Miracoli, ungeblümt

Karg die Kindheit. Spät kam’s zur Einweihung in differenzierten Genuss. Riechen und schmecken. Da und dort. Beim Rumgurken. In der Welt und in den weiten Räumen der Phantasie. Bei Tex Rubinowitz kann alles so gewesen sein, wie er es zeichnet und beschreibt. Aber auch ganz ganz anders.

Text von Ro Raftl · Fotos von Philipp Horak

Ostende, jeden November seit 1990. Anti-idyllisch, während sich stereotype Romantiker altösterreichnostalgisch in Triest und Venedig anheimeln lassen. „Der Name allein. Ein Ort, der mit Ende endet. Eine ehrliche Kapitulation. Nebel über Waschbeton: Da sitzen die Leute an ihren Fenstern und schauen auf den Ärmelkanal. Bloß hat es keine Bedeutung mehr, ihn zu kreuzen“, sagt Dirk Wesenberg aus Lüneburg, der unter dem Pseudonym Tex Rubinowitz bekannt geworden ist. Depri-Romantizimus, wenn auch „pragmatisch“ abgefedert: mit einem großen Topf Muscheln und dieser fetten Mayonnaise, „so dick dass man Wände damit spachteln kann“, mit Pommes, und Kriek, dem süßsauren Kirschbier. „Schrecklich, wenn man das jemandem erzählt, aber geil.“ Augenglitzern hinter Brillengläsern: „Geil sag ich sonst nie, doch da passt’s. Ei-ne ekel-haft gei-le Kombination. Eine Fett-Zucker-Jod-Bombe.“ Im belgischen Mayo-Streit würde TR jedes Manifest unterschreiben, dass die seit achtzig Jahren vorgeschriebene Rezeptur mit 80 Prozent Fett und 7,5 Prozent Eigelb bleiben muss, wie sie ist.

„Vor 25 Jahren gab’s einen direkten Zug von Wien bis zur Fähre hinüber nach England.“ Und es gab dieses große, rothaarige Mädchen, einen Tag vorher kennengelernt. Der Fabrikant krakeliger Zeichnungen fühlte sich verliebt. Stellte spontan eine Sexualduftstoff-Falle: „Da geht um 21 Uhr ein Zug nach Ostende.“ Lässig. Und zum Staunen. In Österreich war Belgien als Reiseland noch nicht durchgesetzt. „Wir hatten kein Gepäck, fuhren in den Nebel, zu Waschbeton, Muscheln, Fritten, Mayonnaise, Kirschbier, und am nächsten Abend wieder zurück.“

Eine quasi historische In-der-Welt-Rumgurkerei des Auch-Reiseschriftstellers, in dessen Taschenbuch Rumgurken es häufig um Alkohol geht, aber in Nullkommanull um sogenannte Sehenswürdigkeiten. Eher darum, beispielsweise im Ravintola Sea Horse, dem Seepferdchen in Helsinki, „16 abgezählte Stück Heringe aus der Bratpfanne, pappige Stampfkartoffeln und nierensteinausschwemmende, nach Grab riechende Rote Rüben mit einem Zweig Dille obenauf, denn ohne Dille geht in Finnland gar nichts“, zu essen. Um. Mit seinem Freund Momus, einem schottischen Musiker, der eigentlich Nick Currie heißt, in Osaka lebt und nur mehr ein Auge hat, weil ihm beim Reinigen seiner Kontaktlinsen mit ­griechischem Leitungswasser Parasiten zwischen Auge und Linse gekrochen sind, zum Songtext „Under the table with her“ der Gebrüder Ron & Russel Mael, besser als Sparks bekannt, das aber auch nur Menschen, die sich bei Bands der Siebzigerjahre auskennen, unter einem Tisch eine kleine Fluxus-Aktion zu starten. Und. Falls Sie nicht wissen, was Fluxus ist, googlen Sie bitte oder lesen Sie das Buch. Sonst wird der Satz noch viel, viel länger.

