Schweizer Reduktion

Dem Nikolaus sagte er statt eines Gedichts Salatsaucenrezepte auf, von der Oma kommen Kümmelideen, die Azteken steuern ein Gemüsegrab bei. Sven Wassmers alpine Küche speist sich aus eiskalten Bergquellen, fast vergessenen Zutaten und Kindheitserinnerungen.

Foto von Grand Resort Bad Ragaz
Text von Anna Burghardt
Sven Wassmer

Die Schweizer Version von „Oui Chef!“ klingt auffallend entspannt. Wenn Sven Wassmer in der offenen Küche des Memories die Bestellungen ansagt, etwa „vier Mal Kaviar“, kommt von der Crew unisono ein lang gezogenes „Jawoooooohl“. Gedämpft die Lautstärke, sonor der Klang. Ebenso entspannt wirkt der Koch, wenn er zu den Tischen der Gäste kommt, ob Stammgäste oder Neulinge. Wassmer wurde 1986 im Kanton Aargau geboren, seit 2018 ist er für die Restaurants Memories und das legere verve by sven im Grand Resort Bad Ragaz zuständig. Für seine alpine Küche, deren wohltuend schnörkelloses Auftreten den zubereitungstechnisch hohen Aufwand dahinter nicht vermuten ließe, wurde er mit zwei Michelinsternen ausgezeichnet. In seinen Menüs gibt Sven Wassmer fast verlorenen alpinen Zutaten und Traditionen eine Bühne, rückt sie ins Bewusstsein der Essenden.

Müsste man seine Denk- und Koch­weise anhand eines Gerichts beschreiben, wäre das eindeutig der „Saibling aus dem Val Lumnezia mit gebranntem Sennenrahm und Tanne“, den Wassmer auch als sein Signature-Gericht bezeichnet. „Der Saibling ist seit dem ersten Tag auf der Karte, und er wird auch in Zukunft immer ein Plätzchen dort finden. Weil er meine Philosophie einer alpinen Küche mit wenigen Zutaten perfekt auf den Teller bringt.“ Ein Stück Bergsaibling aus eiskaltem Wasser von 1.300 Metern Seehöhe wird mit Heu, getrockneten Tannenzapfen und -rinde leicht geräuchert. Dazu kommt eine Sauce aus karamellisiertem Obers, in der Schweiz Rahm oder Sahne genannt, mit Tannenöl, darauf werden wohldosiert junge Tannennadeln gestreut. Ein Gericht aus drei Zutaten, ein verblüffendes Zusammenspiel aus zart verbrannten (im besten Sinne), dunklen Tönen mit den adstringierend-ätherischen Noten des Nadelbaums, dem Schmelz des kaum gegarten Süßwasserfisches und dem Fett eines richtig guten Sennereiprodukts. Die Machart der Sauce: „Zuerst trennt sich die Sahne in karamellisierten Milchzucker, ,Grieben‘, das sind die winzigen Punkte da drin, und Fett. Das wird dann wieder mit Milch und Sahne glatt zu einer Sauce verbunden.“ Für Wassmer zeigt sich anhand dieses Gerichts, was sich in der Schweizer Spitzenküche, vor deren konservativer Eintönigkeit er einst nach London geflohen war, im Laufe der Jahre geändert habe: „Als ich mich vor sieben Jahren getraut habe, den Fisch so das erste Mal auf die Karte zu setzen – nur ein Stück Saibling auf dem Teller, die Sauce erst bei Tisch darübergegossen –, da war das noch was.“ Die Getränkebegleitung zum Saibling ist der Chardonnay Velabona vom Weingut Zündel aus dem Tessin oder, wenn es ­alkoholfrei sein soll, ein Elixier aus geräuchertem schwarzen Tee, Alpenkräutern, Kiefernnadeln, Quittenreduktion und etwas Salz. Sven Wassmers Saibling mit Rahm und Tanne ist ein Gericht, das optisch keinen Stockerlplatz belegt, aber sensationell funktioniert.

