In memoriam Der große Gerer

Reinhard Gerer (1953–2023), die österreichische Kochlegende, ist nicht mehr.

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Am 12. April hätte er seinen 70. Geburtstag gefeiert. Aber am Ende kam es ganz anders, und es ist sehr schnell gegangen. Reinhard Gerer hat gegen seinen zunehmend schlechter werdenden gesundheitlichen Zustand kein Rezept gefunden. Er ist am 5. April verstorben.

Reinhard Gerer war DER Koch in Österreich. Er hat der österreichischen Küche ihre heutige zeitgemäße Fassung gegeben. Reinhard Gerer hat in den 80er-Jahren die sogenannte Hausmannskost mit der damals entstandenen Nouvelle Cuisine verknüpft. Er hat das Beuschel mit dem Steinbutt auf eine Stufe gestellt. Heute ist das selbst­verständlich, damals war es eine Revolution. Reinhard Gerer hat herausragende zeitge­mäße Regionalküche zu einer Zeit praktiziert, als der Begriff noch gar nicht erfunden war.

Er hat der österreichischen Küche ein Herz gegeben. Das Erdäpfelpüree bekam bei ihm Kren, die Flusskrebse landeten in der Gabelbisssulz, der Paradeisersaft war plötzlich weiß und klar. Die Kalbsstelze im Korso war wie von einer anderen Welt, in jedem Fall nicht wie die im Wiener Prater. Im Prater, Ende der 60er-Jahre, startete tatsächlich die Karriere des großen österreichischen Küchenchefs. Die Wieselburger Bier­insel war der Ort für seine Küchenlehre. Von dort ging es zügig voran. 1973 startete ­Werner Matt im Hotel Hilton den Nouvelle-­Cuisine-Tempel Prinz Eugen, und Reinhard Gerer war in der Küchenbrigade. Von dort ging es weiter zu den Größen seiner Zeit. Er arbei­-tete in München bei Eckart Witzigmann und Heinz Winkler, hatte auch eine Zeit bei Paul Bocuse in Lyon. Die erste Küchenchefposition war 1979 im Le Pialée in der Wiener Paniglgasse; das Lokal kennen nur Eingeweihte, es war wegen eines Brands nur kurz im Betrieb. Länger währte das Engagement im Mattes, einem von Architekt Wilhelm Holzbauer initiierten Restaurant in der Wiener Schönlaterngasse.

1984 startete dann das Restaurant Korso im Hotel Bristol bei der Oper an der Wiener Ringstraße. Für einige Jahre galt das Korso als das beste Restaurant Österreichs. Reinhard Gerer war stets ein Wunderkind, verbarg dabei nie seine Herkunft aus der Zeltweger Provinz. Das steirische zart bellend-melodiöse Idiom legte er nie ganz ab. Die Lehrzeit im Prater prägte den Buben vom Land. Schon kleine Lehrbubenvergehen wurden mit Hasen-Abziehen oder Unmengen von zu klopfenden Schnitzeln geahndet. Der überlebensnotwendige Großstadtschmäh kam so irgendwann fast von selbst und war ein essenzieller Bestandteil von Gerers Talent zur bunten Selbstdarstellung.

Es war die bestechende goscherte Fröhlichkeit nach steirischer Art, die Lässigkeit des Könners, um nur ja keine Anstrengung als Arbeit aussehen zu lassen. Da war auch kein Zwang für besondere Originalität oder bestechende Optik. Pinzetten waren damals nur zum Zupfen der Fischgräten da. Die Teller befanden sich bezüglich Anrichtekunst manchmal eher auf der schlichten Seite des möglichen Leistungsspektrums. Dafür war alles Essenzielle (und niemals sinnlos viele Zutaten) auf dem Teller. Gerer hatte den direkten Zug zum Wesentlichen, hätte niemals einen Gang unentschlossen in drei Teilen serviert.

Reinhard Gerer war kein Chefkoch, der sich die schöne weiße Jacke fleckenfrei hielt. Nur durch Restaurant und Küche zu gehen, zu kosten und zu dirigieren, war ihm zu wenig. Lieber brachte er spontane Ideen persönlich zur Welt.