Wie das 1990 mit dem großen rothaarigen Mädchen ausgegangen ist? TR ist unverheiratet und kinderlos. Es gäbe ­eine engvertraute Lebensfreundin, sagt er. Außerdem. Viel zu tun. Multitalent nannte ihn sein Freund Klaus Nüchtern vom Falter vergangenes Jahr, als der damals glatt rasierte Rubinowitz den 25.000 Euro schweren Bachmannpreis für den Text Wir ­waren niemals hier bekam, den er später zum Roman Irma weitergesponnen hat. „Eine wilde, schöne und sehr seltene Liebesgeschichte“, ­begründete die Jury. Irma, angeblich der Name seiner ersten „echten“ Freundin, als der Wien-Debütant eine Woche lang Kunst an der Angewandten studierte, war eine litauische Batterienleckerin, die Koreanisch lernte, an der Garderobe, wie sie sein Dings nannte, nicht interessiert war, ihn jedoch – deshalb? – bis zum Brathühnchenklau an einem Pratergrill aufhussen konnte. Und zu einer Ohrfeige am Berliner Bahnhof, aber das gehört zu einem anderen Leck der Biographie.

„Sex“, erklärt Rubinowitz auf Anfragen störrisch , sei „langweilig, vorhersehbar und egoistisch“.

Das Multitalent manifestiert sich in Cartoons und Witzegestrichel für Zeitungen und Magazine in Österreich und Deutschland – je kindlich-naiver desto dunkelhumoriger. Bisweilen auch in Ölbildern wie für Christine Königs Wiener Galerie oder nach TRs Outing als Songcontest-Fan im Leopold Museum, wo er die Null-Pointers aus der Historie des Bewerbs abgebildet hat. Musikalisch in der Elektronik-Band Mäuse, die er als Sänger, Schalmeibläser und Gelegenheits-Posaunist beschallt. In der Erfindung des einfach logischen Werbespruchs von den unaussprechlich guten Brötchen für den Wiener Kult-Büffetier Trzes´niewski. Mehr dem Asketischen zugewandt in eiskalten österreichischen Gewässern, in denen er auch im Winter schwimmt. Im Hallstätter See, den er beim jährlichen Halb-Marathon umrundet. Besitzt ein Haus dort.

Umbrandet von fernöstlichem Touristenboom – einerseits dem Nachbau der Unesco-Welterbestadt in der chinesischen Provinz Guangdong geschuldet, andererseits der herzschmalzigen koreanischen Sitcom Spring-Waltz, in der Hallstatt eine tragende Rolle spielt. Rubinowitz kennt sich aus beim Fernsehen und in Fernost. Japan, ja, hat er beschrieben. Kauft am Wiener Naschmarkt im Japan-Markt Nippon-ya, Natto etwa, die vergorenen Sojabohnen, die so schöne klebrige Fäden ziehen. Um gleich ein paar Gassen weiter den „urbilligen“ chinesischen Friseur Xiao Fei zu frequentieren. Doch. Die neuen Standards in Hallstätter Hotels, die Wasserkocher in den Zimmern für Grünen Tee und mitgebrachte Instant-Hühnersuppen, der Congee-Reis zum Frühstück, nützen einem Zweithäusler gar nix, wenn’s in den Gasthäusern immergleich nur nach Alpenland schmeckt.

