Meister in allen Klassen

José Avillez ist nicht nur der bestbewertete Koch in Lissabon, er ist zudem enorm populär und erfolgreich. Neben dem Avantgarde-Restaurant Belcanto weiß er auch, wie moderne portugiesische Küche geht.

Text von Christian Grünwald

Vielreisende und Tourismusexperten sehen Lissabon als das neue Barcelona. Tatsächlich haben beide Destinationen einige Gemeinsamkeiten, im Guten wie im Schlechten. Beide Städte sind wunderschön, besitzen enorm viel Charme durch ihre alte renovierte Bausubstanz, haben lässiges südländisches Flair und stehen punkto Kulinarik für unkomplizierte mediterrane Kost vom Feinsten. Auf der nicht so ­angenehmen Seite stehen Horden von Touristen und Selfiestick-Träger in Airbnb-Unterkünften, Straßenhändler, die durch unfassbare Ramsch­angebote auffallen, und Straßenmusikanten, die statt Fado Songs von Queen und Nirvana klimpern.

In beiden Städten sind die angestammten Bewohner mangels touristenfreier Rückzugsorte schon mehr als genervt, während die Gemeindevertreter stets auf die reichlich fließenden Einnahmen in der Kommunalkassa hinweisen. Doch gerade die Einwohner von Lissabon wissen, dass Geld alleine nichts bewirken kann. Der Großbrand im historischen ­Chiado-Viertel, der 1988 mehrere Hektar der Altstadt vernichtete, und die portugiesische Wirtschaftskrise, die Anfang dieses Jahrzehnts, ausgelöst durch Staatsverschuldung und Bankenkrise, die Mehrheit der Bevölkerung in existenzielle Nöte brachte, waren harte Prüfungen, die nicht so schnell vergessen werden.

Im Jahr 2012, also exakt am Höhepunkt dieses unerfreulichen Wirtschaftsszenarios, fühlte sich José Avillez reif für die Eröffnung seines ­ersten eigenen Restaurants. Avillez ist ein klassischer Quereinsteiger. ­Eigentlich hat er Betriebswirtschaft studiert, ehe ihn dann doch das ­moderne Küchenwunder im Nachbarland Spanien zu faszinieren begann. Eine Kochausbildung im eigentlichen Sinn absolvierte er nie, aber Praktikas im legendären El Bulli von Ferran Adrià sowie einige Monate bei Alain ­Ducasse in Paris veränderten endgültig sein Leben. Als Küchenchef im Tavares, dem damals ältesten und angesehensten ­Restaurant von Lissabon, konnte er seine Ideen für ­eine moderne portugiesische Küche erstmals um­setzen. Das Resultat war ein Michelin-Stern für sein Küchen-Handwerk und eben genügend Mut zum ­eigenen ­Restaurant.

José Avillez steckte sein ganzes Geld und auch vieles, das er gar nicht hatte, in das Restaurant Belcanto, schräg gegenüber von der Oper in bester Lage situiert. „Es war fürchterlich, an manchen Tagen hatten wir mittags und abends nur fünf Gäste.“ Avillez hielt notgedrungen durch. Unter den wenigen Gästen befand sich eines Tages auch Frank Bruni von der New York Times. Er schwärmte dermaßen über die moderne zeitgemäße Belcanto-Küche, dass ab Erscheinen des ­Artikels das Restaurant gut gebucht war.

