Vom Ozean gesalzen
In einer außergewöhnlichen Landschaft an der französischen Atlantikküste wachsen zwischen Ebbe und Flut Schafe heran, deren Fleisch zum besten der Welt zählt. Ein Besuch auf den Salzweiden der Normandie.
Von Milchlamm hält Gérard Legruel ganz offensichtlich nicht allzu viel. „Milchlamm?“, fragt der Schafzüchter und rümpft die Nase. „Da kann ich ja gleich Hühnerfleisch essen. Das schmeckt genauso nach nichts.“ Es ist wenige Wochen nach Ostern. Doch im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen hat der Mittsechziger keine Junglämmer für die Feiertage schlachten lassen. Dabei zählt das Fleisch seiner Tiere zum begehrtesten in ganz Frankreich.
In Legruels Heimat, der nordfranzösischen Region Normandie, ist der Frühling eingezogen. Nach zwei außergewöhnlich sonnigen und heißen Wochen regnete es in der folgenden fast ununterbrochen. Seit zwei Tagen hat sich das Wetter wieder beruhigt. Es ist kühl und windig, durch die Wolken kämpft sich die Sonne und bringt den Atlantik zum Glitzern. „Höchste Zeit, die Schafe auf die Weide zu lassen“, sagt der bärbeißige Legruel und stapft gemächlich in Gummistiefeln und begleitet von seinem Schäferhund durch den Matsch bis hin zum Verschlag, wo die spürbar aufgeregte Schafherde wartet.
„Sie können es kaum erwarten“, sagt der Züchter und öffnet das Gatter. Zielbewusst ziehen die Schafe durch das Gebüsch in Richtung Meeresbucht, dem sogenannten Havre de Saint-Germain-sur-Ay. Das Gebiet um die Bucht ist ein wahres Naturschauspiel. Ein Ort, an dem Land und Meer sich zu einem scheinbar untrennbaren Ganzen vereinen. Sanddünen und Schilfgürtel wechseln sich ab mit Flüssen und Meereszungen. Ein Paradies für etliche Vogel- und Pflanzenarten, die hier beheimatet sind.
Mittendrin in dieser atemberaubenden Landschaft erstreckt sich Monsieur Legruels immense Weide: ganze 450 Hektar, die in öffentlichem Besitz sind und für die der Züchter die Nutzungsrechte hat. Sie ist das, was die Franzosen einen „pré-salé“ nennen, also eine Salzweide. Mehrmals im Jahr wird sie von einer sogenannten „grande marée“, einer „großen Flut“, geschwemmt und steht dann einige Zeit unter Meerwasser. Nur ganz besondere Pflanzen und Gräser können hier überleben: die sogenannten Halophyten oder Salzpflanzen.
Sie geben dem Fleisch seinen außergewöhnlichen Geschmack“, sagt Legruel, während seine Tiere in alle Richtungen ausströmen und sich im weitläufigen Gelände verteilen. Der Züchter ist ein Spezialist in Sachen salzresistente Pflanzen. Immer wieder bückt er sich, reißt ein paar Halme aus, bietet sie zum Kosten an und spricht vom fleischigen Queller, auch Salicornia genannt, vom mineralstoffhaltigen Andel, der sich so gut zur Heu-Erzeugung für den Winter eigne, oder auch von der Portulak-Keilmelde, die ein besonders knackiger Leckerbissen sei.
„Bis zu 65 verschiedene Pflanzenarten wachsen hier, und zwar nur hier, in diesen ,havre‘ genannten Buchten an der Küste der Halbinsel Cotentin“, sagt er. „Sie sind unser Terroir und machen das Fleisch so einzigartig.“ Und weil es so einzigartig ist, hat sich Legruel damals auch dafür eingesetzt, dass für die Salzweideschafe aus seiner Bucht eine geschützte Herkunftsbezeichnung eingeführt wird. Das war im Jahr 2010. Heute distanziert er sich davon.
„Die Nachfrage nach Pré-Salé-Lamm ist inzwischen so groß, das viele sogenannte Kollegen irgendetwas machen, das mit dem Original kaum mehr etwas zu tun hat, aber dennoch die Gebietsbezeichnung tragen darf“, moniert der Landwirt, der unter seinesgleichen als Einzelgänger und Radikaler gilt. Für ihn ist ein Pré-Salé-Lamm eben nur dann dieses Namens würdig, wenn es tatsächlich nichts anderes als die Milch seiner Mutter und später diese so besonderen Pflanzen aus dem Überschwemmungsgebiet gefressen hat. Darum schlachtet er auch nicht zu Ostern.
„Ich halte mich einfach an den ganz natürlichen Zyklus der Tiere“, erklärt Legruel, während am Himmel wieder Wolken aufziehen und er zurück zum Hof stapft. „Die Muttertiere werfen noch im Winter, meistens im Dezember oder Januar, dann trinken die Lämmer erst einmal ein paar Wochen nur Milch. Wenn sie danach zum ersten Mal auf die Weide kommen, gibt’s da noch recht wenig zu fressen.“
Deswegen gehe sich das mit Ostern in der Regel einfach nicht aus, weil die Wiesen und Gräser sich erst wieder vom Winter erholen müssten. Erst danach könnten die Tiere sich so richtig satt fressen, das besondere Fett ansetzen und den einzigartigen Geschmack entwickeln, für den sie so sehr gepriesen werden. „Man sagt, dass der Ozean die Marinade liefert für die Gräser und Kräuter, die hier wachsen. Und dass sich die Tiere, wenn sie sie fressen, in gewisser Weise selbst würzen“, schwärmt der Züchter.