Die Optik scheint bei ihm überhaupt zweitrangig, was der Qualität seiner Küche nicht im mindesten Abbruch tut. „Je länger ich koche, desto mehr lasse ich weg.“ Für Instagram völlig ungeeignet ist etwa die langsam zur Fleischähnlichkeit gegarte Rote Rübe – Rande, wie Wassmer sagt – mit ihrer collagenklebrigen und erfreulich unsüßen Sauce aus Roter Rübe, Hühnerhaut und Johannisbeeröl sowie Knusperbröseln aus getrockneter Rübenschale und Hühnerhaut: Dank ihrer monochromen dunklen Tiefe entzieht sich die Struktur dieses Gangs jeder Kamera. Auch der Muskatkürbis mit Hanfnougat und Schweizer Garnelen ist keine Schönheit, dieses Gericht lebt rein von Haptik und Geschmack: Stücke von Muskatkürbis „von Marcels Feldern“ (Marcel Foffa ist einer seiner Stammlieferanten) werden in ein Kalziumbad eingelegt. Das verschafft dem Kürbisfleisch eine zweite Haut, die das Innere einschließt, damit es gleichsam ohne Reibungsverluste garen kann. „Das arbeitet die Struktur vom Muskatkürbis, dieses Fasrige, so gut heraus“, kommentiert Sven Wassmer diesen Aufwand. Der mitnichten auf Molekularküchentechnik beruht; vielmehr sei eine Gebirgskultur auf einem anderen Kontinent Urheber. „Diese Methode kommt von den Azteken, die haben Gemüse in der kalkreichen Erde verbuddelt und die Vorzüge erkannt.“ Der Kürbis wird mit gerösteten Hanfsamen abgeschmeckt, dazu kommen rohe Garnelen aus dem Rheinfeld, „jeden Tag frisch“, nur leicht abgeflämmt, und Hanfnougat. „Wir haben da einen ziemlich coolen kleinen Grinder. Umso länger es conchiert, desto besser homogenisiert es sich.“ Die Hanfsamen – „eine ­Mischung aus mit Schale und ohne, das gibt eine ganz andere Aromatik, sind wir draufgekommen, jedenfalls geröstet“ – werden durchgehend vier Tage gerührt. Und die Sauce dazu aus Muskatkürbis schmeckt Sven Wassmer „mit dem Quittensaft von der Oma“ ab.

Der Saft von der Oma ist nicht die einzige Reverenz an die Kindheit des Kochs, in der sich ­bereits viele Stunden zwischen Gemüsegarten und Küche abgespielt haben: Mit den Amuse-Bouches kommt ein knapp über daumen­nagelgroßes Sauerteigcroissant, gefüllt mit zu winzigen Falten drapiertem Lardo – „den machen wir selber vom Wollschwein“ – und Trüffelscheiben. „Unsere Version des Schinkengipfeli.“ Und auch mit seinen „Knöpfli“ knüpft Sven Wassmer Bande zur Hausmannskost seiner Jugend. „Die Knöpfli schwenken wir in gerösteter Hefebutter und löschen sie mit Käsewasser vom 96 Monate alten Greyerzer und Sbrinz, quasi dem Schweizer Parmesan, ab. Dazu kommen unbedingt echter Wiesenkümmel, je nach Jahreszeit getrocknet oder frisch, und Sommertrüffel oder Albatrüffel. – „Gut, da hört die Kindheitserinnerung auf.“ Warum Wassmer nicht geriebenen Käse, sondern Käsewasser einsetzt („Käse sous-vide garen, dann mixen, das Käseprotein bindet sich, verklumpt, dann lässt man das Wasser ab“), ist ein Beispiel dafür, dass er zu jedem Zeitpunkt des Menüs das körperliche Wohlbefinden der Gäste im Auge hat – er ist sich etwa des genauen Proteingehalts aller servierten Gänge bewusst. „Mit diesem Käsewasser fangen wir den ganzen Geschmack von Käse ein, aber nicht das total Schwere, das wäre ja hinderlich im Menü.“ Dass die spezielle ätherische Würze des Wiesenkümmels mit dem Aroma der Trüffeln eine bemerkenswert harmonische Liaison bildet, freut Sven Wassmer immer wieder aufs Neue. Die Idee mit dem Kümmel verdankt er ebenfalls seiner Oma: „Die hat immer gesagt, wenn etwas schwer ist“ – im Sinne von schwierig –, „gib Kümmel dazu. Uns hat bei den Knöpfli mit Trüffel etwas gefehlt, da ist mir das eingefallen, wir haben es mit dem Kümmel probiert, und wow! Wir waren hin und weg.“ Der Name des Memories im Grand Resort Bad Ragaz, eines luxuriösen, geschichtsträchtigen Fünf-Sterne-Hotels mit mehreren hauseigenen Michelinsternlokalen und Riesenspa, stehe schließlich auch dafür, „dass wir Erinnerungen aufgreifen und genauso neue Erinnerungen kreieren“. Manchmal sind solche Erinnerungen vom Küchenchef intendiert, manchmal schweben sie einfach so als Zusatzeffekt daher. Etwa bei der vier Tage gereiften und in Heu gebackenen Taube, die zunächst roh präsentiert wird und später samt ihrer mit Shio Koji gewürzten Haut, mit gehobelten rohen Maroni und Mandelnougat serviert wird: Über allem schwebt unaufdringlich ein leichter Heuduft, der an Kindheitsurlaubsnächte im Heuschober zu erinnern vermag.

