Warum, Darum, Löffelstiel

Normal und verrückt. Fußball-Fan und solider Ehemann. Kein Haus, kein Auto, Klamotten wie ein Gewerkschaftsfunktionär. Aber Ehrendoktorate, die Widmung eines zeitgenössischen Musikstücks, die Einladung zur Dokumenta. Der Katalane Ferran Adrià hat die Küchenphilosophie revolutioniert und in die Liga Kunst katapultiert.

Warum, Darum, Löffelstiel

Text von Ro Raftl Fotos: Peter M. Mayr

"Normal". Ein Wort, das Ferran Adriàn sehr oft benützt, wenn er über sich selber spricht. Als wollte er sich gegen Durchschnittsesser mit einem Schild schützen wie mittelalterliche Ritter auf dem Kreuzzug gegen die Ungläubigen. Gleichzeitig seine Getriebenheit ein wenig relativieren. Die Besessenheit, jedwedes essbare Material in die Mangel zu nehmen, mit der Frage "Porqué?" zu durchlöchern und es hierauf nach tagelangen Analysen in neue Aggregatzustände zu versetzen. Bisher nie Geschmecktes zu konstruieren, ewig Gewohntes gaumenverblüffend zu kombinieren. Wie bringt man Wiesentau, Mondlicht, Sternenstaub auf den Teller? Total normal kommt der 47-Jährige, dem die Fachwelt seit Jahren bescheinigt, "der beste Koch der Welt zu sein", jedenfalls daher. Nicht besonders groß, nicht besonders schlank, nicht besonders edel gestylt. Die Stirn unter den dichten schwarzen Wuschellocken ist auch schon in die Höhe gerutscht. Keineswegs der Typ, mit dem man zwanghaft in der Hotelbar des Wiener Méridien zu flirten versuchte. Ein Kollege von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Ferran Adrià optisch mit einem Gewerkschaftssekretär alten Stils verglichen, um dieses erste rasche Urteil seitenlang zu widerlegen: Die quer gebürsteten Gedanken hinter der hohen Stirn haben den Revolutionär der Küchenphilosophie längst in die Liga "Kunst" katapultiert. Sie erinnern sich an den Streit im Feuilleton um sein Documenta-Debüt? Vielleicht sollten Frauen in innerstädtischen Bars doch lieber einen zweiten Blick auf unspektakulär erscheinende Männer riskieren. Obwohl es bei Adrià letztlich beim Augenaufschlag bliebe – seit 22 Jahren wird er auf allen Reisen von seiner Frau Isabel Peréz begleitet, sie liegt nur grad oben im Zimmer und schläft. Er besitzt auch kein Haus ("vielleicht später"), bloß eine Wohnung: "Wir sind ständig unterwegs." Keinen Ferrari, überhaupt kein Auto: "Ich fahre Taxi oder einen Firmenwagen." Reisen leistet er sich langsam auch abseits des Business, zum Beispiel einen kurzen Urlaub in Mauritius. Von Japan, speziell von Kyoto, könnte er stundenlang schwärmen. Aber das wäre eine eigene Geschichte. Mode? Seine Frau steht auf Miyake, ihm gefallen die Klamotten ebenso, aber er hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Trägt ja meist Berufskleidung. Ist doch gut, damit spart er viel Geld! Aber das entsetzt ihn fast: Denn natürlich sind seine Kochjacken nicht irgendwelche aus dem Kaufhaus, sie wurden für ihn und die gesamte Brigade des legendären Restaurants "El Bulli" an der Costa Brava von Designern kreiert. Wie die Teller, das Besteck, die Gläser – "ein wichtiges Thema" –, die Tischtücher, die Möbel, das Licht, das komplette Bühnenbild. Adrià beschäftigt dafür ein ausgesuchtes Kreativteam. Gar nicht zu reden von all den Experten in Ernährung, Lebensmittelchemie, PR, Industriedesign, die ihn in seinem "Taller" in Barcelona, seinem Atelier in einem Palast aus dem 18. Jahrhundert, beim Denken, Forschen, Experimentieren und "Gebären neuer kulinarischer Geschöpfe" (Copyright Die Zeit) unterstützen. Wer entscheidet? "Alle gemeinsam", sagt er, "es ist immer schwer". Deshalb hat er auch keine Kinder. Seine Frau kümmert sich um seine Eltern, ihre Mutter, um seine und ihre gemeinsamen persönlichen Angelegenheiten. Einpacken, auspacken, abfahren, ankommen. Wie sollte das mit Kindern gehen? Da gibt’s Schule und Hausaufgaben, Sport- und Musikunterricht. Ist sie eifersüchtig? "Klar. Wie jede Frau." Versonnener Zusatz: "Wie jedes menschliche Wesen." Ferran Adrià liefert keinen Zündstoff für Klatsch. Es sei denn, er ist für das Hochzeitsmahl des spanischen Thronfolgers Felipe zuständig. Der soll angeblich – aus lauter Diskretion und Bescheidenheit – viermal unter falschem