Noch ein Bier! Denn. Jetzt zelebriert der Wenig-aber-gern-gut-Esser das kroatische Restaurant Sopile in der Paulanergasse in Wien IV, das er zufällig entdeckt hat, und obwohl er „praktisch nie ausgeht“, doch einmal im Monat aufsucht. Weil. Dort. Alles Gute so unaufgeregt und leise und schlicht daherkommt. Von der Einrichtung übers Essen bis zum wunderbaren Koch und Inhaber Ivo Surlina-Poropat, der in Rijeka geboren, von Tex Rubinowitz generös nach Rovinj verortet wird – da er dort als Siebzehnjähriger seine kulinarische Erleuchtung erfuhr. Nema problema. Was der weißlockige Chef in der Manufaktur des Sopile produziert, die Sardinenfilets in savor mit Rotweinmarinade, die klare Fischsuppe mit Filetstücken, Garnele und Safrannudeln, die Rosmarinlazanje mit Lammragout, den Rindslungenbraten in Steinpilzen mit Gemüse, sind die Speisen einer Region, „eine Art von Küche, die zu erhalten und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen wesentlich ist“. Davon ist er, sind seine Frau Vesna und Tochter Mirta im Service durchdrungen. Auf Augenhöhe mit den Gästen. Zu Recht wird Mirta von TR als „wunderbare Saaltochter“ verehrt. Alles stimmt. Feine frische Zutaten, ehrlicher Wohlgeschmack. Malvasier steht am Tisch.

Nostalgie. Rubinowitz’ sinnliche Initiation in Rovinj. Der erste große Geruchs-, Geschmacks- und Magennervenkitzel.

Um das zu verstehen, muss man allerdings bis in die Vierzigerjahre ­zurückdenken, als Millionen Deutsche aus Litauen, Polen, der Tschechoslowakei panikerfüllt, „Die Russen sind Menschenfressser“, zurück ins zertrümmerte Reich geflohen sind. TRs Großmutter mit fünf Kindern, auf einem Pferdewagen, der in der Danzinger Nehrung im Eis einbrach, zwar rausgefischt wurde, doch die Pferde waren tot und Dirks / Texs spätere Mutter bekam TBC und musste in die Lungenheilanstalt. Kochen hat sie nie gelernt.

Gänseblutsuppe, im Kochbuch „Schwarzsauer“, ein Rezept von der Großmutter, war das Einzige, was sie „konnte“. Nur. Musste man auf einen Gänseschlachttag warten, denn wenn das Gänseklein nicht rasch verarbeitet wird, klumpt das Blut. „Dann kam Suppengrün dazu, Dörrobst, Zwetschken, Aprikosen und Gewürze, manchmal Schweinerippchen, immer Teigknödel. Eher harte. Aber das hat mir geschmeckt. Sonst gab’s Käsebrot. Warmes Essen samstags mal, abends nie.“

Der Vater, Flüchtling aus dem polnischen Stettin, hat in einer Freibank gearbeitet, wo minderwertiges Fleisch aufbereitet worden ist, für Tiergärten zum Beispiel. „Vater brachte oft große Trümmer Billigfleisch, doch Mutter konnte es nicht braten. Leber wurde immer steinhart.“ Also gab der Vater dem Sohn rohe Leber zum Kauen. „Wir kauten gemeinsam, stundenlang. Bei mir hatte das mit einer Art Demut zu tun. Wenn der Vater sagt: Hier ist rohe Leber. Iss sie!, isst man sie. Wären es Spinnen und Schlangen gewesen, hätte ich sie auch gegessen.“ Manchmal rührte Vater Wesenberg Zuckerei, also Dotter mit Zucker zu einer schaumigen Creme. „Man akzeptiert das als Status quo. Bleibt bedürfnislos.“

TR delektiert sich an einer marinierten Sopile-Sardine. Als er mit 16 und sieben Fünfern von der Schule flog – „45 aknepubertierende Schüler in einer Klasse, zu viel Testosteron, zu viel schlechte Luft –, daraufhin von zu Hause auszog, hat sich sein kulinarisches Spektrum auf Miracoli erweitert, „Spaghetti, die in einer Schachtel mit einem Tütchen Parmesan und einem Schlauch ungewürzter Tomatensoße verkauft worden sind. Auf Ravioli aus der Dose, billigst. Joghurt. Ich hab in einer Molkerei gearbeitet, Joghurt abgefüllt, und pro Schicht war eine Palette frei … Erst“, sagt er, „war’s mir peinlich, dass ich am Gymnasium komplett versagt hab, jetzt empfinde ich Stolz, weil nichts vorhanden war, das den Geist angeregt hätte.“

