagt aber, dass ihm das italienische Essen am liebsten ist. Pasta! Obwohl die Italiener auch so was Ähnliches wie Nouvelle Cuisine hätten, die probiert er im "La Trave", in der Nähe von Asolo, wo er ein Haus besitzt.
Gastfreundschaft. Großzügig, sinnlich-expressiv wie sein Gesamtkunstwerk, dramatisch angelegt wie ein Dreitagesspiel. Genossen bei der Eröffnung des Museo Archivio Laboratorio per le Arti Contemporanee Hermann Nitsch in Neapel, dieser chaotisch-anarchischen Stadt mit heidnischen Wurzeln, wo sich das Blut des Schutzpatrons San Gennaro zweimal jährlich in einer Ampulle verflüssigt. Passt. Zum religiösen Geist der profanen Blutkunst in dem Museum, das Nitsch der jahrzehntelangen Freundschaft mit dem Unternehmer, Galeristen und Verleger Giuseppe Morra dankt. Am Abend vor der Eröffnung lud ein schüchtern-beseligter Künstler zu einem Abendessen unter Sternen auf der Piazza Dante. 150 waren geladen, 350 kamen: Doch Rita Nitsch hatte alles von den Tischen und Bänken bis zum Mozzarella, den Pizzas und der Pasta großartig im Griff. Ein ­Kellner, erinnert sie sich, beschloss, eine Vinothek in Wien zu ­erwerben: "Die Österreicher saufen so viel." Noch weit überfüllter, weit rotweinsüffiger ging’s mit neapolitanischen Feinheiten beim Eröffnungshappening zu. Hoch über dem historischen Zentrum, auf Terrassen in einem Olivenhain, mit Blick weit über die Stadt bis hin zum Vesuv. Steile Wege zu erklimmen galt’s auch am dritten Tag zur Mittagszeit, im Weingarten von Pepe Morra, wo die Lust am Essen und am Alkohol für manche schon von Schmerz begleitet war. Ganz, wie’s nach ekstatischem ­Sinnengenuss sein soll. Bei dem es sich laut Nitsch um ein ­Sakrament handelt, Stoffwechsel inklusive.
"Der Begriff der Orgie ist ja ein Abstraktum. Die exzessive Befriedigung aller Sinne schon im Diesseits, im Gegensatz zur Transzendenz der Christen, die ihre Seligkeit im Jenseits zu erreichen glauben", philosophiert der Aktionist beim Feierabend-Essen im Zistersdorfer Haubenrestaurant "Grüner Baum": "Der Dionysos-Kult ist kein materialistischer."
Orgien feiert man nicht alle Tage. Friedlich geht’s ab bei Angelika und Georg Kruder, in einem von Nitschs Lieblingsgasthäusern in der Mistelbacher Gegend: Es wird behutsam und gut gekocht. Ohne Schmähs", schnurrt der vollbärtige Genießer. Drei Flascherln vom Welschriesling – "Herbert Zellinger aus Ebenthal, ganz a trockener" – sind für sechs Leute gerade recht. Dogmatiker sei er keiner beim Wein", sagt er. "Essen und Wein sollen sich gut ergänzen. Der Weiße putscht mich ein bissel auf und ich schlaf leicht ein." Er mag den sauren Weingeschmack, von den Grünen Veltlinern, den Gemischten Sätzen, den Brünnerstraßlern, die in der Gegend wachsen: "Die Wachauer sind mir alle ein bissel zu duftig, zu parfümiert." Die Steirer schmecken ihm, "wenn sie nicht zu überkandidelt sind. Die berühmten Weinbauern in der Steiermark benehmen sich schon wie Golfspieler." Zu Ritas Bestürzung will der Gesamtkompositeur jetzt noch Süß auf der Zunge spüren. Bestellt Palatschinken.
"Diät halten? Leider nicht. Möchte es aber gerne", bespöttelt sich Nitsch mit Goethe: "Der stand immer auf der Seite der ­Lebensbejahung und der Sinnlichkeit, hat aber immer das Maß gehalten. Ich bin ein großer Sünder. Prost!"