Über das Universum der Genüsse

Lebensessen. Franz „André“ Heller ist 66. Da kommt schon was z’samm. Vom Internatsfraß über Packerlsuppen bis zum Zwetschkenkuchen von Omi Lotte. Vom ersten selbstgekauften Gulasch bis zum Sitzen-Reden-Naschen mit den Nächsten über einen ganzen Tag.

Text von Ro Raftl · Fotos von Philipp Horak

Alles friedlich. Worte tropfen lassen, Tee trinken. Wärmt den Magen und die Seele. Rooibos Orange, Nr. 9049 (von Schönbichler). Am späten Mittag, in André Hellers Wohnmuseum im Palais Windisch-Graetz in Wien I. Meditative Stille bei heruntergelassenen Jalousien, so dass die Kunst an den Wänden, Picasso, Warhol, Miró, Baselitz, Nitsch, Pongratz und mehr als Kulisse zurücktritt, allein der lächelnde Buddha aus Kambodscha an dunkelgoldener Kontur gewinnt. Die philippinische Köchin bringt den Tee in gerillten glasierten Keramikbechern. Die lassen sich gut halten und halten die Wärme besser. Sie bewegt sich so leise wie der Hausherr. Man bekommt Lust auf Siesta, Lust, sich katzenpfötig aufs kommode Sofa zu kuscheln.

„Rooibostee mit Orangen- und Hibiscusblüten in Wien, chinesischer Grüntee mit frischer Pfefferminze in Marokko“, sagt Heller, „dort trink ich den ganzen Tag Tee. Ohne Zucker selbstverständlich. Den werfen sich nur Narren ein, die gern zuckerkrank werden wollen. Bis zu fünf Stück.“ Schaurig. D’accord. Ruiniert schließlich auch das feine Aroma. „Nur nix Aufputschendes“, sagt er, „ich bin mir Droge genug.“ Dass er schon beim Aufstehen einen Liter warmes Wasser trinkt. Alle bemitleidet, die sich auf nüchternen Magen eisigen Orangensaft hineinschütten. Kalt kalt kalt, sei ihm schon als Kind immer gewesen: „Erst bei 35 Grad beginne ich ernsthaft, wach zu sein. Vom ersten Taschengeld hab ich mir selber einen Thermophor geschenkt, in der Schule unter den Pullover gesteckt.“

Erklärt: „Mein Kinderzimmer war ungeheizt.“ Ungeheizt? Bei zehn Grad fallen Amphibien in Winterstarre. Als die Großmutter den Buben einmal ins Palmenhaus Schönbrunn führte, wollte er sofort dorthin übersiedeln. Es blieb bei einer Expedition im Kopf. Das Unternehmen Afrika! Afrika! konnte ihm aber keiner mehr ausreden, diese hitzig sinnliche Sinfonie aus Licht, Farbe, Musik, Tanz, Akrobatik, die als Zirkusshow vier Millionen Zuschauer betörte. Zur Legende wurde, nach Neuauflage verlangte, im Zeitenwandel von Internet, Handy & Co jünger, pfiffiger, schräger, kurz: Hip-Hop-bewegt, seit 1. Oktober dieses Jahres durch ausverkaufte Hallen in Deutschland, der Schweiz und Österreich zieht.

Auf Bühnen gebändigtes Feuer, 1968 aus einem Funken gezündet, als Heller mit Erika Pluhar das erste Mal in Kenia war. Lacht: Unser heißester Streitplatz. Sie wollte nicht hin“.

Marokko wird verständlich, die Anlage seines zweiten Paradiesgartens – als lange Sehnsuchtsgeschichte eines Weltenforschers, der sich „am geborgensten in der Ferne fühlt“. Mit wachem Appetit auf immerfrisches, immer hochqualitatives Grundmaterial, sinnengekitzelt vom Geschmack fremdartiger Aromen, staunend gebannt von rätselvollen Lebensrezepturen. Um sie mit Respekt vor alter Tradition im Zauberbad der Fantasie zu neuen faszinierenden Formen zu fügen. Die blaue Blume der Romantik zu Sträußen bindet. Sich selber Gutes tut und damit auch anderen. Die Haube des Meisterkochs fantastischer Menüs quillt über vor Münzen.

