Krabbenritter am Seepferd

An der belgischen Nordseeküste gibt es noch einige wenige Krabbenfischer, die ihre Arbeit mithilfe mächtiger Pferde erledigen. Sinnbild für die intensiven Bemühungen um autochthone Produkte in Flandern.

Text von Christian Grünwald · Fotos von Pieter D’Hoop

Bei heftigem Wind und herumziehenden gewittrigen Frühlingsschauern am Nordseestrand vor Oostduinkerke hat man das Ende der Komfortzone erreicht. Es ist Ebbe, man steht knietief im Wasser, sinkt zentimeterweise in den Schlick und will eigentlich nicht mehr ­weiter nach vor gehen, dort wo Himmel und Sand zu einer grauen Fläche zu verschmelzen scheinen. Ebendort geht langsam und scheinbar unaufhaltsam ein riesiges Pferd, auf ihm ein in gelbes Gummizeug verpackter Reiter. Das Pferd, es wiegt rund eine Tonne, steht bis zur Brust im ­Wasser, pflügt sich regelrecht durch die Fluten.

Es zieht dabei ein acht Meter breites trichterförmiges Schleppnetz hinter sich her, das mittels einer schweren Kette den Boden aufwühlt. Im Netz verfängt sich dann allerlei Meereskleingetier – und vor allem die begehrten grauen Nordseekrabben.

Gefischt wird parallel zum Strand, in Zwei- bis Drei-Stunden-Intervallen und nur bei Ebbe, wenn das Meer den kilometerlangen flachen Strand samt seinen Sandbänken auf Hunderte Meter freigibt. Alle halben Stunden kehren der Krabbenritter und sein Seepferd mit vollem Netz an den Strand zurück. Sortieren und kurzes Rasten für das Pferd sind dann angesagt.

Wenn die Fischer ihre Fangnetze geleert und hängen gebliebene Fische, Quallen und Krebse wieder zurück ins Meer geworfen haben (der auch immer wieder vorkommende Plastikmüll wird extra entsorgt), werden die Krabben grob gereinigt, in Weidenkörbe gepackt und in den Ort gebracht. An guten Tagen fängt ein Fischer vierzig Kilo, manchmal sind es aber auch nur zwanzig oder zwei. Ein Kilo wird für acht bis zehn Euro gehandelt.

Die Krabben sind winzig klein und noch nicht für den Genuss fertig. Davor muss man sie noch schälen, und diese Arbeit ist mindestens so widrig wie das Fischen bei schlechtem Wetter. Wer einmal einen kleinen Kübel voll mit den zwei bis drei Zentimeter großen Tiere geschält hat, hat danach eine Idee davon, warum echte frische Nordseekrabben als Delikatesse gepriesen werden.

Die Krabbenfischerei zu Pferd wird nur noch am Küstenstreifen zwischen Dünkirchen und Ostende praktiziert. Der breite Strand ohne dazwischen liegenden Wellenbrecher ist einfach ideal dafür geeignet. Früher wurde noch mancherorts in Holland, Frankreich und Großbritannien der Boden umgewühlt, ehe man es wegen Unrentabilität bleiben ließ. Und auch in Belgien ist die ganze Sache mehr Passion und Leidenschaft einiger weniger als wirtschaftliches Business. Da kann auch der Hinweis auf die Unesco-Auszeichnung „immaterielles Kulturerbe der Menschheit“ nichts ändern. Offiziell spricht man von 19 Krabbenfischern, tatsächlich steigen aber derzeit nur noch zehn bis zwölf Fischer in den Holzsattel.

Das Wichtigste für die im Flämischen genannten „Paardenfissers“ ist das Vertrauen ihres Pferdes. Am besten dafür geeignet ist die belgische Kaltblutrasse Brabanter. Die Pferde sind nicht nur sehr groß und stark, sondern haben auch das nötige entspannte Gemüt. Schließlich stehen sie auch bei Bedingungen brusthoch im Wasser, bei denen Fischerboote nicht mehr ihre Segel setzen. Auch Brabanter-Pferde lieben das Meer nicht von Natur aus. Bis zu einem Jahr können das Training und die damit verbundene Vertrauensbildung dauern.

