Stern des Südens

In Italien ist die Spitzengastronomie in der Regel im wirtschaftlich besser aufgestellten Norden des Landes beheimatet. Doch ausgerechnet das innovativste und derzeit wohl einflussreichste unter den italienischen Restaurants liegt in einem abgeschiedenen Dorf in den Abruzzen im Süden Italiens.

Aus der Freude über den im Jahr 2013 erhaltenen dritten Michelin-Stern macht Niko Romito bis heute keinen Hehl. „Bis dahin dachten viele, dass es wohl nie ein Dreisternerestaurant in Süditalien geben werde, aber das war wohl ein Irrtum“, sagt der Koch und Wirt zufrieden lächelnd. Tatsächlich liegen von den acht weiteren italienischen Dreisternern sechs in den nördlichen Regionen Venetien, Lombardei und Piemont, eines in der Toskana und das südlichste in der Hauptstadt Rom. Generell ist es in Italien so, dass umso weiter südlich man kommt, desto mehr sich das Netz an Sterne-lokalen ausdünnt. Weswegen es in der Spitzengastronomie genau wie in vielen anderen Bereichen des Landes Spannungen gibt zwischen dem sich vernachlässigt fühlenden Süden und dem angeblich bevorzugten Norden.

Dabei geht es um einen althergebrachten Konflikt zwischen vermeintlicher nördlicher Arroganz und meridionalem Minderwertigkeitsgefühl, auf den auch Romito selbst anspielt, wenn er erzählt, dass bisher kein einziger seiner mit drei Sternen bedachten Landsleute jemals bei ihm Essen gewesen sei. Während er selbst gemeinsam mit seiner Schwester und Geschäftspartnerin Cristiana bereits sämtliche von ihnen besucht habe – von Heinz Becks La Pergola in Rom über Massimo Botturas Osteria Francescana in Modena bis hin zu Norbert Niederkoflers Sankt Hubertus in Alta Badia.

Dazu ist aber auch zu sagen, dass es alles andere als ­einfach ist, das Bergdorf Castel di Sangro in den Abruzzen zu erreichen, in dem Romitos Restaurant Reale liegt. Vom nordwestlich gelegenen Rom braucht man über zwei Autostunden, vom südlicheren Neapel fast ebenso lang. Wobei die Fahrt zumindest streckenweise über steile und kurvige Bergstraßen führt, die im Winter und bei Schneefall nicht selten unpassierbar und geschlossen sind. Die Ortschaft liegt umgeben von hohen Bergen und weitgehend unberührt wirkender Natur am Eingang eines Nationalparks, den Bären und Wölfe bewohnen.

Auf 800 Metern Seehöhe und hoch über dem Dorf thront das ehemalige Kloster aus dem 16. Jahrhundert, in dem seit 2011 Romitos Restaurant Reale sowie die Kochschule Niko Romito Formazione und das angeschlossene Hotel Casadonna Reale untergebracht sind. Das Hotel ist in schlichtem, aber elegantem Design gehalten, mit großzügigen Zimmern, offenen Kaminen und Dampfbädern, weitgehend unverputzten Steinmauern und sichtbaren Holzbalken. Das Ganze auf einem Grundstück von sechs Hektar, umgeben von Kräuter- und Gemüsegärten sowie einem Weinberg, der mit Pecorino bepflanzt ist. Wobei es sich in diesem Fall um keinen Käse, sondern eine lokale Rebsorte handelt, die besonders gut angepasst ist an die Höhe und das harsche Klima der Umgebung.

„Ursprünglich habe ich Wirtschaft studiert und stand kurz vor dem Abschluss, als unser Vater plötzlich schwer erkrankte und Cristiana und mir nichts anderes übrig blieb, als die Trattoria zumindest vor­übergehend weiterzuführen, bis wir einen Käufer finden würden“, erzählt Romito. Doch nach dem Tod des Vaters kamen die beiden Geschwister auf den Geschmack und beschlossen, sich weiterhin dem Gastgewerbe zu widmen, dabei jedoch die Qualität des Angebotenen etwas höherzuschrauben. Dafür gab es im Jahr 2007 dann den ersten Michelin-Stern. „Wir wussten gar nicht, was genau das zu bedeuten hatte, weil wir ja beide keinerlei gastronomische Ausbildung hatten und damals das einzige Sternerestaurant in den Abruzzen waren“, fährt der Autodidakt fort. „Gleichzeitig sagte man uns, dass wir niemals einen zweiten Stern bekommen würden, weil das Lokal zu klein sei.“ Doch bereits zwei Jahre später war es so weit, und man beschloss, in das zu der Zeit völlig verfallene Kloster zu ziehen, wo es schließlich im Jahr 2013 die Höchstwertung von drei Sternen gab.