André Heller kann nicht kochen, sagt, er gehe auch nicht einkaufen, nasern nur auf den Naschmarkt in die Gewürzhändlerzone, zu Kreuzkümmel, Kurkuma, Zimt, Koriander, Muskat und Safran, zu den getrockneten Früchten, den „200 Sorten“ Oliven.

Lammfleisch ohne Kreuzkümmel? Wie soll das noch schmecken nach den heiligen marokkanischen Mechouis, den Festtagslämmern im Erdofen, in heißer Asche stundenlang gegart? Nach vielen, vielen Lammtajines, wozu man sagen muss, dass Tajine sowohl die Kasserolle aus gebranntem Lehm als auch das darin geschmorte Gericht bezeichnet. Kreuzkümmelloses Lamm kann zu schonungslosen Diskussionen des Herzensmarokkaners mit Wirten und Köchen führen. Also wird’s meistens Fisch, wenn er mit seinem 24-jährigen Sohn Ferdinand Sarnitz, der als Left Boy mit einem wundersamen Hip-Hop-Traumtheater die Welt erobert, in seinen „Kantinen“, dem Fabio’s oder der Cantinetta Antinori, einfällt. Nachmittags immer. Wenn sie leer sind: „Ich liebe leere Lokale“. Auch, weil er zu Fabio sagen kann: „Koch uns schnell was!“, und dann „ohne den Theater-Donner von Wachtelbrüstchen an Walnussrisotto mit Süßholzschaum und Belugalinsen in vierhundert-jährigem Vatikanesssig, guten Rohstoff, gut gewürzt zu essen bekommt. Zum Beißen und Schmecken. Ohne Getue.“ Und ohne Gruß aus der Küche. „Frech“, findet er. „Plötzlich steht ein Stück Tintenfisch da, und keiner fragt, ob man Gusto drauf hat. Du kennst den Koch noch gar nicht und er lässt dich schon grüßen!“ Der Moment, in dem Köche, Friseure und Schneider in den Rang von Künstlern erhoben worden sind, zählt für Heller nicht zu den erhebendsten des 20. Jahrhunderts.

Überall auf der Welt interessiert ihn am meisten, was normale Leute essen, die noch ein Gefühl für die Balance zwischen den Nahrungsmitteln haben. „In Marrakesch stehen neben Palmen und Palmen und Obstbäumen Gemüse, Kräuter, Erdäpfeln und gelegentlich Weinreben in den Gärten.“ Kurz, der Weg zum Melanzanimousse, den Okrasalaten, den Taboulehs, den Karotten in Zwiebeln. Mit Couscous werden die Öle, die Yoghurts, die Fleischspeisen ausgewogen. „Gibt auch süßen Couscous“, schwärmt das g’naschige Kind im Mann, „mit Zimt, Rosinen, Mandelsplittern, getrockneten Früchten, Orangenblütenwasser oder Mandelmilch. Das schmeckt wie ein begnadeter Griesschmarrn.“

Heller balanciert mit Erfolg durch das Universum der Genüsse. Groß und schlank wie die Mamá, die sich in ihrem hundertsten Jahr gerade hält, schminkt und elegant sechs Stunden an „Hamlet“ im Burgtheater delektiert, kann er leicht schnurren: „Mit 66 finde ich’s nicht mehr so lächerlich, auf die Gesundheit zu achten wie mit 33. Ich bin verantwortlich für meinen Körper. Möcht mich nicht benehmen wie mein eigner Feind. Mein Vater ist mit 63 gestorben.“