Im Wasser bewegt das etwa eine Tonne wiegende Pferd mittels des befestigten Netzes ungefähr das dreifache seines Körpergewichts. Im Oktober sind die Krabben am größten (etwa 5 cm lang) und gehen dann auch besonders reichlich ins Netz. Dass die Krabbenfischer auch im Sommer ausrücken, hat mit der Urlauberfrequenz an der belgischen Nordseeküste zu tun – sie sind längst auch eine Touristenattraktion.

Der aktuelle Klimawandel könnte allerdings auch die Krabbenfischerei verändern. Es gilt ja der Grundsatz „je kälter das Wasser, desto besser die Krabben“. Manchmal ist es schon zu warm. So warm, dass sich vereinzelt schon Krabbenarten im Netz finden, die gewöhnlich nur in Spanien angesiedelt sind. An der Nordseeküste hat man mit den Neuankömmlingen naturgemäß keine Freude.

Ganz klassisch und volkstümlich isst man an der belgischen Küste die gekochten und geschälten Krabben in einer ausgehöhlten rohen Tomate mit Mayonnaise. Noch beliebter sind die frittierten Krabbenkroketten, bei denen Käse als üppiges Bindemittel dient.

Meistens kochen die Fischer die Krabben selbst. Der eine schwört auf mehr, der andere auf weniger Salz. Wichtig ist auch, dass sie nicht zu lange kochen. Das knifflige Puhlen ist so oder so eine mühsame Angelegenheit.

Für Spitzenköche waren die kleinen Krabben lange Zeit keine sonderlich begehrte Zutat. Nur Willem Hiele kaufte für sein nahe der Küste ge­legenes Restaurant im Zuge der Konzentration auf regionale Produkte immer schon die kleinen Tierchen. Er kocht daraus eine an Hummerbisque erinnernde Suppe, die mit jedem Mal einkochen immer intensiver und aromatischer wird. Das Besondere daran: Die Grundsuppe kommt von den Krabbenfischern und ist die Essenz aus mehrmaligen Kochvorgängen. Willem Hiele peppt sie mit etwas Kaffee zusätzlich auf. Serviert in einer Cappuccino-Tasse, kann man davon im Verein mit einigen frischen Krabben, reichlich Krabbe­n­butter und frisch gebackenem malzigen Sauerteigbrot einfach nicht genug bekommen. Die unvergleichliche Süße der Suppe und die bemerkenswert knackige Textur der frischen Krabben sind einzigartig.

Willem Hiele hat das Haus seiner Eltern, ein typisches niedriges altes Fischerhaus aus dem Jahr 1832, mit viel Detailliebe in ein Restaurant umfunktioniert. Ein offener Kamin und schwere Holzbalken vermitteln ursprünglich-romantische Behaglichkeit. Den Gästen mangelt es nicht an Komfort, nur in der Küche des alten Hauses herrscht extremer Platzmangel. Und das, wo Willem Hiele ein 1,9-Meter-Hühne ist, der es im Erscheinungsbild und bezüglich revolutionärer Tatkraft durchaus mit Robin Hood aufnehmen könnte.

In der Küche ist er Autodidakt, gelernt hat er eigentlich den Bäckerberuf. Jahrelang reiste er durch Asien, Australien und Neuseeland, ehe er mit seiner Frau Shannah Zeebroek das Restaurant gründete. 2017 kürte ihn der belgische Gault & Millau zur Entdeckung des Jahres. Eine Initialzündung, die auch den Guide Michelin zum Stern greifen ließ.

Hiele hat sich mit seiner Küche komplett dem Terroir­-Gedanken verschrieben. In seinem Garten stehen nicht nur alte Apfelbäume, sondern auch Gemüsebeete mit allen nur erdenklichen Sorten und Arten. Selbst Spargel wird hier frisch aus der Erde gestochen. Der verwendete Fisch kommt ausschließlich von betont nachhaltig arbeitenden Nordseefischern. Dabei werden von Überfischung bedrohte Arten wie Kabeljau vermieden und weniger bekannte Fisch aus dem sogenannten Beifang verarbeitet. Große Steinbutte gibt es zum Glück aber trotzdem. Der Fisch wird jetzt allerdings viel umfassender verwendet. So dienen etwa fermentierte und getrocknete Steinbutt-Eier als Grundlage für ein Nordsee-Dashi.

