Zeit zu kochen
Vom Timing, Genuss, der Uhr und den Gästen
Zeit zu kochen
Text von Eva Rossmann Illustration: Peter Zolly
Zeit ist da. Sie wird nicht mehr und nicht weniger, ist nicht manipulierbar, sie kann gemessen werden, aber auch das tut eigentlich nichts zur Sache. Niemand, der auch noch so weit nach Westen geflogen ist, hat jemals Zeit gut gemacht. Vergangenheit, Gegenwart, schon wieder vergangen, Zukunft, bald Gegenwart und schon wieder … Eiszeit und Steinzeit und Brotzeit und Auszeit. Und wahrscheinlich ist es gerade diese erhabene er-hobene abgehobene Unbeeinflussbarkeit, die so viele zum Wettlauf mit ihr treibt. Ich laufe mit.
Und wer wie ich auch in der Gastronomie mitläuft, weiß: Das ist ein besonderes Spiel.
Denn in einer Zeit, in der alles immer schneller sein muss, so als ob dadurch Zeit "gewonnen" werden könnte, bleiben dem Genuss bestenfalls Pausen.
Bestenfalls. Mein Vater etwa, erfolgreicher Manager im Baubereich, bewertet Gasthäuser und Restaurants seit Jahrzehnten zu allererst danach, ob "es schnell gegangen" ist. Natürlich will er eine akzeptable Speisekarte und auch entsprechende Gerichte, aber: schnell eben!
Und auch beim Buchinger gibt es so eine Klientel, vor allem zu Mittag, auch Sonntag Mittag. Nicht nur wir, auch die Gäste sind ja messzeitgeplagt, uhrengestresst, nach dem Geschäftsessen wartet der nächste Termin und nicht alle halten ihre Sonntagsfamilie länger aus, als man braucht, um zwei, drei Gänge zu essen. So versuchen wir, die Entenbrüste, Wildkarpfen, Freilandschweine und all das, was dazu gehört, fliegen zu lassen. Nur: Das ist eben so eine Sache. Beim Buchinger, wie bei vielen anderen Gasthäusern und Restaurants mit entsprechender Philosophie dahinter, soll ja à la minute gekocht werden. Dem Zeug aus dem Tetrapack und der Tiefkühllade und den Warmhaltevorrichtungen versuchen – aller Zeitnot zum Trotz – unsere Gäste doch gerade zu entkommen.
Und wir kochen frisch. Doch da dauert selbst ein Wildkarpfenfilet (der ist am Grill oder im Pfandl ohnehin in einigen Minuten so, wie er sein soll) samt Beilagen 10 Minuten. Bei der Entenbrust sollte man jedenfalls 20 Minuten veranschlagen, wer sie zarter will, gebe bitte noch einmal 5 Minuten dazu zum rosa durchziehen. Zählt man zur Zubereitungszeit dann noch einmal die Zeit, die ein Kellner von der Aufnahme der Bestellung bis zum Bonieren und der Weiterleitung des Bons in die Küche braucht, sowie die Zeit, bis das Gericht dann angerichtet ist und wieder zum Gast getragen wird, sind noch einmal 10 Minuten zu addieren. Und wenn der Laden gerammelt voll ist? Sorry, da kann es schon passieren, dass das Lamm nicht in derselben Sekunde auf den Grill wandert, in der der Bon unsere Magnetwand berührt hat.
"Da ist kein Tempo drauf!", ruft der Buchinger, ärgert sich, dass der Salat noch nicht vorne ist, die Ochsenleber, die darauf soll, aber schon, zwei Minuten noch, und sie ist zu sehr durch, die Gemüsesuppe hot mit Fisch ist schon angerichtet, der Lachs muss innen noch glasig sein, dafür weiß ich, ich darf das kleine Schweinssteak für den Bauernschmaus noch nicht vom Grill nehmen, auch wenn der Buchinger es braucht, es ist einfach noch nicht fertig. Ich fluche, dass unser Meister wieder einmal zwei Tische parallel anrichtet, okay, man könnte auch sagen, bei sieben Bons mit jeweils Vor- und Hauptspeisen in der Warteschlange ist es ganz sinnvoll, etwas rauszukriegen. Philosophiererei über die Zeit hin oder her.
Timing. Darauf kommt es an. Nur schnell, das wäre ja noch einfach. (Originalton Buchinger zu Rossmann: "Was hetzt denn so?") Aber alles zur richtigen Zeit. Das ist schwierig. – Und dabei rede ich jetzt nicht vom Leben an sich, sondern bloß von Schnitzeln und Suppen und den gewokten Nudeln mit Gemüse, die innerhalb von zwei Minuten von knackig-pikant zu einer lätscherten Masse mutieren können.