Namen versucht haben, einen Tisch für Testzwecke im "El Bulli" zu reservieren, bis es endlich klappte. Adrià-Storys in der spanischen Yellowpress laufen allesamt seriös, wenn nicht staatstragend. Momentan ist’s weit aufpulvernder, dass "Barca", der Herzensverein des Katalanen, die Champions League gegen Manchester 2:0 gewonnen hat. Der Patriot, der sich als Bub null fürs Kochen, aber hundertprozentig für Fußball interessiert hat, kommt direkt vom Spiel aus Rom nach Wien. Nach einem geziemenden Glückwunsch macht er das Victory-Zeichen. Ein strahlender Fan. Normal. Okay, der Maestro hat garantiert seine Macken, doch man ist geneigt, die schlafende Frau Peréz zu ihrem Mann zu beglückwünschen: Nicht, weil ihn das Time Magazine zu den "100 bedeutendsten Menschen der Welt" zählt, sondern weil er sich nett benimmt. Charmant das Herzliche, Temperamentvolle, Bewegliche kultiviert, den Unruhegeist – was nur für den Fotografen schwierig ist, denn Compadre Adrià bringt kaum die Geduld auf, länger zu posieren. Bescheidenheit inszeniert er in der Manier von weiland Burgschauspieler Pepi Meinrad – dieses Staunen über sich selbst, dass ein katalanischer Chico wie Dutzende andere so viel Ruhm auf sich vereinen kann: heute in Wien als Ehrengast der "Trophée Gourmet A la Carte". Am 6. Juni in Paris in der Salle Pleyel bei der Uraufführung des Musikstücks "Le livre des illusions", das der zeitgenössische Komponist Bruno Mantovani Ferran Adrià und seiner Küche im Restaurant "El Bulli" widmet, wozu er als Vorlage die Speisekarte benutzt hat. "Das Größte und wahrscheinlich Wichtigste, das mir je passiert ist", schnurrt der Koch, "si, si, cocinero", allen alchemistischen Laboratorien zum Trotz. "Obwohl" – das Buch "Essen zum Nachdenken, Nachdenken über das Essen", das Vincente Todolí, Direktor des Londoner Museums Tate Modern, gemeinsam mit Pop-Künstler Richard Hamilton herausgab, greift ihm genauso ans Herz: 360 Seiten, eine Kitchen Love Story, mit einer Cover-Illustration von Matt Groening, dem Erschaffer der Simpsons, erzählt er, jetzt doch ziemlich stolz. Das Original hängt in seinem "Taller" in Barcelona. Dass er als erster Koch der Welt den Lucky Strike Award für Design bekam, findet er natürlich auch gut, aber das ist schon eine Weile her. Wie die beiden Ehrendoktorate, eins von der Universität von Barcelona, eines von der Uni Aberdeen. "Die letzten fünf Jahre waren ziemlich verrückt", strahlt und seufzt Ferran Adrià in einem. "Nicht einfach, wenn man ganz oben ist. No facil! Wie auf einer Insel." Sein Bruder Alberto hat sich aus der Spitzengastronomie zurückgezogen, zu viel Druck, täglich die Welt neu erfinden zu müssen. Alberto pflegt nun wieder in seiner Bar "Inopia" die klassischen katalanischen Tapas. Mit sensationellem Erfolg, die Leute stehen Schlange bis weit auf die Straße. "Die Gastronomie ist ein Talent", stellt Adrià nüchtern fest. Er habe es erst relativ spät entdeckt. Sich nach und nach ins Kochen verliebt. Bei jedem Handgriff bewegt von der Frage nach dem Warum. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater Malermeister in Hospitalet de Llobregat, einem kleinen Ort bei Barcelona. "Katalanen, normale einfache Leute", sagt er. Den Küchengeheimnissen von Mutter und Großmutter wollte er als Bub nicht auf die Spur kommen, trainierte lieber im örtlichen Fußballverein, mochte Pasta, Steak mit Pommes, trank gern Cola. Die sentimentale Frage nach dem Geschmack seiner Kindheit verwirft er: Gefühle habe er für seine Großmutter bewahrt – sie starb, als er zehn war –, aber keine Erinnerung an Speisen: "Traditionen manipuliert man sich immer zurecht." Zwischen seinen Kinderessen und der "El Bulli"-Küche lägen Welten: "Wie zwischen dem Fließverkehr und der Formel I." Gourmets kennen seine Biografie vermutlich in- und auswendig. Doch der Ordnung halber: Ferran beginnt in Barcelona eine Kaufmannslehre, will Wirtschaft studieren. Bricht mit 18 nach Ibiza auf, um Party zu machen. Nachts ein Hippie, tagsüber Tellerwäscher, Kartoffelschäler, Hilfskoch. Bis er zum Militär eingezogen wird, auf einen Marinestützpunkt, wo er für den Admiral kocht, sein Talent schmeckbar wird und man ihm rät, sich