Verwendet werden auch viele Wildpflanzen, die in den Dünen wachsen, etwa Dünenrosen, Weißdorn, Wilder Spargel und Rucola. „Wir wollen unseren ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich halten. In Zeiten, in denen das Klima das Hauptthema ist, gehen wir als Restaurantbesitzer mit gutem Beispiel voran.“

Gefühl ist bei Willem Hiele wichtiger als jede Stoppuhr, in seiner Küche gibt es keinen Pacojet, nicht einmal ein Thermometer. Er gart riesige Steinbutte mit einer erstaunlichen Präzision auf dem Holzkohlengrill, direkt auf dem Rost unter nassen Jutesäcken. Klingt völlig verrückt, liefert aber einen perfekt gegarten Fisch.

„Wir wollen die Attraktionen jeder Jahreszeit vor Augen führen. Respekt und positive Energie sind dabei unsere Schlüsselworte. Ich weiß schon, dass mich manche dafür auslachen, aber wenn ich frisch gestochenen Spargel in der Hand halte, dann spüre ich seine vibrierende Kraft.“ Wenn im launischen belgischen Klima alles wächst und gedeiht, ist natürlich von allem zu viel vorhanden. Dann wird konserviert und fermentiert. „So wie es schon meine Eltern gemacht haben.“

Willem Hiele hat in seinem gleichnamigen Haus Platz für ­maximal dreißig Gäste. Speisekarte gibt es grundsätzlich keine. „Was ich wissen muss, ist, ob sie viel oder wenig essen und trinken wollen. Alles andere nehme ich in die Hand.“

Was jetzt alles recht lässig klingt, erreicht auf jedem servierten Teller einen bemerkenswert hohen Grad an Perfektion. Das eint Willem Hiele mit einem Kollegen von der südafrikanischen Westküste. Dort, im beschaulichen Fischerdorf Paternoster, lebt Kobus van der Merwe in seinem Restaurant Wolfgat ein recht ähnliches Küchenleben mit und an der atlantischen Meeresküste. Der frühere Food-Journalist hat erst mit dreißig seine Leidenschaft für die Küche tatkräftig umgesetzt und werkt seither als Autodidakt mit einem Team, das ebenfalls keine reguläre Küchenausbildung hat. Die ­Zutaten kommen nicht nur aus dem Meer, sondern auch aus den Dünen, etwa Sellerie, Geranien, Malven, Queller und verschiedene Wildkräuter. „In unserer Gegend bieten die meisten Restaurants vor allem Fisch und Chips an. Auch gut, aber ich wollte eben etwas anderes machen.“ Im Mittelpunkt stehen lokale Produkte. Produkte, die man einsammelt und von denen man anfangs vielleicht gar nicht weiß, ob sie essbar und wie sie zuzubereiten sind. „So erfassen wir auch das Wesen der Region, gewinnen an Identität.“ Denn so etwas wie eine südafrikanische Küche existiert nicht – wie denn auch, in einem Land mit elf Amtssprachen und einer immer noch im mühevollen Aufbau ­befindlichen Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Kulturen.

Dass von Kobus van der Merwe international überhaupt Notiz genommen wird, ist den World Restaurant Awards zu verdanken, einer versuchten Gegenveranstaltung zur renommierten The World’s 50 Best-Liste, die das Wolfsgat zum Restaurant des Jahres gewählt hat.

Ein Zufall wollte es, dass Kobus van der Merwe und Willem Hiele im Frühsommer dieses Jahres in Belgien ein sogenanntes 4-Hand-Dinner zelebrierten, wofür die beiden auch stundenlang gemeinsam durch die Nordseedünen streiften. Verblüfft stellten sie fest, dass erstaunlich viele Pflanzen auf beiden Seiten der Welt in den Dünen wachsen, wobei van der Merwe seinem Kollegen aus Flandern noch so einige bislang unbeachtete Pflanzen näherbrachte. Nur betreffend der vierbeinigen Tierwelt gibt es große Unterschiede. So wie die Wolfshöhle in Paternoster mangels südafrikanischer Wölfe eigentlich Hyänenhöhle heißen müsste, wurde in Belgien aus einer Springantilope dann ein junger Hirsch. Das „Rückspiel“ der ­beiden findet übrigens Anfang Dezember in Südafrika statt.