In der Zwischenzeit hatte der 1974 geborene Romito etliche Bücher gelesen, zahlreiche Kochkurse belegt und einige Lehrgänge in prestigereichen Restaurants absolviert, darunter auch bei den Roca-Brüdern im El Celler de Can Roca im spanischen Girona. Heute zählt der zurückhaltende, bisweilen sogar schüchtern wirkende Süditaliener mit äußerst geringen Englischkenntnissen zu den einflussreichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Köchen seines Landes. In den beiden Großstädten Rom und Mailand eröffnete er jeweils ein Lokal namens Spazio Niko Romito, das von Abgängern aus seiner Kochschule geleitet und bespielt wird.

„Das Spazio ist nicht nur ein Restaurant, in dem man eine modernere, leichtere und überarbeitete Version der italienischen Hausmannskost serviert bekommt, sondern auch ein Café mit angeschlossenem Laden, in dem man frühstücken oder jausnen oder einfach nur frisches Brot und Bäckereien kaufen kann“, erklärt Romito das Konzept, mit dem bis 2025 sechs weitere Lokale eröffnet werden sollen. Wobei die Gerichte dafür im Laboratorium im Stammhaus entwickelt und an die lokalen Bedingungen der jeweiligen Ableger angepasst werden.

Zudem hat der Koch einen Vertrag mit der Luxusfirma Bulgari abgeschlossen und wird noch in diesem Jahr drei Restaurants in deren Hotels in Dubai, Peking und Schang­hai eröffnen, die gleichfalls auf dem ­System der Spazio-Lokale beruhen und die stark innovative und dennoch durch und durch italienische Küche Romitos in die Welt hinaustragen sollen.

Da alle Gerichte im Mutterschiff in den Abruzzen erdacht, entwickelt und getestet werden, muss, wer wirklich begreifen will, worauf der sensationelle Aufstieg und durchschlagende Erfolg des selbsterlernten Kochs beruht, auch die Anreise dahin in Kauf nehmen, um seine Kochkunst in ihrem vollen Ausmaß zu erleben. Das sieht auch Romito selbst so: ­„Meine Küche ist nicht unbedingt visuell sehr anspruchsvoll“, betont er, „man muss sie schon kosten, um zu erkennen, wie viel Arbeit und Bemühen darin stecken. Wer nicht ins Casadonna kommt, kann das nicht unbedingt begreifen.“

In der Tat haben die dort servierten Gerichte wenig mit Effekthascherei zu tun und sind auch nicht ausgesprochen instagramfreundlich. Was sich sehr deutlich bei einer Karfiolrose zeigt, die völlig puristisch und mutterseelenallein auf einem Teller liegend daherkommt – in der aber ­eine unglaubliche Menge Arbeit steckt. „Der Karfiol wird gedämpft und zehn Tage in einer Essenz aus Karfiol eingelegt, die seinen Geschmack verstärkt. In Folge wird die Essenz reduziert, und es entsteht eine Art Glace aus hundert Prozent Karfiol. Ein Teil des Gemüses wird gewürfelt und in Kakaobutter angebraten, daraus machen wir eine Paste, die mit Senfkörnern und Lorbeer-Destillat vermischt wird. Schließlich wird der Karfiol im Rohr erhitzt, kurz in einer Metallbox geräuchert und mit ­Olivenöl beträufelt“, erklärt Romito den Vorgang.

Das Ergebnis ist kaum zu überbieten an Wucht und Intensität. Schon beim ersten Bissen überkommt einen das Gefühl, man habe noch nie zuvor den Geschmack von Karfiol in seiner ganzen Kraft erlebt. Und dazu eine Konsistenz, die saftig und knackig zugleich ist und sich jener von rohem Karfiol annähert, nur um eine entscheidende Spur zarter und schmeichelnder.