Reinhard Gerer war allen kulinarischen Entwicklungen gegenüber offen, pflegte aber mit Eigensinn seinen eigenen Trip. So nach dem Motto „alles ist möglich, muss aber deswegen nicht gut sein“. Auch das Neue an sich war ihm nicht unbedingt von großem Wert. So war dann für eine Zeit die Eierspeise ein Fixpunkt im Korso-Menü, und das scheinbar frugale Gericht betörte die Gäste mit einer saftig-schlutzigen Eleganz wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte.
Nicht auszudenken, was alles möglich gewesen wäre, wenn Reinhard Gerer seine innere Barriere überwunden hätte und öfters in andere Länder gereist wäre, um sich dort Anregungen zu holen. Spitzengastronomie war zu dieser Zeit ein geriatrisches Vergnügen, mit dem jungen Steirer kam Leben ins Haus. Durch Reinhard Gerer hatte der Schmäh im Gourmettempel kein Hausverbot mehr. Die Herren im Korso-Service, damals noch im Frack, waren locker und motiviert wie nie.

In der unfassbar engen und verbauten Küche des Korso standen die Köche unter Hochspannung, taten alles für das vom Chef ausgegebene Ziel. Kein anderer Küchenchef hatte so viele Köche bei sich arbeiten, die allesamt in Folge eine eigene Karriere schafften. Die personellen Bewegungen in der Küchenbrigade nervten Reinhard Gerer mitunter gewaltig. Es waren nicht die Schlechtesten, die da über die Jahre kamen und gingen. Ein Best-of der sogenannten Gerer-Schüler ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Andreas Wojta, Alexander Fankhauser, Harald Brunner, Alois Mattersberger, Martina Willmann, Dieter Koschina, Christian Rach, Christian Domschitz, Bernie Rieder, Roland Essl, Toni Mörwald (keiner hatte Gerers Handschrift beim Schreiben der Menükarte so gut drauf wie er), Karl Malafa, Michael Köberl, Josef Hohensinn, Markus Höller, Daniel Kellner, Alexander Kumptner …

Reinhard Gerer hat niemals den Status eines Starkochs angestrebt. Er war es einfach, sozusagen von Natur aus. Die Rolle einer kochenden Medienfigur war im Österreich der damaligen Zeit ganz neu. Kein anderer Koch erschien derartig oft in den Gesellschaftsspalten. Ein fröhlicher Prediger des guten Geschmacks, stets im Dienst der gut schmeckenden Sache. Damit änderte sich auch das Bild der Spitzengastronomie in der Öffentlichkeit. Gerer kochte in Funk und Fernsehen, in Büchern und in der Krone und gerne auch in der Werbung. Das Geld hielt die innere Herdflamme am Lodern, war der Treibstoff für die nächtlichen Umzüge mit der an­hänglichen Fanbase, die sicher war: Im Zweifel zahlt der Gerer. Die intensive Partynummer ergab auf Dauer auch gewisse Formschwankungen. Regelmäßig folgten aufregende Erneuerungsphasen.

Der Korso-Stern strahlte nicht ewig. 2008, nachdem alle denkbaren Preise und Ehrungen serienweise verliehen waren, zogen massive Wolken am Karrierehimmel auf. Letztendlich hatte der Hotelkonzern für die Allüren seines Küchenchefs kein Verständnis mehr. Wolfram Siebeck, der über jeden Zweifel erhabene Chronist der damaligen Geschmackswelt, stellte ihn auf eine Stufe mit den großen französischen Küchenmeistern, war aber auch sehr bestürzt über die späteren Entwicklungen: „Ein Gerer gehört nicht in ein Wirtshaus.“ Allen in den Jahren darauf folgenden Projekten, etwa dem Magdalenenhof am Bisamberg oder dem O in der Innenstadt, war kein Erfolg beschieden. Die Erwähnung manch anderer Geschäftsideen beschädigt nur den Rückblick auf eine glanzvolle Karriere.

Der guten Erinnerung dienen Reinhard Gerers Kochbücher. Ein Nachlass mit Gerichten von beeindruckender, zeitloser Geschmackssicherheit. Da ist sein Erstling Große Küche aus Österreich mit Werner Meisinger als Protokollführer. Da sind Feine Küche für zwei und Der große Gerer, bei deren Entstehung der Autor dieser Zeilen Hand anlegen durfte. Die Rezepte wurden damals noch mündlich weitergegeben – ein Gerer und eine Schreibtastatur blieben sich ewig fremd.

Bleibt zu hoffen, dass der auflagenmäßig erfolgreichste Kochbuchtitel auch programmatisch bis in alle Ewigkeit in unserer Erinnerung wirken möge: „Der große Gerer“.

Christian Grünwald