Denn es gibt ja (zum Glück) nicht nur die Schnellesser, die Gestressten. Eine ganze Bewegung hat sich gegründet: Slow-Food. Mit ihrem Wappen, der Schnecke. Gutes Essen braucht Zeit – um es zuzubereiten, um es zu genießen, lautet ihre Philosophie. Was freilich auch nicht heißt, dass wir in der Küche für diese Fraktion im Kriechtempo arbeiten sollen. Und sosehr ich hinter dem Motto stehe: Ich hab es beim Essen auch schon eilig gehabt. Kommt eben vor in unserer Uhren-Zeit.
Jedenfalls: Ein Kellner mit einem guten Gespür für den richtigen Moment (und einem entsprechend flinken Küchenteam) hat schon gewonnen. Zwar nicht Zeit, aber immerhin Sympathie (… und vielleicht sogar Trinkgeld). Aber: Es ist eben nicht immer so, dass sich Renate nur auf den Tisch 14 konzentrieren kann, da sind die vom Tisch 11, die dauernd etwas anderes wollen, ein Glas Wasser, bitte lauwarm, und jedenfalls Leitungswasser, wenn das serviert ist: bitte noch einen Apfelsaft gespritzt für den Sohn, aber keinen naturtrüben, den verträgt er nicht und eigentlich würde man gerne wissen, was dieses grüne Blatt im Gemüse beim Kalbstafelspitz war. – Wie es ausgesehen hat? Na grün eben. Und es war köstlich und das möchte man daheim auch einmal …
Unser Rudi fragt unterdessen die vier jungen Leute am Einsertisch, was sie trinken wollen. Einer bestellt ein Glas von unserem roten Tageswein, Rudi dreht sich um und geht mit seinem unvergleichlichen Gang (so eine Mischung aus Balletttänzer und Kellner nach 40 Jahren Dienstzeit, und tatsächlich hat er ja einst in Belgrad Ballett studiert) eilfertig davon. Ob sie wollen oder nicht, die anderen drei dürfen noch überlegen … wer kann dieser Showeinlage schon widerstehen, zumal Rudi mit dem Glas Rotwein wieder- kommt, begreift, dass er auf die anderen drei vergessen hat, und meint: "Hat er so durstig ausgesehen!"
Walter versucht inzwischen (fast) alles, damit sich die Tischgesellschaft am Sechzehner doch für ein Menü entscheidet. 12 Leute in einem gesteckt vollen Lokal sind à la carte eine Zusatzherausforderung, diesmal hat er Glück, sie vertrauen ihm und dem Buchinger und er erhält die Lizenz zu kochen, was ihm einfällt. Gestern war das anders. Da haben von den 16 Menschen dann zwei unser Weinviertel-Menü bestellt, zwei ein Buchinger-Überraschungsmenü, 4 wollten die Menüvorspeise und dann entscheiden, die anderen wollten gleich lieber à la carte essen, manche 3, manche 4, manche 5 Gänge.
Jetzt gibt es schon so Lokale, wo hinter jedem zweiten Gast ein Ober lauert und die Küche gerammelt voll ist von Köchen, aber abgesehen davon, dass ich als Gast das Gefühl nicht so mag, umzingelt zu sein, muss so etwas auch bezahlt werden und wird es nicht bezahlt, gibt es das Lokal nicht lange.
Also reißt sich unser kleines Team eben wie so viele kleine Teams in Gasthäusern und Restaurants die Haxen aus, um auch solche Tische gleichzeitig zu servieren. Ab und zu freilich müsste man da ein Tausendfüßler sein.
Mise en place, werden Küchenprofis und solche, die schon alles darüber gelesen haben, einwerfen. Mit der perfekten Vorbereitung geht sich doch alles aus. Klar, die Frage ist bloß: Wie viel davon tut der Küche gut? Natürlich ist unser Wildkarpfenfilet mariniert, ich kann es auch portionieren. Der Mangold ist blanchiert und kühl gestellt, aber sautiert muss er frisch werden. Und: Wer jemals eine klare Gemüsesuppe aus der Bain-Marie, lange schon warm gestellt, die Karotten weich und verblasst, der Lauch grau, die Karfiolröschen in Auflösung direkt mit einer verglichen hat, die mit genau denselben Zutaten frisch zubereitet wurde, weiß, dass jene, die auf vermeintlichen Zeitgewinn setzen, dabei enorm an Geschmack verlieren. Nur: Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, über die gemessene Zeit nicht. Eine Minute bleibt eine Minute. Und wenn es an Sonntagmittagen oder gar der Mutter aller Sonntagmittage, dem Muttertagmittag, immer enger wird, träume ich manchmal doch in all dem Pfannen- und Sauteusen-Chaos von der braven Marie, die alles schöpfbar warm hält … (wieder aus dem Küchenwahnsinn aufgewacht, halte ich es für einen Albtraum).
