Musik, die durch den Magen geht

Oder: Man soll unabhängig sein. Dominique Meyer, Direktor der Wiener Staatsoper auf der Suche nach den Erinnerungen an Kochen und Essen im Land seiner Kindheit.

Musik, die durch den Magen geht

Text: Ro Raftl · Fotos: Peter M. Mayr

Der Direktor kocht. Französisch, italienisch, Elsässer Kindheitsspeisen. Gerne, denn manchmal möchte Dominique Meyer gleich ein Resultat sehen: „Plant man Opernfolgen dauert das Jahre.“ Resultate aus der Küche kann man rasch mit Freunden und Familie teilen.

Mein Großvater hat Pilze mit der Nase gefunden, sie gerochen, die rosa Champignons in der Wiese, die gelben Eierschwammerlfamilien im waldigen Moos …“
 „Meine Großmütter haben beide Anna geheißen, sind auch im selben Jahr geboren, 1904. Eine wohnte auf dem Land, die andere in der Stadt. Beide waren wunderbar auf ihre Weise. Beiden durften mein Bruder und ich in der Küche helfen.
 Anna 1, die als erste Frau im Elsass die Matura gemacht hatte, und deshalb nur Französisch sprach, war wunderhübsch, gut angezogen, eine Dame, stand sehr früh auf, ging in die Morgenmesse und buk danach die köstlichsten Kekse, Zimtsterne, Choux à la crème, das heißt Brandteigkrapferln, und Bischofsbrot, das ein ganzes Jahr gehalten hat. Anna 2, die Bäuerin, hat uns Buben zur Küchenhilfe noch den Satz mitgegeben: Man soll unabhängig sein …“
 „Meine Frau hat mein Elsässer Repertoire mit Speisen aus Südwestfrankreich erweitert. Entenbrust mit Bratkartoffeln und Knoblauch oder Cassoulet, den Bohneneintopf mit Räucherspeck, Entenkeulen und Bauernbratwurst in die Ehe mitgebracht. Und mein 16-jähriger Sohn Nicolas bäckt Grissini, mit Rosmarin Knoblauch, Basilikum, und scharfe, mit Öl, Pfeffer, Chili. Aus dem Teig formt er Notenschlüssel, die er auf Partys befreundeter Musiker serviert, kommt dann mit Schürze und einem großen Grissini-Korb. Denn ich hab’s ihm weitergesagt: Man soll unabhängig sein.“

Der Wiener Staatsoperndirektor Dominique Meyer gab vor seinem Amtsantritt im Sommer 2010 eine Was-bis-jetzt-geschah-Biografie heraus. Doch der promovierte Wirtschaftswissenschaftler sollte ein Ess-Koch-Erinnerungsbuch schreiben, über den Geschmack und den Duft seiner Kindheit in Spechbach und in Thann, wo er am 8. August 1955 geboren wurde; ein Buch über die deftige elsässische Hausmannskost, die mit Tafelspitz, paniertem Kalbschnitzel, Nockerln und Guglhupf so oft der österreichischen ähnelt, über die vielen einfachen Gerichte, die heute kaum noch wer kennt: Gemüsesuppe mit gesalzenen Palatschinken und das Restlessen Scheiterhaufen. Über inniges Großfamilienleben.


Ja, Menschen, Orte, Dinge leben, so lange man sich an sie erinnert. „Ein Onkel hatte ein Restaurant in Spechbach, da hab ich ausgeholfen: Pommes frites für 50 Personen, Mayonnaise mit der 2-Liter-Ölflasche“. Lacht: „Seither hab ich Schwierigkeiten mit den Portionen: Macht man’s zu Hause nur für drei, geht es schief.“ Monsieur le Directeur umwölkt sich ein wenig angesichts „des entsetzlichen Gefühls, als ich Nicolas mein Dorf zeigen wollte, und es weder freilaufende Hühner noch grasende Kühe mehr gab: Die Landschaft ist zerstört, Die Bauern arbeiten anderswo und pflanzen nur noch Mais. Wir sind durch Wälle von Maispflanzen spaziert.“