Um eine andere Art von Erinnern geht es Sven Wassmer bei Zutaten wie dem Käse Sbrinz und alten Gemüse- oder Obstsorten. Dadurch, dass er solchen Protagonisten ihren Soloauftritt ermöglicht – dem Sbrinz etwa in einem Buchweizentartelett – , möchte er verhindern, dass sie verschüttgehen. Ein Beispiel ist der Gang „Oona-­Kaviar, ,Schlossere-Meerrettich‘ und Schnittlauch“. Der übrigens gleichzeitig ein Beispiel dafür ist, dass es durchaus sinnvoll und für die Gäste gewinnbringend sein kann, wenn der Service oder jemand aus dem Küchenteam bei Tisch ein paar Hintergrunddetails erklärt. „Wir wollen den Gästen ja auch die Seele der Produkte eröffnen.“ Der Kaviar stammt aus der Schweiz, von Sibirischen Stören, die zur Gänze verarbeitet werden. „Die Filets und andere Stücke werden gegessen, klar, aber sogar die Fischhaut wird nicht weggeworfen – aus ihr entsteht Leder.“ Für dieses Störleder werden die Häute in gefrorenem Zustand von der Fischzucht an eine Gerberei geliefert, die sie von Fleischresten säubert und in Eichenfässern drei Wochen lang pflanzlich gerbt. Eine Textil­designerin wiederum fertigt daraus Produkte wie Armbänder, Gürtel, Etuis. Der Kren indes, als schlichte Sauce mit Schnittlauchöl zum Kaviar serviert, sei die alte Sorte „Schlossere-Meerrettich“, die nur noch ein Bio-Familienbetrieb in Willisau in der Innerschweiz anbaue. Das Saatgut dafür stammt von der Schweizer Saatgutdatenbank ProSpecieRara, die sich wie die Arche Noah im niederösterreichischen Schiltern um die Erhaltung der Sortenvielfalt kümmert. Ob man bei Kren tatsächlich solche Unterschiede schmecke? „Ja, absolut!“, sagt Sven Wassmer, „der hat eine ganz andere Schärfe, ganz andere Noten, tiefe, blumige.“

Um kleinste Nuancen kümmert sich das Team des Memories auch bei der alkoholfreien ­Getränkebegleitung, die zu den allerbesten ihrer Art gezählt werden darf – solo wie auch in Kombination zu den jeweiligen Gängen. Vorangetrieben wurde sie von Sven Wassmers Frau Amanda Wassmer-Bulgin, einer gebürtigen Engländerin. Die Sommelière ist Weindirektorin des Quellenhofs, einem Teil des Grand Resorts Bad Ragaz, und absolviert die Ausbildung zum Master of Wine. Als sie mit ihrem Sohn schwanger war, äußerte sie eine Alternative zur Weinbegleitung als dringendes Anliegen. Heute wird im Memories Gerste geröstet und mit Thermalwasser und ­Zitronenzesten vakuumiert, bevor man sie mit Wasser und Zitronensaft aufgießt, Rosmarin wird geräuchert, um einem Heidelbeertonic Wärme zu verleihen. Bei einem Getränk aus Cassis- und Holundersaft fungiert Johannisbeerholz als Tanninlieferant, um dem Rotwein im Konkurrenzpairing um nichts nachzustehen. Als Partner für ein Dessert mit „Lagerrüebli“, Bergsanddorn und Wermut wird ein Drink serviert, für den man eine Infusion aus grünem Tee und Karottengrün mit einem gelben Karotten-Shrub und Sanddornsaft mischt. Mit seiner eleganten und ungewöhnlichen Viskosität vielleicht der Star der promillefreien Getränkebegleitung: eine Emulsion aus Kakaofruchtaufguss, Kakaobutter, Kirschen-Shrub und Kirschblüten.