Er zog mit seinem Freund Jens, Lehrling in einem Fotoladen, in einen kleinen Turm, ein Türmchen. „Unten wohnte eine alte Frau mit kläffendem Hund, im zweiten Stock wohnte Jens, im dritten ich, im vierten war die Küche. Das Klo war im Hof, aber wir konnten aufs Dach gehen. Im Sommer haben wir dort geschlafen und Party gemacht. Na, runtergepinkelt nicht, nur altes Essen in den Hof geschmissen: Wir wollten, dass ein Organismus entsteht, der elektrisch werden sollte, ein Irrwisch, so eine physikalische Verbindung wie in gärendem Torf. Vorm Hof auf der Straße wohnte der Uhrmacher, dem dieser Turm gehört hat, dort musste man vorbeihuschen, wenn man die Miete schuldig blieb, 100 Mark, und sie waren bar auf die Hand zu bezahlen. Wir haben Karten gespielt und wahnsinnig viel gesoffen. Wacholderschnaps. Steinhäger, die proletarische Variante von Gin, der angloamerikanisch eleganten Version. Gestohlen – denn der Hintereingang der Gasthäuser war immer offen. Da konnte man hineinschleichen und sich eine Steinflasche greifen. Nein, erwischt worden bin ich nie. Zweimal wegen Butter in einem Laden. Gestohlen haben wir viel. War immer zu wenig Geld da. Und. Wir uns als Teufelskerle beweisen wollten.“ Hm. Tex räuspert sich: „Jetzt stehle ich natürlich nicht mehr …“

Urlaub konnte er nehmen, wann er wollte. Fuhr Autostopp durch ganz Deutschland bis nach Jugoslawien. Nach Rovinj. Dort, unter milder Luft am Meer erfuhr er, was Spaghetti sein können, wie Fisch schmeckt und Gegrilltes. Die Macht der Kräuter und Gewürze. „1978 war in Norddeutschland nix mit ­Gewürzimport und Balkanrestaurants an jeder Ecke. Und hätte einer gesagt: Ich esse kein Fleisch, hätte man ihn für verrückt erklärt.“ Weiter in Griechenland zerfloss sein Herz, wenn Leute, so alt wie er, ihr Essen mit ihm teilten, Schafkäse, Frühlingszwiebel, Fladenbrot und ihn, den dreckig stinkenden Autostopper zum Essen in ihre Häuser einluden. Versteigt sich zu dem Wort „Barmherzigkeit“, denn: „Wer hätte sowas bei uns getan?“ Das türkische Essen dann war ihm zu fett, zu süß und zu üppig. Aber. Sein Geschmack hatte den Bildungsschub „hin zur feineren Differenzierung“ bekommen. Im Sopile denkt der 54-Jährige an den 17-Jährigen. Prost!

Meist esse er trotzdem Käsebrot, sagt er. Wie er’s bei Mutter gelernt hat. Und. Ordnet die Unordnungen des Lebens in Listen, die wieder in Katalogen wie den Sieben Pluralen des Rhabarber oder Die sexuellen Phantasien der Kohlmeisen publiziert werden. Was Tex Rubinowitz katalogisiert? Etwa: „Elf Gründe, ein Kleidungsstück wieder zurück in den Laden zu bringen“ oder „Was sich Psychiater während der Sitzung so für Notizen machen“. Es gibt auch eine Liste zum Trendgewürz Salz. Denn manchmal kocht er doch. Scholle im Salzmantel. Natürlich brät er sie immer so, dass man die Augen nicht sehen kann. Schollen haben beide Augen auf der rechten Seite. Platvisk heißen sie in Ostende. Der Vorteil dort: Man kann sich blind auf den Koch verlassen.