Also erzählt Dominique Meyer im Sole in der Annagasse, der Lieblings-Pizzeria der Staatsopernsänger heimelige Geschichten von früher, wie sie in urgroßmütterlichen Haushaltsbüchern in gestochener Kurrentschrift notiert sind. Vom Großvater, dem „Meyer-Georges“, der nur sechs Hektar Land besaß, „aber gut davon leben konnte“. Der Enkel spricht die Worte „Milch, Eier, Butter“ bedeutungsvoll aus, beinahe zärtlich. Essen war in seiner Kindheit noch nicht aseptisch in Plastik verpackt, es roch, immer anders in sämtlichen Stadien von Frische bis Fäulnis, und man wusste, wo es herkam: „Die Milch von derselben Kuh hat im Sommer und im Winter anders geschmeckt … Die Hühnereier mussten wir suchen, mein Bruder und ich, gern, denn wir mussten erraten, wo die Biester ihre Eier versteckt hatten. Es war wie ein Spiel. Enteneier waren noch viel hübscher mit ihrer grünen, bissl graubräunlich getupften Schale.“
 Man war aber unabhängig, mit den Butterrollen, natur und leicht gesalzen, dem selbst gemahlenen Mehl, den Erdäpfeln, die im Elsass Hartäpfel hießen, mit Kraut & Rüben und den unterschiedlichsten Früchtesorten, die auf Torten verarbeitet wurden – und in Sirup eingelegt: „Sonntag durften wir in den Keller gehen, und unser Dessert aussuchen, zwischen Kirschen, Pflaumen, Zwetschken, Ringlotten und Marillen wählen. – Natürlich standen da auch Gläser mit Früchten in Alkohol, aber die waren für die Erwachsenen!“, schrickt Meyer bei der Frage nach Rumpflaumen und Schnapsweichseln fast aus den Erinnerungen an den kleinen Dominique hoch.

À la recherche du temps perdu … an gewaltige Sonntagsessen. Zu denen i-m-m-e-r Tafelspitz mit Karotten, Sellerie, Wurzeln, Lauch gekocht wurde – die Suppe mit Frittaten gegessen, danach das Gemüse als Salat angerichtet, danach der Tafelspitz pur oder von vornherein als „Pot-au-feu“ mit Suppe und Gemüse. Als zweiten Gang gab’s Ente oder Kaninchen, dann das Dessert. „Wir waren ständig mit der Großmutter oder der Mutter zusammen und mussten die schwierigen Fragen entscheiden: Genug Salz? Richtig gewürzt? So haben wir gleich Kochen gelernt, mit heiligem Eifer den Gugelhupfteig gerührt und Apfelkerne als Augen in die Germteig-Vögel gesteckt, die Großvater für uns ausgestochen hat. Klarerweise auch im Garten gearbeitet, wo das Schönste die Ernte war, die Pflanzen aus der Erde zu ziehen.“

Der Operndirektor, musischer Sohn eines Militärattachés und mittlerweile berühmt für seinen gepflegten Führungsstil, lächelt mit den Augen, verschmitzt, wenn er an den Apfelweintag denkt, an dem der Cidre gepresst wurde – „und wir Most trinken durften, soviel wir wollten und uns regelmäßig schlecht war. Und wie die Großeltern am Wursttag regelmäßig über die Gewürze stritten! Großvater hat sich die Rezepte aus seinem Dorf gewünscht, sich aufgeregt, dabei zuviel eingeschenkt, ist eingeschlafen – und schnell hat die Großmutter die Wurstfüllung wieder nach ihrem Rezept gemacht.“ Ja, geräuchert wurde regelmäßig – da der große Küchenherd mit Holz geheizt wurde.

Bon, trotzdem hat der Elsässer Landbub, der in Paris im Kabinett des Premierministers Politik machte, unter dem legendären Kulturminister Jacques Lang seine Sporen verdiente, nichts gegen die geschmacklich fein aufeinander abgestimmten Antipasti aus dem Hause Aki Nuredini in der Wiener Annagasse einzuwenden. Eine Kostprobe der neu eingetroffenen Lieferung seines Lieblingsweins, eines Marchese-di-Villamarina 2006 aus dem Hause Scella & Mosco belebt zwischen Direktionsbüro und dem Besuch im Haus der Musik, wo Christian Thielemann, der aktuell Wagners Ring dirigiert hat, mit Philharmonikerchef Clemens Hellsberg über das Leben mit / in / durch Musik diskutiert. „Ich bin glücklich hier in Wien, die Philharmoniker, in deren Klang ich seit 30 Jahren verliebt bin, haben mich adoptiert – und Aki auch.“ Meyer beschreibt die rauschende Fete im Sole nach Rheingold bis vier Uhr früh, schwärmt von der letzten Traviata, in der Natalie Dessay „sooo schön“ gesungen hat, und über die Begeisterung des Publikums nach den ersten beiden Vorstellungen des Balletts La Sylphide. Gar nicht so einfach, das Jetzt zu genießen, „wir sind immer der Zukunft verschrieben, 2014 und 2015 sind für uns morgen.“ Vergleicht seinen Planungsjob mit dem von Architekten, die auch nur über langfristige Projekte entscheiden.