Nicht, dass viel Liebenswertes zu erzählen wäre über den Mann mit dem bizarren Humor, der als Jude von den Nazis gedemütigt, in der Londoner Emigration mit Otto von Habsburg und dem Schriftsteller Joseph Roth an der Wiedereinführung der Monarchie gebastelt hat. Als Verbindungsoffizier der Armee des französischen Generals de Gaulle sozusagen als Sieger nach Österreich zurückkam. Katholischer sein wollte als der Papst und den Sohn ins Jesuitenkollegium Kalksburg steckte. Nichtsdestotrotz dem Kardinal Innitzer bei wichtigen Essen einen Schaspolster untergeschoben hat. „Ein Terrorist mit Begabung für unvergessliche Szenen“, sagt der Sohn: „In England kaufte er einen Stapel unzerbrechlicher Teller – Das Ende der Ästhetik! – und gab der Köchin den Befehl, wenn Gäste kämen, zehn Teller fallen zu lassen, um sie zu erschrecken.“ Von Essen habe die Köchin nichts verstanden, weder von Hausmannskost, noch von mondäner Cuisine. „Eines Tages brachte der Vater Spargel nach Haus. Sowas hatte sie noch nie gesehen. Der Spargel stand schließlich in einer Vase auf dem Tisch. Und der Vater hat getobt, was wir für ein primitiver Haushalt sind.“

Nein, genießen hat Franzi nicht gelernt: „Meine Mutter konnte bestenfalls Eiernockerln kochen, und der Fraß in den Internaten war entsetzlich. Hätt ich nicht meine Großmutter Lotte in Gutenstein gehabt, hätt ich glauben müssen, dass Essen eine Strafe ist. Sie war eine von denen, die kochen konnte: Die Rindsuppe und die Kalbsrouladen, den Kirschenkuchen und den Apfelstrudel. Sie hat einen Ofen gehabt, den sie mit Holz geheizt und mit einem Schürhaken gerüttelt hat. Immer ein Batisttischtuch und Stoffservietten, schöne Teller, und natürlich eine frische Blüte drauf, die sich die Herren ins Knopfloch und die Damen in den Ausschnitt stecken konnten. Pieps, wie sie in der Familie hieß, hat Altenberg und Loos gekannt, aber gutes Brot gebacken, und auch Pudding, Vanilleeis oder rote Grütze nach einem Rezept von der Nordseeinsel Föhr selbst gemacht. Das waren Ereignisse.“

Nach dem Tod des Vaters musste seine Mutter arbeiten im Modeatelier von Gertrud Höchsmann, damals fast gleichauf mit Adlmüller, aber zu Haus gab’s nur Miracoli-Spaghetti mit Fertigsoße und die Packerlsuppen von Knorr. „Noch als Popstar hab ich 59 Kilo gehabt, als käm ich von einer Biafrastation. So eine schlechte Ernährung hab ich zu Haus und im Internat gehabt.“

Mit 17 und dem ersten selbstverdienten Geld konnte er sich endlich Essen im Restaurant bezahlen und die Segnungen eines guten Rindsgulaschs kennen lernen: „In der Dorotheergasse gab’s damals neben dem Hawelka ein Wirtshaus, wo man um sieben Schilling ein gutes Menu bekam: Rindsuppe mit Grießnockerln, Beuschel mit Knödeln, einen Scheiterhaufen … Die Künstler gingen dorthin. Nein, nicht in die Grotta Azzurra. Viel zu teuer, nur für das Establishment, von Karajan bis Haeussermann. Wir waren eine Generation, die sich ihre Lokale selbst gemacht hat. In Hietzing war das Ottakringer Bräu am Platz das einzige Lokal, in dem man vom Essen nicht krank geworden ist“, rechnet er mit dem einstigen Wohnbezirk ab: „Hietzing hat es nie zu einem akzeptablen Wirtshaus gebracht.“ Jetzt sitzt er im Sommer gerne im Do&Co auf der Albertina-Terrasse: „Da sieht man nix Schiaches rundherum. Fühlt sich fast wie vor den Tuilerien in Paris.“

Mit Ferdinand, dem fernen Sohn, wird der Vater noch skypen wie täglich, „um einander in die Augen zu schauen: Eine seelenhygienische Notwendigkeit für uns beide.“ Doch der Enkel, der in ein paar Tagen zwei wird, wohnt in Döbling. Also Nachmittagsessen heut nicht beim Fabio, sondern auf der besonnten Veranda vom Pfarrwirt in Heiligenstadt. Dort saß der Heller Franzi schon, als der Weingutshof noch Zur Schönen Aussicht hieß, und das Lieblingslokal der verehrten Mutter-Freundin-Mentorin-Autorin Hilde Spiel war. Damals, als die heimgekehrten Emigranten von zwölf bis sechs wienerisch gegessen haben, gestritten und erzählt.

