Mr. Slow Food
Carlo Petrini kämpft gegen die globale Vereinheitlichung des Geschmacks und vereint dafür Intellektuelle mit Bauern. Von "A la Carte" erhielt er dafür bei der Trophée-Gourmet-Gala den internationalen Ehrenpreis.
Mr. Slow Food
Text von Willi Klinger Fotos: Helene Waldner
Wenn sich am kommenden 26. Oktober 5.000 Bauern, Fischer und Nomaden aus 150 Ländern mit 1.000 Köchen und 400 Universitätsdozenten in Turin zum Kongress "Terra Madre" im Rahmen des "Salone del Gusto" treffen, wird einer der charismatischsten Kämpfer für die Anliegen der nichtindustri-ellen Landwirtschaft auf dem Höhepunkt seines bisherigen Wirkens angelangt sein: Carlo Petrini, der Gründer der Slow-Food-Bewegung.
Der von seinen Freunden liebevoll "Carlin" genannte Petrini wurde 1949 im piemontesischen Bra geboren und studierte in Trient Soziologie. "Danach gründete ich den ersten freien Rundfunksender Italiens, Radio Bra – Onde Rosse", erzählt er mit dem nostalgischen Stolz des klassischen 68ers. Mit seinem politischen und journalistischen Background sorgte er ab 1977 für die intellektuelle Fundierung der Auseinandersetzung mit dem Thema Genuss. Er wurde 1986 Gründungspräsident der Slow-Food-Vorläuferorganisation "Arcigola", die in dieser Zeit auch die zwei bekannten Restaurants "Osteria Boccondivino" in Bra und "Osteria dell’Arco" in Alba eröffnete.
Nach der Gründung von Slow Food International zum 200-Jahr-Jubiläum der Französischen Revolution in der Opéra Comique in Paris im Jahr 1989 lenkte Petrini die Entwicklung des Netzwerkes stärker in die ökologische Richtung. "Am Anfang waren wir eine önogastronomische Vereinigung gegen Fast Food, hektisches, genussfeindliches Leben, Standardisierung von Lebensmitteln und die Vereinheitlichung des Geschmacks. Aufgrund der dramatischen Bedrohung der biologischen Vielfalt und des Desasters der Agrarindustrie, die die kleinen landwirtschaftlichen Systeme zerstört, hat sich Slow Food zu einer ökogastronomischen Bewegung entwickelt", resümiert der Visionär Petrini, der 2004 vom Time Magazine zum "European Hero" gekürt wurde. Slow Food wuchs in zwei Jahrzehnten zu einer beeindruckenden Organisation mit 80.000 Mitgliedern in 120 Ländern der Erde. Der größte Zulauf wird derzeit ausgerechnet in den USA, der Heimat des Fast Food, registriert, wo die Starköchin Alice Waters und der Autor Eric Schlosser ("A Fast Food Nation") im Beirat sitzen.
Was Petrini gelang, ist nichts weniger als der Schulterschluss der Intellektuellen mit den Bauern. Dafür gibt es verschiedene Organisationsebenen. Zur Bewahrung der Artenvielfalt und der ländlichen Gemeinschaften wurde 1996 das Projekt "Arca del Gusto" (Arche des Geschmacks) ins Leben gerufen, das eine internationale Bestandsaufnahme der bedrohten Spezialitäten vom "Kapaun von Morozzo" bis zum norwegischen "Sørøya-Stockfisch" zum Ziel hat.
Die Arca ist die Idee, aber die praktische Arbeit erfolgt in den "Presidi" genannten Förderkreisen. Sie definieren das Projekt und betreuen es von der Kommunikation über die Verarbeitungsmethoden bis hin zur Vermarktung der Produkte. "Die Massenproduktion wird scheitern! Die kleine, lokale Qualitätsproduktion mit Herkunftsbezug rettet die europäische Landwirtschaft!", lautet das Credo Petrinis, der seine Ideen längst globalisiert hat. Weltweit wurden bisher an die 800 "Presidi" ins Leben gerufen. Österreichs erster Slow-Food-Förderkreis ist das Projekt "Sulmtaler Huhn" des Slow-Food-Conviviums Steiermark.
Diese Spezialitäten werden bei groß aufgezogenen Slow-Food-Events im Zweijahresrhythmus für ein breites Publikum präsentiert. So hat die 1997 erstmals veranstaltete weltgrößte Käsemesse "Cheese" in Bra einen regelrechten Boom der handwerklichen Käseproduktion ausgelöst. Die "Slow Fish" in Genua soll ein neues Bewusstsein für das Problem der nachhaltigen Fischerei schaffen. Im Oktober 2004 kamen 140.000 Besucher zum 5. "Salone del Gusto" ins Gelände des ehemaligen Fiat-Werkes Lingotto. Gleichzeitig fand auch die erste "Terra Madre" statt, das Treffen der kleinen Lebensmittelbündnisse aus aller Welt. "Terra Madre ist ein globales, dezentrales Netzwerk, das sich selbst generiert und den ganzen Planeten, Nord und Süd, Arm und Reich vereint", beschreibt Petrini seine Art von Globalisierung.