Wichtiges Rückgrat für die Küche sowohl für flüssige als auch feste Kreationen ist die Vorratskühlkammer mit zahlreichen Würzsaucen und -pasten, sie ist auch so etwas wie ein Archiv der Experimente. Auf engem Raum lagern diverse Versuchs­ergebnisse des Teams, die sich zu einem guten Teil der Resteverwertung widmen: von Taubengarum über Kaffee­shoyu bis zu Amazakekaramell und Saiblingsgarum, alles mit Datum beschriftet. Auch frische Kiefern-, Zirben- und Tannenzweige lagern hier. „Manchmal braucht es über ein Jahr vom Versuch zur Produktion“, erklärt Sven Wassmer das Vorgehen beim Fermentieren, Ansetzen, Einlegen. „Wir fangen immer mit einer kleinen Menge an und schauen dann weiter.“ Das Haltbarmachen sei ebenfalls etwas, das er von seiner Oma mitbekommen habe. „Für sie war es selbstverständlich, Sauerkraut oder Joghurt selbst zu machen, Marmelade, Säfte, Kompotte einzukochen.“ Sven Wassmer war schon als kleiner Bub gern in der Küche, „ich wurde immer in meinen Spezialstuhl am Tisch verfrachtet, habe als kleiner Knirps Salatsaucen gemacht. Für jeden Salat ein anderes Dressing.“ Und er erinnert sich gut daran, wie es immer war, wenn der Nikolaus kam: „Ich habe nie ein Gedicht aufgesagt, sondern immer meine ganzen Salatsaucen bis ins kleinste Detail aufgezählt. Dann hat mich der Nikolaus gefragt ,Endivie, welches Dressing?‘, und ich habe geantwortet, so und so und so.“

Ein mehrjähriger Aufenthalt in London sollte sich als besonders prägend für den Koch herausstellen. Die Schweiz sei für ihn irgendwann nicht mehr interessant gewesen, erzählt Wassmer. Es herrschte französische Klassik. „Und man war modern, wenn man da noch was dazugegeben hat und da noch was und da noch was.“ Er habe gesehen, was er wollte, musste weg. „Ich musste mein Land verlassen, damit ich erkenne, was da ist“, sinniert Sven Wassmer rückblickend. In London heuerte er bei Nuno Mendes an. Dessen Einflüsse von überall seien beeindruckend gewesen, „südamerikanisch, japanisch, der Head Chef kam aus Mugaritz, wir waren Köche aus 20 Nationen. London war an Vielfalt nicht zu toppen.“ In all dieser explodierend bunten Vielfalt wurde Wassmer bewusst, welche stille Vielfalt in seiner Heimat schlummerte. Nenad Mlinarevic, den er von seiner Zeit bei Andreas Caminada kannte, ­holte ihn zurück in die Schweiz, wo die beiden die Eröffnung des focus im Park Hotel Vitznau am Vierwaldstättersee stemmten, Amanda Wassmer-Bulgin wurde Chefin des großen Weinkellers. Im 7132 Silver in Vals bekam Sven Wassmer erstmals die Chance, ein Restaurant aufzubauen und Küchenchef zu sein. Es folgten zwei Michelinsterne. Dann kam ein Anruf vom Direktor des Quellenhofs im Grand Resort Bad Ragaz, die zwei Lokale des Hauses aufzubauen. „Zuerst habe ich mich gefragt, schaffe ich das? Dann habe ich erkannt: Das ist wie ein Lottosechser. Ich konnte alles mitgestalten. Das Memories war ein weißes Blatt.“ —

Sven Wassmer Memories; Grand Resort Bad Ragaz
Bernhard-Simon-Strasse, 7310 Bad Ragaz, T +41/81/303 27 34, memories.ch, svenwassmer.com

Seit dem ersten Tag auf der Karte: Das Signature Dish „Saibling aus dem Val Lumnezia mit gebranntem Sennenrahm und Tanne“ bringt Sven Wassmers Philosophie einer alpinen Küche mit wenigen Zutaten auf den Punkt. Drei Protagonisten, maximaler Geschmack.
Im Restaurant Memories im Grand Resort Bad Ragaz kocht das Team rund um Sven Wassmer in einer großzügigen, offenen Küche. Die Stimmung:locker. Seinen Gästen möchte er „die Seele der Produkte eröffnen“.
Felchen, Sauerampfer & Albeli-Kaviar
Der Sommelière Amanda Wassmer-Bulgin ist auch die alkoholfreie Getränkebegleitung sehr wichtig. Hinter Drinks wie einer Emulsion aus Kakaofruchtaufguss, Kakaobutter, Kirschen-Shrub und Kirschblüten steckt ein hoher Aufwand.
Geröstetes Kirschstein-Eis, fermentierte Kirschenmarmelade & Kaffeewürze