Völlig umwerfend auch die Mandel-Tortellini in Pilz-Consommé. „Ausgangspunkt ist eine Mandelpaste, die ich auch für weitere Gerichte verwende. Weil mich die Mandel generell begeistert, wollte ich eine Zubereitung finden, bei der sie im Mittelpunkt steht. Also habe ich sie in Teig gehüllt und Tortellini damit gemacht“, erzählt der Küchenchef. „In die Pilz-Consommé habe ich Thymian, Majoran und Zwiebel ­getan, sie danach über geräucherten Schwarztee ge­zogen, um ihr einen Hauch von Rauchnoten zu verpassen, und dann durch eine Leinentuch gefiltert. Schließlich kommt noch ein Infusion aus getrockneten Steinpilzen in die Consommé.“

Auf den ersten Blick könnte das Gericht in jeder besseren Trattoria serviert werden, entpuppt sich dann aber als Geschmackserlebnis der besonderen Art mit intensiven Noten von Wald, hervorgehoben durch die feinen Rauchtöne und ausbalanciert durch die zarte Süße der Mandel. Und das Ganze ohne ein Gramm zugesetztes Fett.

Alles in allem eine gleichsam unspektakuläre wie technisch äußerst elaborierte Küche, deren großer, bisweilen gewaltiger Aufwand einzig und allein im Dienste des Geschmacks sowie der Bekömmlichkeit steht; die sich optisch und in ihrem innersten Wesen stark an die traditionelle und einfache italienischen Küche anlehnt und wie diese das Produkt in den Vordergrund stellt, es allerdings durch intensive Beschäftigung damit und dank moderner Techniken völlig neu zusammensetzt und aus ungewohnten Blickwinkeln beleuchtet.

Sein Streben nach Leichtigkeit und Bekömmlichkeit hat Romito auch dazu gebracht, gemeinsam mit der Universität Rom ein Konzept für Spi­talsküchen zu entwickeln, das sich Intelligenza Nu­trizionale nennt und bereits in zwei Spitälern in Rom angewendet wird. „Ich habe schon immer nach einer Möglichkeit gesucht, meiner Arbeit mehr Impact zu verleihen, ein größeres Publikum zu erreichen, daran mitzuarbeiten, die Ernährung möglichst vieler Menschen zu verbessern“, sagt der Koch.

Für die Entwicklung einer tunlichst gesunden und nährstoffreichen Spitalskost habe er seine Persönlichkeit total zurücknehmen und sein Ego in gewisser Weise ausschalten müssen, um eine weitestmögliche Reproduzierbarkeit zu erreichen. „Man muss sich das ein wenig vorstellen wie bei der Formel 1“, sagt er, „dort werden ja auch Systeme erforscht und angewendet, die früher oder später in normalen Autos zum Einsatz kommen, wie beispielsweise das Antiblockiersystem für die Bremsen.“

In wenigen Jahren ist es den Romito-Geschwistern also gelungen, aus einem Land­gasthof in einem abgelegenen Winkel Süd­italiens ein Zentrum für die Erforschung einer Neuinterpretation der italienischen Küche zu machen. Dank ihrer Ableger ist diese gerade dabei, nach ganz Italien, in den Mittleren und Fernen Osten und sogar in die Kantinen von Krankenhäusern auszustrahlen. Lange sollte es also wohl nicht mehr dauern, bis auch die Kollegen aus dem Norden erkennen, dass sie gut beraten wären, selbst einmal in den Abruzzen vorbeizuschauen.

Piana Santa Liberata, 67031 Castel di Sangro (AQ)
Tel.: +39/0864/693 82
www.nikoromito.com

Spazio Niko Romito Roma
9/E, Piazza Giuseppe Verdi, 00198 Roma (RM)
Tel.: +39/0685/35 25 23
www.spazionikoromito.com

Spazio Niko Romito Milano
c/o 4° piano Mercato del Duomo – Galleria Vittorio Emanuele II 20121 Milano (MI)
Tel.: +39/02 87 84 00
www.nikoromitoformazione.it