Inzwischen haben sich die Wolken gebrochen, und es gießt in Strömen. Aber so sei eben das Wetter in der Normandie, sagt Legruel, nämlich launisch und wechselhaft. Und willkommen heißt er den Regen obendrein, weil er die Weide gewissermaßen wäscht und so den Salzgehalt der Pflanzen verringert.
Im Schutz eines Wellblechverschlags auf seinem Hof öffnet der Landwirt eine Flasche Cidre, das normannische Nationalgetränk, setzt sich auf einen Stuhl und gerät jetzt erst so richtig in Fahrt. „Das ganze braucht Zeit, und die wollen viele nicht mehr investieren“, sagt er und kippt das erste Glas. „Laut dem Auflagenheft der Gebietsbezeichnung müssen die Tiere vor dem Schlachten mindestens 70 Tage auf der Weide verbracht haben. Doch das ist viel zu wenig, als dass sie genügend Fett ansetzen. Also füttert man ihnen Kraftfutter in Form von Getreide zu. Und das war es dann mit dem ,pré-salé‘.“
Denn das Kraftfutter sorge für eine völlig andere Fleischstruktur und für weniger intramuskuläres, dafür umso mehr äußeres Fett. Kein Vergleich also mit dem Fleisch, das seine Kunden so schätzen. „Das ist so wie mit gutem Bordeaux oder Burgunder“, sagt der Züchter und füllt die Gläser mit Apfelwein, „genau wie guter Wein muss echtes Salzweidelamm sein Terroir widerspiegeln, sonst ist es ja auch nichts Besonderes mehr.“ Und so grasen Legruels Tiere sechs bis acht Monate und bis spät in den Sommer hinein, bis sie zum Schlachter kommen.
Als der Regen nachlässt und die Flasche Cidre geleert ist, geht es ins nahe Dorfgasthaus eines Bekannten namens Bernard Aumont, den Legruel gebeten hat, eine tiefgekühlte Lammkrone aufzutauen, die nun auf den Holzkohlengrill kommt. „Für dieses Fleisch sind Holzkohle und große Teile am Knochen wie Krone, Schulter und Keule das Beste“, sagt der Koch und Wirt Aumont und schneidet das auf den Punkt gebratene Fleisch in Stücke. „Es ist ziemlich erstaunlich, wie das Fett beim Grillen geradezu abgleitet am Fleisch.“ Würzen und salzen solle man aus Prinzip und wenn überhaupt erst nach dem Braten, fügt er an. Im Vergleich zu üblichem Lamm ist das Fleisch vom Salzweidelamm von dunklerer Farbe mit nur schmalem Fettrand, dafür prächtiger Marmorierung. Geschmack wie Konsistenz sind eine Offenbarung. Im Biss ist es besonders mürb, das Aroma tatsächlich leicht salzig und erstaunlich würzig, mit einer Idee von Wildfleisch und vor allem extrem langem Abgang. „Sagte ich doch, dass es wie guter Wein ist“, freut sich Legruel.
Die gehobenen Restaurants in Paris und ganz Frankreich reißen sich geradezu um das Fleisch, das gerne mit anderen französischen Spitzenprodukten verglichen wird. Wie beispielsweise das Bresse-Huhn, das Charolais-Rind oder eben die Burgunder und Bordeaux, von denen Monsieur Legruel so gerne spricht. Der Küchenchef Pierre Marion vom Sternerestaurant im normannischen Cherbourg etwa rät, das Fleisch so natürlich wie möglich zu belassen, es aber eventuell mit Venusmuscheln zu garnieren, weil es sich logischerweise „gut eignet für Meer-Land-Kombinationen“.
Dass Pré-Salé-Lammfleisch einen so hohen Preis erzielt – es kann bis zum Doppelten von herkömmlichem Lamm kosten –, erklärt sich laut dem Züchter durch gleich mehrere Faktoren. „Abgesehen von der längeren Aufzuchtzeit sind da noch die Gefahren des Lebens in freier Natur, jedes Jahr sterben einige Tiere durch Unfälle, etwa, indem sie in einen Fluss fallen“, sagt er.
Natürlich sei der Druck um die Osterzeit groß gewesen, da hätten ihm einige Wirte schon völlig absurde Summen geboten. Doch stets habe er abgelehnt, fährt Legruel nicht ohne Stolz fort. Aber wirklich angewiesen ist er auf das Geschäft mit den Milchlämmern sowieso nicht. Denn inzwischen hat er zahlungskräftige Kunden auch im Ausland, wie etwa in den Golfstaaten und sogar in Japan. Und sie alle, so sagt er, würden auch liebend gerne bis zum Ende des Sommers warten, bis seine Tiere alt genug sind. Und ihr Fleisch die höchste Qualität erreicht hat. —
Monsieur Gerard Legruel
Les Salines, 50710 Créances, Frankreich
Allgemeine Infos unter
www.aop-pressales-montsaintmichel.fr