Senf ist auf Sieben
Augen und Ohren, Nase und Zunge, Gaumen und Hände: Die Gastronomie versucht sie alle einzubinden. Was aber, wenn die Anstrengungen in der Küche ins Leere laufen? Was, wenn ein Sinn fehlt?
Senf ist auf Sieben
Text von Anna Burghardt Fotos: Alexi Pelekanos
Herr Fink durchtrennt das Huhn auf dem Schneidbrett mit präzisen, kräftigen Schnitten. Er nimmt die Teile, schlichtet sie in eine Auflaufform und bettet die geschälten Knoblauchzehen darauf, ebenso die vorbereiteten Erdäpfelscheiben. Nun fehlen noch Salz und Olivenöl. Das Salz ist schnell zur Hand, der Griff nach der Ölflasche allerdings geht ins Leere. Herr Fink murmelt etwas, seine Hand fährt knapp über der Arbeitsfläche suchend umher. Rechts neben dem Mixer wird er fündig. "Das ist eines der Hauptprobleme beim Kochen", erklärt er, "man stellt zwar alles immer an denselben Ort, wenn man aber versehentlich etwas verschiebt, so wie ich gerade mit der Auflaufform, muss man tasten. Und dann kann es schon einmal passieren, dass man etwas umstößt, letztens war es zum Beispiel Heidelbeersirup. Das war vielleicht was!"
Bei Herrn Fink essen die Augen nicht mit, er ist seit einigen Jahren vollblind. Und hat dennoch nicht aufgehört zu kochen. Bis vor kurzem hatte er sogar eine Nudelmaschine in Betrieb. In seiner Küche helfen ihm Geräte wie der Multizerkleinerer, der für Zwiebeln wirklich praktisch sei, oder die sprechende Waage. Seine Messer legt er zum Abwaschen immer hinter den aufgestellten Schneidbrettern an der Wand bereit, um sich nicht bei einem falschen Griff zu schneiden. Die verschiedenen Essigsorten in seinem Küchenkasten erkennt er an der Flaschenform, bei Marmeladegläsern hilft ihm ein elektronischer Chip, den man besprechen und abhören kann. Herr Fink hat immer gern gegessen und gekocht, auch für größere Runden, und zwar alles außer Hülsenfrüchten. Er könnte sich stundenlang über "diese schreckliche Amerikanisierung des Essens" auslassen oder auch ebenso lang von der Schokomoussetorte der Konditorei Oberlaa schwärmen. Ihm fehlt zwar ein Sinn, der gern als unverzichtbar für den vollkommenen Genuss eines Gerichts bezeichnet wird, eingeschränkt fühle er sich als Gourmet aber eigentlich wenig. Eines kann Herrn Fink aber die Freude am Essen vergällen: Wenn selbstverliebte Köche glauben, sie müssten eher dekorieren als kochen, eher expressionistische Saucenmalereien vollbringen, als auf die Qualität der Saucen zu achten, oder wenn sie sich für Bildhauer halten, die glauben, aufgetürmte Kunstwerke schaffen zu müssen.
An den aktuellen Auftürmungen scheitert auch Susanne Buchner-Sabathy, vor etwa fünf Jahren zur Gänze erblindet. Es spielt allerdings eine Rolle, ob der Unterbau ins Rollen geraten kann oder nicht, Pürees etwa sind da nicht so gefährlich, sagt sie. Für manche Sehende wird der Trend, alles zu einem hohen Zylinder in der Tellermitte zu schlichten und mit diversen krossen Elementen zu "toppen" (ein Ausdruck aus vornehmlich deutschen Kochbüchern und -zeitschriften), als Ausweis künstlerischer Ambitionen wohlwollend aufgenommen. Anderen Gourmets wiederum stößt diese Praxis, die oft vordergründige Exklusivität vorgaukelt, eher auf Widerwillen. An den Bedürfnissen blinder Esser gehen die Auftürmungen jedenfalls weit vorbei. Ideal ist es, so Frau Buchner-Sabathy, wenn alles nebeneinander auf dem Teller liegt und ihr die Kellner oder die Begleiter mittels der Ziffernblattmethode das Gericht beschreiben: "Fleisch ist zwischen sechs und neun, Ratatouille auf drei." Wenn sie weiß, was sie vor sich hat, komponiert sie ihre Bissen wie auch früher, als sie noch ein wenig gesehen hat. Schwieriger wird es, wenn Blinde ohne Begleitung essen gehen. Sie wissen zwar ungefähr, was sie bekommen, aber nicht, wie es angerichtet ist. Der Teller muss mit dem Besteck erforscht werden, Gemüse, Püree oder Fleisch müssen mit Messer und Gabel ertastet werden. Als einmaliges Experiment kann das für Sehende beim "Blind Dinner" amüsant sein, wo die latente Gefahr des Scheiterns am komponierten Gericht auch erlebnisübersättigten Gourmets noch einen gewissen Kick gibt. Für Blinde ist die Arbeit am Teller aber immer mit einem gewissermaßen ernsten Risiko verbunden. Sie können sich verschätzen beim Abschneiden eines Stücks Fleisch, dessen Größe dann beim Kauen unangenehm wird, sie können Saucen verspritzen, die leere Gabel zum Mund führen oder das Messer verkehrt herum halten und vergebens zu schneiden versuchen. "Man darf nicht vergessen, dass Blinde und ihre Missgeschicke beim Essen immer gesehen werden, die kurzfristig Erblindeten beim "Dinner im Dunkeln" oder "Blind Dinner" jedoch von den anderen nicht gesehen werden können", erinnert Susanne Buchner-Sabathy.