„Jetzt“, findet er, „lassen Hans Schmid und Rainer Husar den Pfarrwirt wieder aufs liebevollste und unverschmockteste wieder exzellent blühen.“ Verputzt ruckzuck Hirschrücken mit Kürbiskruste auf Rahmkohlsprossen mit Schupfnudeln, schwenkt wienerisch zu Weinheber: „Ich hab sonst nix, drum hab ich gern ein gutes Papperl, meine Herren“, nicht ohne anzumerken, dass Weinheber ein Nazi war. Freut sich, dass sein obligater Rooibostee mit Bio-Akazienhonig serviert wird: „Wo kriegt man das schon, ohne extra drum zu bitten.“ Nein, keinen Wein, sehr selten nur noch, obwohl er mit dem Qualtinger auch 12 Viertel getrunken hat. Nein, keinen Kaffee, „der bringt mich zu leichtem Vibrieren. In Italien gönn ich mir manchmal einen Espresso, so wie andere Leute Kaviar“.

Doch den italienischen Giardino Botanico, den Zaubergarten am Gardasee wird er „in andere Hände legen“. Sein Paradiesprojekt, 23 Kilometer außerhalb von Marrakesch am Fuße des Atlas-Gebirges, eine frühere Rosenfarm mit fruchtbarem Boden und guter Wasserversorgung, sollte Ende dieses Jahres fertig sein. Die Häuser, die Ateliers für die Handwerker, das Museum, in dem Arbeiten von Hans Werner Geerdts, dem Gauguin von Marokko, und die fantastischen Fotografien von Paul Bowles, dem bedeutendsten amerikansichen Schriftsteller, der Jahrzehnte im Lande lebte, ausgestellt werden. Obwohl: „So ein riesiges Projekt wird ja niemals fertig, vielleicht unter meinem Sohn und den Enkeln. Die riesenhaften Bäume, die Dschungelzonen, die Blütenüberwucherungen muss die Zeit machen.“

Tee- und Gewürzkräuter hat er in allen Gärten gepflanzt: „5.000 Quadratmeter, ein halber Hektar, sind in Marokko nur für Kräuter reserviert.“ Sanftstolzer Zusatz: „Albina ist ein Kräuterkind.“ Albina Bauer ist die Frau, mit der Heller älter werden will. Südliche Tage genießen, an denen Familie und Freunde stundenlang bei Tisch sitzen, reden und essen können, weil immer wieder was Neues serviert wird. Köchinnen hätschelt er in jeder Behausung. Wenn auch die italienische einmal tobte, ehrengekränkt, als Hauben und Sterne in Gestalt Johanna Maiers einzogen, um sich drei Tage in ihrer Küche auszubreiten. Heller lacht. Menschenkinder! Sensibel, dreist, treu, tapfer, eitel, stolz, klug …

In ORF III fragt er seit November behutsam bei Menschenkindern nach, „deren Geschichten ihn interessieren, die er bewahrenswert findet und auch für ein paar andere interessant: „Hundert Minuten, dreißig Minuten, unregelmäßig lang, jeden Monat einer. Hab eine Liste von 200, 300 Leuten, mit denen ich das machen will. Nicht nur prominente, bekannte: Seh auf der Straße Menschen, Gesichter, frag sie: A Bäuerin, jemanden, der 60 Jahr Kellner war in einem Lokal.“

Einen Brief seiner Großmutter habe er gefunden. Sie schrieb seiner Mutter, dass der kleine Franzi als Füllworte seiner Sätze immer: „Die armen armen Kinder!“ sagt. Alle Menschen waren für mich arme Kinder, die mir leid getan haben. Ich besonders. Hab die Möbel angeschaut und gedacht: So möcht ich nicht leben. Das Sonntagsmahl, und gedacht: So möcht ich nicht essen. Meinen Vater, und gedacht: Ich bin a arms Kind.“ Ausgesöhnt jetzt, mit allen Feinden und mit sich selbst. Gereinigt. Auch für den Paradiesgarten. Es riecht kurz nach Weihrauch. Prost! passt aber nicht. Das ist der Nachteil von Rooibostee.