Heute ist das Belcanto in der World’s 50 Best-Liste 2018 auf Platz 75 zu finden, seit 2014 für zwei Michelin-Sterne gut und hat soeben eine Übersiedlung ein paar Häuser weiter vom ursprünglichen Gründungsort hinter sich gebracht. Die neue Adresse wirkt atmosphärisch noch gediegener, noch privater. Nach wie vor kann man zwischen dem klassischen Menü und den sogenannten „Evolutionsmenüs“ wählen oder auch aus beiden Angeboten Gerichte ordern. Empfehlenswert ist in jedem Fall die Carabinero-Trilogie, bei der ein Teil in einer Kopfhälfte als warmes Tatar serviert wird, gefolgt vom unglaublich süßen Körper und dann dem Kopf selbst, der in einem Salz-Rüben-Mantel warm gehalten wird; der Inhalt ist ein knallroter, irrsinnig intensiver und klar schmeckender Saft. Der Rücken eines tatsächlich sehr jungen und kleinen Spanferkels wird ähnlich einer klassischen Pekingente zubereitet und zelebriert. Dort wie da dreht sich alles um die köstliche Haut. Mittlerweile einschlägig berühmt sind die schwarzen und weißen „Steine“ aus Kichererbsen, Kabeljau und Leber beim Amuse-Gueule. Sehr verspielt in El Bulli-Tradition die in einem Blumenstrauß versteckten Tuna-Stanitzel. Grandios allein schon wegen der Produktqualität der Hummer mit weißen Bohnen und die silbrig glänzende Makrele, die nur ganz zart geräuchert wird. Beim Dessert verblüfft die Kombination von Schokolade und Kalamar-Tinte. Schwärzer kann ein Dessert nicht sein – und dabei doch geschmacklich (süß, bitter und salzig) so gut gefallen.

Rückblickend war der Start inmitten Portugals Wirtschaftkrise für José Avillez eine glückliche Fügung. Heute ist er Herr über bald 600 Mitarbeiter und betreibt 15 Restaurants im Großraum Lissabon. Kürzlich hat er in seinem Geburts- und Wohnort Cascais an einem der schönsten Küstenspots ein weiteres Lokal eröffnet. „Für unsere Expansion war die Zeit nach dem Finanz-Crash eine Chance, die wir nutzen konnten. Alle Grundkosten waren damals sehr niedrig. Wir konnten langfristige Mietverträge in Top-Objekten in der Altstadt eingehen, die heute unleistbar wären.“ José Avillez hatte schon damals ein Faible für beste Lagen, speziell im Hinblick auf Immobilien in Lissabon. Tatsächlich sind sie ja bei vielen Gastroprojekten sprichwörtlich die halbe Miete. Viele davon wurden zu einer Zeit gegründet, als die jeweiligen Mieten noch erschwinglich waren; inmitten der portugiesischen Wirtschaftskrise und vor dem heutigen ­Immobilienboom, im Zuge dessen sich sogar Weltstars wie Madonna in Lissabon ansiedeln. Sie tat es angeblich wegen der Kultur und der Schönheit der Stadt. Die steuerlichen Zuckerln erleichterten ihr wohl die endgültige Entscheidung.

Im Bairro do Avillez, einem flächenmäßig riesigen Komplex in der Altstadt, bestehend aus der Mercearia, einer Art Feinkostladen mit besten Schinken und Käse aus Portugal, dem eher rustikalen Taberna-Restaurant, vor allem aber dem großartigen Páteo-Restaurant mit wunderbarem Fisch- und Seafood-Angebot, kann man die Avillez-Idee einer modernen Portugal-Küche am besten erschmecken.

Moderne, leichte Küche, basierend auf frischem Fisch, Seafood und Gemüse, war zu Beginn des aktuellen Jahrhunderts etwas komplett Neues für Portugal. Die traditionelle Küche des Landes drohte an ihrer Deftigkeit ­zugrunde zu gehen. Avillez tat das, was er im El Bulli gelernt hatte: über den Tellerrand zu denken, alles in Frage zu stellen und neu zusammenzufügen.

Regionalität ergibt sich aus dem Thema. „Angestrebte 95 Prozent unserer verwendeten Zutaten stammen aus Portugal. Man muss aber bedenken: Einst hat Portugal nicht nur Länder entdeckt und damit viele Pflanzen, Gewürze und Zubereitungen aus Asien, ­Afrika, Mittel- und Südamerika ins Land gebracht. Wir haben umgekehrt auch Tempura beispielsweise nach Japan exportiert.“ Und da ist auch noch die Sache mit dem Stockfisch, der zwar als typische portugiesische Zutat gilt, „aber Hand aufs Herz: Kabeljau ist noch nie vor der Küste Portugals geschwommen. Der gesalzene und getrocknete Fisch für das typische Bacalhau kam immer schon aus dem Norden Europas.“