Ein wichtiges Standbein der Bewegung ist der Verlag Slow Food Editore. Er hat derzeit 70 Titel im Programm, darunter die Führer "Osterie d’Italia", "Formaggi d’Italia" und auch "Vini d’Italia", eine Koproduktion mit dem römischen Verlag Gambero Rosso. Dieser Führer vergibt alljährlich auch die "Tre Bicchieri", die begehrteste Auszeichnung für italienische Spitzenweine, die ebenfalls bei großen Events den Weinfreunden vorgestellt werden.
Der vielleicht größte Coup gelang Petrini mit der Gründung der "Università di Scienze Gastronomiche" am ehemaligen Königssitz in Pollenzo, die erstmals die Önogastronomie in den Stand der Wissenschaft erhebt. In Pollenzo wurde auch die "Banca del Vino" eingerichtet, wo große Weine Italiens unter idealen Bedingungen als "Gedächtnis des italienischen Weins" lagern.
Petrinis neuestes Buch "Buono, pulito e giusto" (Gut, sauber und gerecht) ist die neue Bibel für eine Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion, die sowohl höchste Qualität, als auch Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zum Ziel hat. "Wer als Verbraucher gegen die Zerstörung der kleinen landwirtschaftlichen Systeme durch die Agrarindustrie ankämpfen will, muss mehr über die Thematik wissen. Mir gefällt übrigens das Wort Verbraucher nicht. Der Verbraucher sollte sich vielmehr durch die engere Verbindung mit dem Erzeuger als Koproduzent verstehen", erklärt Petrini, der auch ein Netzwerk der kleinen, bäuerlichen Produzenten als Gegengewicht zur industriellen Agrarlobby fordert. Nur so komme man zu gerechteren Erzeugerpreisen für die Bauern. "Das wäre durchaus sozial vertretbar, denn die Menschen geben heute viel zu viel Geld für Dinge mit fraglichem Nutzen aus, während bei der Ernährung gespart wird. 1970 verwendete eine italienische Durchschnittsfamilie noch 32% ihres Einkommens für Lebensmittel, heute nur noch 16%. Ein Wert von 18 bis 19% würde genügen, um ein sozial gerechtes Bauerneinkommen zu garantieren. Der Mensch spart bei den Lebensmitteln instinktiv, weil dieses Verhalten aus Notzeiten unbewusst weiter tradiert wird. Derselbe Konsument, der problemlos ein teures Synthetiköl in den Motor seines Autos schüttet, beklagt sich über den hohen Preis von gutem Olivenöl für seine Ernährung", argumentiert Petrini.
Da es für hochwertige, individuelle Lebensmittel kaum Werbung gibt, sind sich die wenigsten Menschen des Problems bewusst. Die Industrie hat aber auch erkannt, dass immer mehr Menschen eine Sehnsucht nach ursprünglichen Lebensmitteln entwickeln. Daher verwendet sie in der Werbung oft bukolische Konzepte und Welten, während die Industrialisierung munter fortschreitet. Petrini betont aber, dass es auch große Betriebe gibt, die gute Qualität unter fairen, umweltfreundlichen Bedingungen produzieren.
Das entscheidende Problem für Petrini ist jedoch die Erziehung unserer Kinder, deren Konsumverhalten von den Werbekampagnen der Industrie gesteuert wird, während in den Haushalten die traditionelle Ernährungskultur rapide abnimmt. "Die Werbung der Multis bedroht die Seele unserer Kinder! Der Kontakt zur Erde ist daher für die Kinder heute noch wichtiger als das Lesen von Büchern." Deshalb hat Slow Food auch eigene Bildungsprogramme für Kinder und ihre Lehrer. Auf Initiative von Manfred Flieser sind in der Steiermark jetzt auch die erstenösterreichischen Slow-Food-"Schulgärten" entstanden.
Als Petrini bei der Überreichung der "Trophée Gourmet" in der Wiener Hofburg nochmals seine Philosophie erklärte, hingen 700 Zuhörer an seinen Lippen. Immer wieder wurden seine Sätze von Applaus unterbrochen, besonders die neuerlich erhobene Forderung, dass wir unseren Bauern mehr zahlen müssen. Auch Sacher-Chefin Elisabeth Gürtler, die Petrini die Trophée überreichte, war sichtlich bewegt. Petrini bedankte sich und würdigte Institutionen wie das Hotel Sacher als wichtige mythologische Elemente der kulinarischen Kultur eines Landes. "Kommt zur ,Terra Madre‘ nach Turin. Diese Vielfalt der Trachten, Hautfarben, Düfte und Geschmäcker werdet ihr ein Leben lang nicht vergessen!", sagte er beim Abschied. Also, auf nach Turin!