Gegessen und gekocht muss täglich werden. Im Sole mag der Herr der Oper das schwarze Risotto sepia und die Pasta mit Pilzen am liebsten, aber en famille frequentiert er häufig das Café Stein: „Wir wohnen ja fast nebenan“. Liebt Altwiener Lokale wie den Plachutta bei der Oper, klar, als frühkindlich mit Tafelspitz Sozialisierter, außerdem: „Der Kaiserschmarren ist göttlich!“ Da Dominique Meyer vermutet, er sei „der einzige Franzose, der keinen Champagner mag, zieht’s den Liebhaber des „Pape Clément“, zum weißen Bordeaux des Traditionshauses und naturgemäß zu den Heurigen. „In Heiligenstadt hat er am Welser und am Zimmermann auch das Buffet zu schätzen gelernt. Wenn er nicht zu Hause kocht: „Nur einfache Sachen mit guten frischen Zutaten. Muss nicht drei Stunden am Herd stehen.“ Ab und zu tut er’s, um geschmortes Rindfleisch in Rotwein zu zelebrieren, ein geliebtes französisches Nationalgericht das im Norden Bœuf Bourguignon, im Süden Bœuf en Daube heißt, und mit dem jede Köchin, jeder Koch ein persönliches kleines Geheimnis hat. Laut Meyer sind die drei wahren Geheimnisse simpel: „Erstklassiges Fleisch, erstklassiger Wein, und im Rohr vergessen, bis man das Fleisch mit der Gabel teilen könnte.“ Zum südlichen Rezept fügt er Oliven, zum nördlichen Speck, Champignons und karamellisierte kleine Zwiebeln, „eine Heidenarbeit, aber sie lohnt. Eine halbe Orange in Scheiben ist meine persönliche Zugabe. Ja, und die selbst gemachten Nudeln“. Die reine Spielerei, freut sich der Freizeitkoch: Eier, Mehl, Salz und ein Tröpfchen Milch vermischen und in die Maschine füllen. Bei trockenem Teig kommen Nudeln so lang wie Spaghetti heraus, ist er flüssiger, werden sie kurz und klein. Nach einer Minute Sieden in kochendem Salzwasser legt er sie in eine Pfanne mit Butter – und alles ist gut.“

Manches vermisst er, was in Paris selbstverständlich war: frischen Fisch, frische Jakobsmuscheln. In Frankreich wird in der Nacht gefischt und am Morgen auf die Märkte geliefert. „Ach, das Carpaccio von Jakobsmuscheln, hauchdünne Scheiben, gutes Olivenöl mit dem Pinsel darauf verstrichen, bissl Schnittlauch und Pfeffer, im Kühlschrank ziehen lassen, ein Gedicht!“ Doch er gleicht höflich aus, zumindest hinsichtlich der Eierschwammerln. „Das Gute in Wien: Man kann sie selber aussuchen, und sie sind besser geputzt. In Paris hängt immer so viel Dreck dran … Dort wiederum hat aber jeder Bezirk seinen Wochenmarkt. Samstag hab ich Nicolas zur Schule gebracht und bin einkaufen gegangen. In Wien muss ich mich weiter weg bewegen.“ Klingt nicht aufgeregt, wird nur festgestellt. Konsequent und leise, wie Meyer die Staatsoper managt.

Sein Bruder Guy ist Intensivmediziner in einem Pariser Spital, managt täglich Leben und Tod: „Wenn er zu spät kommt, kann das ein Leben kosten. Er arbeitet sich wund – und ist dabei extrem bescheiden“, sagt der Ältere. „Wir sind Weltmeister, kleine Probleme zu großen aufzublasen. Mein Bruder hat mir sehr geholfen, Abstand davon zu nehmen.“ Umso eher, da er nun als Gartenarchitekt das Opernparadies beackert, das paradiesischste der Welt, wie Enthusiasten meinen. Wo es um seine große Liebe geht, die Musik, die Stimmen, die Klänge: „Wir arbeiten für die Freude, den Geist, die Seele, daran, dass unsere Zuschauer Emotionen erleben.“ Bei einer Arie, einem Konzert, lässt der 56-jährige Meyer seinen Gefühlen freien Lauf, mutiert zum Zuschauer: „Da kann ich meine Verantwortung schnell vergessen, spontan aufstehen, jubeln, mich entflammen lassen.“ Als Student trieb ihn seine Begeisterung zu nächtelangem Stehplatzkartenwarten. Sein „liebstes Laster“ sei Tonträger-Shopping, „schön rund“ die Balance zwischen Beruf und Privatleben, stark der Drive, gute Erinnerungen gegenwärtig umzusetzen: „Hab meinem Sohn viel Zeit gewidmet, geredet, Fußball und Rugby gespielt, wir sind spazieren gegangen, ins Theater und in Museen. In der Früh steh ich als Erster auf, um eine Stunde mit der Familie zu verbringen.“

Viel Arbeit, aber immer die Melodie einer harmonischen Kindheit im Kopf und ihren Geschmack in den Speisen auf seiner Zunge. Von Kümmel, den man im Elsass fürs Sauerkraut braucht. Von Nelken, ohne die Rotwein-Risotto nicht schmeckt. Von Zimt, den man mit Zucker auf Milchreis und Palatschinken streut. Nicht zuletzt von gebackenem Karpfen mit Pommes frites und Mayonnaise: „Im Bauerndorf früher aß man wirklich.“