Der Sehsinn als die primäre Kontrollinstanz (was ich auf dem Teller habe, ob es genießbar aussieht etc.) untergräbt im Alltag die Kompetenz der anderen Sinne, was bei Mahlzeiten in abgedunkelten Lokalen deutlich wird. Ohne den Sehsinn fühlt man sich solcherorts amputiert und hilflos. Dabei könne man doch, wie Erich Schmid sagt – er ist von Geburt an vollblind –, viel besser in das Essen hineinhorchen, wenn die Augen nicht mitessen. Kein Wunder, Geschmacks- und Geruchssinn werden schließlich als Nahsinne bezeichnet, der Sehsinn hingegen als Fernsinn. Und sensorisch näher am Essen ist man vermutlich mit den Nahsinnen. Erich Schmid gibt auch zu bedenken, dass das Äußere zwar die Freude am Essen erhöhen kann, nicht aber über die Qualität der Speisen hinwegtäuschen darf. Der Sehsinn hat zwar große Bedeutung für das Entschlüsseln von Speisen, ist aber ohnedies nicht so allmächtig, wie man glauben könnte. Köche wie Ferran Adrià wissen das aufzuzeigen. Für ihn ist die Strategie der Augentäuschung ein ganz wesentlicher Bestandteil der konzeptionellen Arbeit. Wenn das, was man auf dem Teller hat, zwar wie Couscous aussieht, aber in Wirklichkeit abgerebelte Minimaiskörner sind oder der Kaviar sich als mittels Stickstoff "sphärisierter" Melonensaft entpuppt, hat der Sehsinn des Gastes als Informationsvermittler ans Gehirn versagt, was den Koch als Urheber der Täuschung allerdings freuen wird. Fast könnte man Adrià und Co. erzieherische Absichten in Sachen Augenkompetenz unterstellen, nebenbei sei jedenfalls an die Institution der Vorkoster erinnert, die ihren Dienst taten, als man den Augen noch misstraute; dies vielleicht allerdings in der falschen Epoche, schließlich ist die Nahrungsmitteltechnologie heute mehr denn je in der Lage, die Schutz- und Ordnungsfunktion des Sehsinns zu unterwandern und den Geschmackssinn der Konsumenten zu täuschen, man denke etwa an knallrote, aber völlig geschmacklose Erdbeeren.
Dem Schriftsteller Walter Kohl sind solche Turbo-Nahrungsmittel relativ egal. Er sieht zwar, was er isst, wenn etwas aber nicht so schmeckt, wie es aussieht, merkt er es nicht. Bei einem Unfall hat er seinen Geruchssinn verloren, was bedeutet, dass er zwar die Grundgeschmäcke wahrnehmen kann, also etwa süß oder bitter, aber nicht das Aroma eines Lebensmittels. Erdbeeren entpuppen sich in seinem Mund zwar als süß, könnten aber genauso gut wie Bananen schmecken, er würde es nicht merken. Er hat also die Erfahrung gemacht, dass das, was wir gemeinhin als Geschmack bezeichnen, in Wirklichkeit immer eine Kombination von Geruch und Geschmack ist. Für Walter Kohl war Essen jahrelang eine langweilige Pflichtübung, erst in letzter Zeit versucht er, daraus wieder einen Lustbereich zu machen. Attraktiv werden Mahlzeiten dann, wenn mit einer Speise eine schöne Erinnerung zusammenhängt, wenn ihn etwa eine Leberkäsesemmel an die Samstagvormittage seiner Kindheit erinnert, an denen sich die ganze Familie am Küchentisch versammelte und alle die krachend frischen Semmeln und den dampfenden Leberkäse direkt aus dem Papier aßen. Auf der Suche nach sensorischen Erlebnissen beim Essen, die den fehlenden Geruchssinn kompensieren, sind die Reize, die man aus Farben und Haptik beziehen kann, naheliegend: Ein gutes Wiener Schnitzel aus dünnem, saftigem Fleisch mit sehr krosser Panier könne ihn ebenso wie Reis mit farblich reizvollem Gemüse doch ein wenig befriedigen. Walter Kohl fühlt sich manchmal wie in Watte gepackt. Man könne als Riechender gar nicht erahnen, in wie viele Lebensbereiche der Geruchssinn Einfluss hat, sagt er. Aus der Watte herausholen können ihn Gegrilltes, sind doch Röstaromen für ihn gut wahrnehmbar, und – leider, so Kohl – Fast-Food-Buden. Einerseits sind dort Burger und Co. auf Leuchttafeln optisch ansprechend präsentiert, andererseits dürfte die Technologie der Geschmacksverstärker erstaunlich weit fortgeschritten sein, denn selbst er schmecke dort etwas.
Für ihn machen Auftürmungen und Tellermalereien wieder Sinn. Je reizvoller etwas präsentiert wird, desto mehr spricht es ihn an. Der zurzeit grassierende Schwerpunkt auf Haptik-Kontraste ist für Esser wie Walter Kohl, denen wiederum ein anderer Sinn fehlt als Blinden, ein Segen. Das Spiel mit Elementen unterschiedlicher Textur, Temperatur und Aggregatzustand, wie es derzeit mit den diversen krossen Dekorationen, den allgegenwärtigen Sorbets und den "Schäumchen von" praktiziert wird, kommt bei ihm naturgemäß gut an. Bei ihm isst auch das Ohr mit, das Krachen einer Kruste nimmt er vermutlich stärker wahr als andere. Wem ein Sinn fehlt, der horcht in das Essen eben oft anders hinein als die, die alle Sinne beieinander haben.