„Tradition muss man verstehen lernen und neu ­leben“, meint Avillez. „Die meisten Gerichte und Produkte wurden aus einer Notwendigkeit heraus kreiert. Fisch wurde mit Salz getrocknet, Gemüse in Essig oder Olivenöl eingelegt. – Es gab ja keine Kühlmöglichkeiten. Es ging also nicht ausschließlich um Geschmack, sondern um die Erhaltung des Lebensmittels.“

Die Zubereitung des Klassikers Muscheln mit Knoblauch und Petersilie dauert heute zwei Minuten. Im Ur-Rezept werden die Muscheln 15 Minuten gekocht. Das geschah, um sich vor gesundheitlichen Problemen zu schützen. So ist es mit vielen Dingen. Es reicht nicht zu sagen, dass die Großmutter es immer so gemacht hat. Wir können nicht in der Historie stehen bleiben. Zugleich muss man aber auch genau wissen, warum man die alten Regeln bricht und etwas Neues macht. Die Antwort auf das ,Warum‘ ist enorm wichtig.“ Technische Spielereien und Ideen, die verblüffen und erstaunen, stehen im Belcanto auf der Tagesordnung. „Nicht als Selbstzweck, aber als Unterstützung unserer Grundideen. Das gehört heute zum Spaßhaben in einem Toprestaurant einfach dazu.“ Und den ­haben nun endlich auch wieder einheimische Gäste. „Unsere Wirtschaft lag so darnieder, dass niemand Freude an meinem Essen haben konnte. Aber jetzt kommen auch wieder Einheimische aus dem Mittelstand zu uns.“

Mit der Vielzahl von Betrieben fühlt sich José Avillez in manchen ­Situationen schon ein wenig für die zukünftige Entwicklung des von ihm bewirtschafteten Altstadtviertels verantwortlich. Etwa, wenn er das Café Lisboa wieder so instand setzen lässt, dass man meint, der alte Prunk mit Marmor und Gold wäre zwischenzeitig nie verschwunden gewesen. Oder wenn er auf die grassierende Einheitskost so reagiert, dass er eben auch Lokale für Burger, Pizza und Sandwich errichtet. „Nur eben mit besserer Qualität“, wie der schlaue Geschäftsmann in der weißen Kochjacke verschmitzt meint. Von Avantgarde alleine wird eben niemand satt.

Im Bairro do Avillez bewusst etwas versteckt untergebracht, hat sich Avillez eine Art Jugendtraum erfüllt und das Gourmet-Cabaret namens Beco initiiert. Im Stil eines Varieté-Theaters erwarten den Gast neben verschiedenen Gesangs- und Akrobatikdarbietungen auch zum Teil verblüffende Speisen mit einer Art Best-of der Molekularküche. „Nichts ist hier, wie es scheint“, verspricht die Speisekarte. Und tatsächlich scheint bei der Vermarktung unterschiedlicher Gastronomieideen für José Avillez ein ­Ende der sich bietenden Möglichkeiten noch lange nicht erreicht.

Belcanto
Das Avantgarde-Lokal mit einer der besten Küchen Portugals. Rua Serpa Pinto, 10 A, Lissabon. www.belcanto.pt

Páteo
Bester Fisch und Seafood im entspannten Rahmen. Rua Nova da Trindade 18, Lissabon. www.bairrodoavillez.pt

Taberna
Schinken, Käse und andere portugiesische Delikatessen und Traditionsgerichte im Bairro do Avillez, Rua Nova da Trindade 18, Lissabon. www.bairrodoavillez.pt

Café Lisboa
Traditionscafé voll Nostalgie. Gut für Snacks und Lunch. Largo de São Carlos 23, Lissabon. www.cafelisboa.pt

Pizzaria Lisboa
Italo-Küche und einige Avillez-Klassiker im unprätentiösen Rahmen. Rua dos Duques de Bragança 5 H, Lissabon. www.pizzarialisboa.pt

Cantinho do Avillez
Neu eröffnetes schickes Restaurant im Badeort Cascais mit mediterraner Portugal- Küche. Rua da Palmeira 6, Cascais. ­www.cantinhodoavillez.pt