Apropos Muttertag: Um ein wenig Zeit-Gefühl bitten wir auch unsere Gäste. Sie sollen sagen, um welche Uhrzeit sie kommen wollen. Je mehr Leute reservieren, desto wichtiger werden diese Zeiten. Buchinger und Walter stecken die Köpfe zusammen, überlegen, planen, können wir es riskieren, den Tisch, der für 12 Uhr reserviert ist, um 14 Uhr noch einmal zu vergeben? 14.30, entscheidet Buchinger, niemand soll gezwungen werden, vorzeitig aufzustehen. Und es gibt ja noch einen Tisch, der um 11.30 kommen möchte, einer von den beiden wird um 14.30 doch weg sein. Ja. Aber was, wenn Dr. Müller statt um 11.30 erst um 12.15 kommt? Und wenn Familie Maier statt um 14.30 um 13.50 kommt? Alles schon da gewesen, dann heißt es eben zu jonglieren – nicht nur am Muttertag. Es scheint ohnehin ein gastronomisches Naturgesetz zu sein, dass die meisten Menschen gleichzeitig kommen.
Als Gast hasse ich übrigens nichts mehr, als wenn der Ober böse auf die Uhr schaut, wenn ich ein Lokal betrete. Ich habe reserviert, bin aufgehalten worden, bin zu spät, das Lokal ist ohnehin nicht mehr voll. Was soll der böse Blick? Ich bin zu früh, habe weniger lange gebraucht als gedacht, der Tisch ist noch nicht frei, also trinke ich eben an der Theke einen Aperitif. Wozu also die Empörung? Soll der Typ doch lieber als Nachtwächter statt als Kellner arbeiten.
Hm. Als Köchin habe ich (und hat der Buchinger und haben die Gäste) den Vorteil, dass man meine bösen Blicke nicht sieht: dann, wenn Gäste ohne zu reservieren um 11 Uhr am Vormittag kommen und essen wollen (wir stecken mitten in den Vorbereitungen, ich bin gestresst, außerdem: Was sind das für Menschen, die um 11 Mittag essen wollen, und: unsere Küchenzeiten beginnen um 11.30, aber wir sind ja keine Küchenbeamten, also mit einem Knurrer ran an den Herd, die Truthahnbrust, die ich gerade parieren wollte, in die Kühlung, den Rotweinjus, der am Herd köchelt, zur Seite geschoben, Platz gemacht für die ersten Pfannen und Sauteusen des Tages, Grill aufdrehen, Salamander anwerfen, los geht’s …) – oder dann, wenn liebe Menschen gegen 22 Uhr auftauchen, nach einem Tag, an dem wir schon hundert andere liebe Menschen gefüttert haben, meine Güte, in Wien muss man mit so etwas rechnen, aber bei uns auf dem Land? – Und das nach einem 14-Stunden-Tag … Nur: Es sind gute Esser, Genießerinnen, solche, die einfach darauf hoffen, dass wir jetzt für sie mehr Zeit haben, und das ist ja auch so. Und dann erinnere ich mich an die Zeit, als ich noch selbst, gemeinsam mit meinem Mann, zu Buchingers ständigen Besuchern gezählt habe: Es war gar nicht so selten, dass wir angerufen und gefragt haben, ob er uns auch um halb zehn noch etwas kocht … Also mit Liebe und Sorgfalt noch einmal eine viertel oder halbe Stunde am Herd, Buchinger, der Salate kreiert, Fische brät, mich drängt, doch endlich Schluss zu machen, draußen stehe schon mein Gespritzter, das sei jetzt seine Sache. Und mit einem Mal will ich nicht mehr weg, will bleiben, bis auch die letzten zwei Gäste versorgt sind, habe Zeit, nehme mir Zeit, langsamer wird die Zeit in der Küche jetzt, entschleunigt, nur mehr zwei Pfannen am Herd, Sladjana, die den Grill putzt, Yolanda, die die letzten Nougatpofesen aus dem Salamander nimmt und zum Anrichten gibt. Rudi, der Besteck poliert. Die gurgelnde Spülmaschine. Buchinger, der mit einer unerreichbar rationalen Bewegung die Lammleber wendet.
Was sind schon Minuten, wenn ich meine Zeit so verbringen darf, wie ich will?