im "El Bulli" zu bewerben. Einem Lokal mit französischer Küche, das seinen Namen der Bulldogge seiner deutschen Gründer verdankt, damals aber schon zwei Michelin-Sterne trägt. Er wird genommen und ist nach eineinhalb Jahren einer von zwei Chefköchen. Mit 22. Und jetzt kommt das Schlüsselerlebnis, der Blitz, der Klick, quasi der Heilige Geist: In Nizza, wo Adrià die französische Küche studiert, erklärt sein Chef, Sternekoch Jacques Maximin, einem Journalisten sein Motto: "Kreativ zu sein, heißt nicht zu kopieren, sondern selber zu erfinden." Fünf Jahre wird Ferran noch brav alles nachkochen, was er gelernt hat. Dann lässt er seinem Talent, surreal zu denken, freien Raum. Längst Historie. Dass sein von Michelin dreifach besternter Tempel zum vierten Mal in Folge zum "besten Restaurant der Welt" gewählt wurde, erwähnt er gar nicht mehr. Ebenso wenig, dass sich jährlich zwei Millionen um einen Tisch bewerben, obwohl nur 8.000 eine Chance darauf haben. Setzt als bekannt voraus, dass sein Flaggschiff mit rund dreißig akribisch komponierten "Überraschungen" um 230 Euro keinen Profit macht. Täglich arbeiten 45 Köche für 50 Gäste. "Das kostet mehr als es einbringt", sagt Adrià. Weshalb seine geschäftliche Kreativität 1995 "elBullicatering" ins Leben rief, das mittlerweile spanienweit Party- und Bankettgästen das Aroma der High Society vermittelt. Der Unternehmer entwarf eine eigene Küchenlinie für das mondäne Restaurant "La Terraza" im "Casino Gran Círculo de Madrid"; verlieh seinen Namen an eine Rezeptrubrik in der Frauenzeitschrift Woman und an ausgewählte Packerlsuppen-Hüllen; wirbt für Champagner und aromatisierte Olivenöle; kooperiert mit dem für seine espumas, seine Schaumkreationen, unverzichtbaren iSi-Whip-Hersteller in Deutschland, mit dem Radiosender "Catalunya Ràdio", der spanischen Hotelgruppe "NH Hoteles", dem Kaffeehersteller Lavazza und so fort. In der Nähe von Sevilla entstand das "elBullihotel" Hacienda Benazuza in einem Gutshof aus dem 10. Jahrhundert. Als erste Perle einer Kette. Genug ist nicht genug: Mit der Kochsendung "Cocinar en 10 minutos" wurde der Name Ferran Adriàs auch im letzten spanischen Dorf ein Begriff. Während er im "elBullicarmen" Speisekarten, Kochdemonstrationen, Imagekampagnen planen ließ und lässt – und Kochbücher kreiert. Es dürften bald 20 sein. Die elBulli-Trilogie (1983 bis 2001), in der fast zwei Jahrzehnte seiner "Cocina Evolutiva", seiner evolutionären Küche, dokumentiert werden, zieht mit der sinnlichen Ästhetik von Kunstbildbänden in den Bann. "Kochen ist eine ganz spezielle Disziplin", philosophiert der Superstar: "Grundwissen aller Menschen dieser Welt. Vom Anfang der Anfänge." Um völlig schwerelos in die Konversation über spanische Malerei zu gleiten. Die heiteren Farben von Juan Mirò liebe er am allermeisten, sagt Adrià. Ja, Enthusiasten vergleichen ihn oft mit dem Surrealisten Salvadore Dalí, weil der ein paar Kilometer weiter östlich von Las Rosas gelebt hat. Aber da gefällt ihm nicht alles – am besten das Jugendwerk. Picasso bewundert er, diese Kraft, seine Kunst bis ins hohe Alter immer wieder neu zu definieren. Doch seine Emotionen gehören Miró. Inspiriert setzt er sie auf dem Teller um: in sieben durchsichtigen knallbunten Streifen, gelb, rot, dunkelgrün, hellgrün, weiß, orange, grün. In sieben Streifen warmer Gelatine, von denen jeder anders schmeckt: nach Zwiebel, rotem Paprika, grünem Paprika, Staudensellerie, Rettich, Karotte, grünem Spargel. Darüber ein wenig Holzkohleöl, genau: Sonnenblumenöl mit Holzkohle aromatisiert. Adrià stellt das als "parillada de verduras", als "Gemüse-Grill-Platte", in einem seiner Bücher vor, und Zungenzeugen sagen, dass sie so schmeckt wie die dicken Stücke Paprika und Sellerie und Karotte, die Spanier für ihre Gäste auf den Grill legen. Denn was immer er mit allen Grundmaterialien anstellt, wie immer er sie mit Hilfe modernster Techniken aus der Lebensmittelindustrie dekonstuiert, verwandelt, neu aufbaut: Geschmack und Aroma bleiben erhalten, werden auf magische Weise noch vertieft. Seine Frau kann natürlich auch kochen. Doch selbst zu Hause kocht nur er: "Bei mir geht’s einfach schneller."